Die Wilhelmstraße
Es waren die 1980er-Jahre. Im Hinterhof des IKAR-Kaufhauses in Gliwice befand sich das Fotolabor, in dem meine Mutter arbeitete, deshalb besuchte ich die Stadt alle Tage wieder. Ich zog meine Lumpen aus und schlüpfte in ein sauberes Hemd. Dann fuhren mein Vater und ich hierher, wo das Treiben dem Leben einer Großstadt wie Breslau ähnelte und nichts bis auf die Sprache an Oberschlesien erinnerte. Für mich war es ein Ausflugsziel in eine andere Welt, in der man anonym werden durfte. Die Erinnerung an Gliwice ist bunt, lebendig und sonnendurchflutet. Es haftet ein schwer erklärbares Gefühl der Leichtigkeit an ihr, das von hektischen schönen Frauen in luftigen Sommerkleidern und Stöckelschuhen belegt ist. Ich denke zurück an die vielen Läden, Kleinhandwerk, das Fotolabor und ein Kino, das ich besuchte, und höre ihre Stöckelschuhe an mir vorbeiklopfen, während ich Devotionalien im Schaufenster begutachte.
Eines Tages erzählte ich Martin aus Berlin von Gliwice, worauf sich herausstellte, dass seine Familie aus Oberschlesien kommt. Eine Gelegenheit, um mehr über die damalige Wilhelmstraße zu erfahren. Seine Tante Ilse, die 1930 geboren wurde, und sein 1934 geborener Vater Horst konnten sich noch gut erinnern. Beide lebten von ihrer Geburt bis zur Flucht im Januar 1945 in Gleiwitz und kannten die Straße aus einer Zeit vor der meinen.
Welche Erinnerungen haben Sie an das DeFaKa (IKAR)-Kaufhaus an der Wilhelmstraße? Gab es dort damals ein Fotostudio?
Ilse: Das „DeFaKa“ kenne ich nur als „Woolworth“. Dort haben wir die Dinge eingekauft, die man für gewöhnlich im Kaufhaus kaufte, also Anziehsachen, Stoffe, Küchengeräte usw. An ein Fotogeschäft kann ich mich nicht erinnern. Ich weiß noch, dass sich unser Kinderarzt und der Ohrenarzt im Gebäude befanden, und zwar auf der Seite, die zur Wilhelmstraße lag. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite war der beste Konditor von ganz Gleiwitz. Wenn wir beim Arzt lieb waren, bekamen wir dort immer einen „Mohrenkopf“ zum Mitnehmen.
Horst: An das Innere vom „Woolworth“ kann ich mich nicht erinnern, da war ich so gut wie nie. Wir Jungs hatten ja damals nichts mit den Einkäufen zu tun. An die Bäckerei bzw. Konditorei auf der anderen Straßenseite gegenüber vom Kaufhaus kann ich mich allerdings sehr gut erinnern. Dort kamen wir immer vorbei, wenn wir zum Wilhelmsbad (Hallenbad) gingen. Auf dem Rückweg vom Schwimmen haben wir uns dort immer Hefe zum Naschen gekauft. Die war billig und schmeckte uns Kindern sehr gut.
Welche Erinnerungen haben Sie an den Brunnen auf dem Vorplatz vor dem „Haus Oberschlesien“? Können Sie sich an die Palmen auf dem Vorplatz erinnern?
Ilse: Der Brunnen mit den drei Teufeln hat mir immer sehr gut gefallen. In Wirklichkeit waren es drei Faune, die sich an den Händen hielten und um das Wasser tanzten. Ich kann mich an eine Postkarte erinnern, auf der die Faune die Gesichter von drei verschiedenen Bürgermeistern von Gleiwitz hatten. Ich kannte keinen von denen. Ja, im Sommer standen Palmen auf dem Vorplatz des Hotels. Im Winter waren sie in einem großen Gewächshaus im Stadtpark untergestellt.
