Lipiny
Kapitel I
Es ist April und zu dritt cruisen wir an diesem sonnigen Morgen durch Oberschlesien. Ich sitze hinten im Wagen und neben mir liegt, wie so oft unterwegs, der Fotoapparat. Wir fahren in den Stadtteil Lipiny in Świętochłowice hinein und genießen die links und rechts langsam an uns vorbeiziehende Stadtlandschaft mit den typischen Backsteinfassaden der in die Jahre gekommenen Häuser. Zu meiner rechten Seite sehe ich ein Mädchen im Fenster sitzen, das wohl die ersten warmen Tage des Frühlings auf der Fensterbank genießt. Das Fenstersitzen hat hier, wie auch im Ruhrgebiet, Tradition. Es ist aber mittlerweile vom Aussterben bedroht, seitdem Menschen kleine Televisoren mit sich tragen und die Welt dadurch betrachten. Plötzlich fällt mir ein ungewöhnliches Stadtpanorama ins Auge. Ich bitte meine Freunde, kurz anzuhalten und steige aus dem Wagen. „Es ist wie eine Filmkulisse“, sage ich zu mir selbst. Bin ich noch im altvertrauten Oberschlesien oder bin ich in Frankreich oder in den USA? Ein Motiv der geografischen Verwirrung steht mir gegenüber. Wo befinden wir uns? Vielleicht in einem Gemälde der 1920er-Jahre von Edward Hopper in New York? Oder bin ich in einer stimmungsvollen Fotografie von Wim Wenders gelandet?
Die Zeit steht still. Es ist der morgendliche Lichteinfall, der diese gewöhnliche oberschlesische Straße zur filmischen Kulisse des amerikanischen Realismus stilisiert. Zwischen Licht und Schatten zeichnet sich hier vor meinen Augen der Schauplatz einer Westernstadt ab, indem das Licht die Trivialität des Ortes übermalt und eine Szene voller Isolation kreiert. Kein Verkehr und nur zwei unwirkliche Gestalten in der Ferne, zwei Menschen, die den Ort für sich zu beanspruchen scheinen und die auf mich wie Statisten wirken. Eine urbane Seelenlandschaft der Einsamkeit mit nahezu meisterhafter Beleuchtung durch den morgendlichen kontrastreichen Sonneneinfall. Das ist ein Anblick, von dem ich schon früher geträumt haben muss, also reagiere ich und stelle den Fotoapparat ein. Meine bevorzugte Formatwahl ist die Horizontale, denn das Querformat verleiht der Stadtlandschaft die wohlverdiente Hauptrolle. Ich drücke mehrmals den Auslöser und der Rest geschieht daheim. Ich bearbeite das Bild und suche dann nach einer Erklärung für den Schriftzug „Le Nouveau Combattant / Le mieux informé“, was man mit „Der neue Kämpfer / Besser informiert“ übersetzen kann. Ich werde fündig. Die Fassadenmalerei wurde einst eigens für einen französischen Film des Regisseurs Éric Barbier auf der Ziegelwand angebracht. Der Film heißt „Le Brasier“ und handelt von den sozialen Kämpfen in einem Bergbaugebiet der 1930er-Jahre in Frankreich. Die Stadtlandschaft erweist sich tatsächlich als wahre Filmkulisse.
Ich staune, denn auch meine Vorfahren waren in den 1920er- und 30er-Jahren auf Arbeitsuche in diese Richtung gereist. Meine in Dortmund geborene Urgroßmutter Wanda und ihre Eltern zogen in die Industriegebiete Frankreichs und ließen sich in Escaudain im Département Nord nieder. Sie lernte dort ihren Ehemann Paul Johann kennen. Sie gebar dort einen Sohn, den sie auch Paul nannte. Richtig heimisch wurden meine Urgroßeltern dort jedoch nie und so verließen sie Frankreich aus heute schwer nachvollziehbaren Gründen (vielleicht kann der Film dies ansatzweise erklären?) und zogen weiter nach Oberschlesien, wo Wanda drei weitere Kinder gebar. Kurioserweise kam es so, dass sich Paul und Helmut, das älteste und das jüngste Kind, zeitlebens nicht in der gleichen Sprache verständigen konnten. Paul lebte in Lünen im Ruhrgebiet und sprach deutsch und Helmut lebt noch immer in Ruda Śląska und spricht polnisch. Die anderen Geschwister sind zweisprachig aufgewachsen und wurden somit zu Vermittlern zwischen Paul und Helmut. Letztendlich verdanke ich der Migration meiner Urgroßeltern, dass ich in Oberschlesien geboren worden bin. Hier liegen meine Wurzeln und ich liebe diese Region, die Luft und den schlesischen Dialekt, den ich zum Glück nie verlernt habe. Er erhält den Rest einer regionalen Zugehörigkeit in mir aufrecht. Im hohen Alter, Anfang der 1980er-Jahre, kehrte meine Urgroßmutter wieder ins Ruhrgebiet zurück und 1987 folgte ihr der Rest der Familie mit mir auf der Rückbank unseres Fiat 125p.
Doch zurück zum angesprochenen Film: „Le Brasier“ ist ein Sozialdrama, das zu Beginn der 1930er-Jahre im nordfranzösischen Steinkohlerevier spielt. Es kommt zu Konflikten zwischen den emigrierten polnischen Bergarbeitern, die mit ihren Familien um soziale Sicherheit kämpfen, und dem französischen Kumpel, der eine Gefährdung des schwer erarbeiteten Wohlstands durch die eingewanderten polnischen Familien fürchtet. Die Geschichte erinnert mich an die heutige Zeit und ihre politischen Stammtisch-Debatten rund um die Problematik des Ankommens.
Ob im Film oder in der Realität, immer wieder ist es die Geschichte des Fremdenhasses und der Ängste der bereits Angekommenen gegenüber den Reisenden. Es ist das Schicksal des kleinen Jesus von Nazareth, seiner Eltern und des Esels.
Obwohl die Thematik des Films als solche von hoher gesellschaftlicher Relevanz ist und nicht an Aktualität verliert, kann sich der Film in den Augen der Kritiker nicht bewähren und wird zum wirtschaftlichen Misserfolg. Was bleibt, ist eine Wandbemalung und ein Foto, das mir zwischen den Zeilen meine Familiengeschichte erzählt.