▲ Foto Nr. 1
Mädchen im Fenster,
Świętochłowice, Oberschlesien, April 2015
I. Kapitel | Seite 2
▲ Foto Nr. 2
Familoki,
Świętochłowice, Oberschlesien, April 2015
I. Kapitel | Seite 3
Ich staune, denn auch meine Vorfahren waren in den 1920er- und 30er-Jahren auf Arbeitsuche in diese Richtung gereist. Meine in Dortmund geborene Urgroßmutter Wanda und ihre Eltern zogen in die Industriegebiete Frankreichs und ließen sich in Escaudain im Département Nord nieder. Sie lernte dort ihren Ehemann Paul Johann kennen. Sie gebar dort einen Sohn, den sie auch Paul nannte. Richtig heimisch wurden meine Urgroßeltern dort jedoch nie und so verließen sie Frankreich aus heute schwer nachvollziehbaren Gründen (vielleicht kann der Film dies ansatzweise erklären?) und zogen weiter nach Oberschlesien, wo Wanda drei weitere Kinder gebar. Kurioserweise kam es so, dass sich Paul und Helmut, das älteste und das jüngste Kind, zeitlebens nicht in der gleichen Sprache verständigen konnten. Paul lebte in Lünen im Ruhrgebiet und sprach deutsch und Helmut lebt noch immer in Ruda Śląska und spricht polnisch. Die anderen Geschwister sind zweisprachig aufgewachsen und wurden somit zu Vermittlern zwischen Paul und Helmut. Letztendlich verdanke ich der Migration meiner Urgroßeltern, dass ich in Oberschlesien geboren worden bin. Hier liegen meine Wurzeln und ich liebe diese Region, die Luft und den schlesischen Dialekt, den ich zum Glück nie verlernt habe. Er erhält den Rest einer regionalen Zugehörigkeit in mir aufrecht. Im hohen Alter, Anfang der 1980er-Jahre, kehrte meine Urgroßmutter wieder ins Ruhrgebiet zurück und 1987 folgte ihr der Rest der Familie mit mir auf der Rückbank unseres Fiat 125p.
Doch zurück zum angesprochenen Film: „Le Brasier“ ist ein Sozialdrama, das zu Beginn der 1930er-Jahre im nordfranzösischen Steinkohlerevier spielt. Es kommt zu Konflikten zwischen den emigrierten polnischen Bergarbeitern, die mit ihren Familien um soziale Sicherheit kämpfen, und dem französischen Kumpel, der eine Gefährdung des schwer erarbeiteten Wohlstands durch die eingewanderten polnischen Familien fürchtet. Die Geschichte erinnert mich an die heutige Zeit und ihre politischen Stammtisch-Debatten rund um die Problematik des Ankommens.
Ob im Film oder in der Realität, immer wieder ist es die Geschichte des Fremdenhasses und der Ängste der bereits Angekommenen gegenüber den Reisenden. Es ist das Schicksal des kleinen Jesus von Nazareth, seiner Eltern und des Esels.
Obwohl die Thematik des Films als solche von hoher gesellschaftlicher Relevanz ist und nicht an Aktualität verliert, kann sich der Film in den Augen der Kritiker nicht bewähren und wird zum wirtschaftlichen Misserfolg. Was bleibt, ist eine Wandbemalung und ein Foto, das mir zwischen den Zeilen meine Familiengeschichte erzählt.