Horst: An den Vergleich der drei Teufel mit irgendwelchen Honoratioren der Stadt kann ich mich noch erinnern. Über die feinen Herren aus dem Rathaus wurden gerne Witze gemacht. Leider kann ich sie nicht mehr zitieren, da ich damals zu klein war, um sie wirklich zu verstehen.
Wie haben Sie persönlich die Wilhelmstraße empfunden bzw. wahrgenommen?
Ilse: Die Wilhelmstraße war die Prachtstraße von Gleiwitz. Den schönsten Blick hatte man vom großen Markt aus, von dort konnte man fast einen Kilometer lang die Wilhelmstraße überblicken. Das Geschäftsleben in Gleiwitz spielte sich fast ausschließlich auf dieser Straße ab.
Horst: Auf der Wilhelmstraße war ich oft, weil wir gar nicht so weit davon entfernt wohnten und ich auf fast allen meinen Wegen dort vorbeikam. Wenn ich zu meinen Lieblingsorten in Gleiwitz wollte, also ins Hallenbad, in den Stadtpark oder in den Botanischen Garten, dann lief ich die Wilhelmstraße entlang. Mir hat das rege Treiben dort gut gefallen. Gleiwitz war eigentlich keine so große Stadt, doch auf der Wilhelmstraße hatte man immer das Gefühl, in einer Großstadt zu sein.
Wie haben Sie damals die polnischsprachige Bevölkerung Oberschlesiens wahrgenommen?
Ilse: Zu meiner Zeit war Gleiwitz deutsch. Ich habe nicht so viele Leute getroffen, die polnisch sprachen. Wir hatten als Haushaltshilfe ein Mädchen aus Königshütte (Chorzów), die sprach allerdings deutsch. Auch unser Gymnasiallehrer sprach deutsch, obwohl er aus Kattowitz kam.
Horst: Ich kam mit acht Jahren ins „Jungvolk“. Das war der Unterbau der „Hitlerjugend“. Dort und in der Schule wurde uns beigebracht, dass die Deutschen mehr wert sind als die Polen bzw. dass die Polen minderwertig sind und wir uns von ihnen fernzuhalten haben. Von daher hatten wir keine polnischen Freunde, weder in der Schule, noch in der Familie. Sowieso wurde in Gleiwitz sehr darauf geachtet, dass deutsch gesprochen wurde. Wenn man im Grenzgebiet wohnt und die Nachbarn als Feinde angesehen werden, unternimmt man sehr viel, um sich von diesen Nachbarn abzugrenzen. Aus diesem Grunde wurde in Gleiwitz im Allgemeinen kein Schlesisch oder vom Polnischen durchsetztes Deutsch gesprochen, sondern ein nahezu reines Hochdeutsch.
Welche polnischen Wörter oder Ausdrücke sind damals in der Alltagssprache verwendet worden?
Ilse: Wir haben auf Polnisch geflucht, obwohl wir das nicht durften. Das Wort für „Kröte“ bzw. „Frosch“ (żaba) ist mir dabei in Erinnerung geblieben. Ja, wir haben so einige Wörter auf dem Markt aufgeschnappt. Die meisten davon habe ich allerdings wieder vergessen. Heute kenne ich ein paar mehr, weil wir Freunde in Warschau haben. Aber aufschreiben kann ich sie nicht.
Horst: Für die ganz normalen Alltagsbezeichnungen wurden keine polnischen Wörter verwendet. Ich kannte immer nur Schimpfwörter, die haben wir bei den polnischen Händlern auf dem Markt aufgeschnappt. Erinnern kann ich mich noch an „do pioruna!“ und „ty pierunie!“. Wir mussten sehr darauf aufpassen, zuhause nicht auf Polnisch zu fluchen, denn wenn unsere Eltern dies mitbekamen, wurden wir bestraft und mussten 100x „Ich darf nicht auf Polnisch fluchen“ schreiben
Wie fühlt es sich an, seiner Heimat für immer Lebewohl sagen zu müssen?
Die wichtigste Frage ließ ich offen, denn die Antwort konnte ich mir selbst geben.