Heimate
Kapitel V
Vorwort
Ich wollte sie auf meinen Fotos festhalten, um sie in Sicherheit zu bringen: Die heilige Barbara und ihre Schützlinge, Jesus Christus, sterbende Dinosaurier, Kraftwerke und rohes Beton – all das fand ich vor, wenn ich fotografierte – sie waren wie Spuren im Schnee und drohten, bald unsichtbar zu werden. Deshalb beschloss ich, ihnen zu folgen. Die Welt ringsum befand sich im Aufbruch – Splash, Cricket, Palmen, Chamäleons – doch anstatt mitzugehen, dachte ich ans Bewahren, wollte Beständigkeit aus dem Gefühl der Angst vor der Vergänglichkeit, aus Nostalgie, aus Furcht, das Vertraute zu verlieren und vor der Endgültigkeit des Todes – immer zurückblickend und selten nach vorn. Ich interessierte mich für den Prozess der fortschreitenden Zeit, die Entropie, für das geistige Erbe und vor allem für die Kraft der Erinnerung, die sogar die Zeit selbst auszutricksen vermochte und der Ewigkeit und dem Paradies glich, weil sie sich nicht an die irdischen Regeln und Gesetze zu halten schien. Ich suchte in Sehnsucht das Sein, den Sinn und folgte meiner inneren Stimme, wie man Spuren im Schnee vor der Schmelze folgt – ungewiss. Ich suchte das, was ein Sohn vom Vater erben kann, wenn er ihm aufmerksam gegenübertritt und lauscht und zuschaut. Unterdessen entdeckte ich meine Wurzeln und die Weisheit, dass eine Heimat keine Grenzen braucht. Weil ich eine tiefe Zuneigung für die Welt empfand und stark an sie gebunden war, verspürte ich Zeitdruck, denn ich konnte die Zeit spüren und sah den Zeitfluss. Sie fühlte sich bedrohlich an, als Feind des Beständigen. Deshalb musste ich etwas finden, das einen Wert über das Leben hinaus hatte. Auf diese Weise lernte ich sowohl in kleinen Dingen und Gesten wie auch in großen Errungenschaften anderer Generationen das Wesentliche zu finden. Es war etwas, das eigenartig schön war, denn es war robuster als alle Materialien und gleichzeitig zerbrechlicher als das Herz – es war der Zeitgeist, der sogar seine Schöpfer überleben konnte. Das Wissen um ihn und seinen Zerfall eröffnete die Zukunft vor mir und ließ mich Teil der Welt werden, die mich umgab. Ich fand den Sinn, den ich verlor, und stand wieder im Leben, umhüllt von Licht, ließ alles zurück, allen voran die Furcht vor der Endgültigkeit von Ereignissen.
Ich wollte doch nur eine schlichte Fotoserie hervorbringen, währenddessen erwuchs aus einem kleinen Geistesblitz und meiner Leidenschaft zur Fotografie ein langes und sperriges Gedankengebilde, durch dessen Dickicht ich selbst nicht ganz durchblickte. Die Zusammenstellung der Fotos und die Beweggründe ihrer Entstehung sind rätselhaft, selbst für mich, doch ich merkte vage und undefiniert, dass sie etwas mit Zeit zu tun hatten, denn Fotografie hatte immer etwas mit Zeit zu tun – vor allem aber, wenn man sie ernst nahm. Streng genommen hat alles, was wir kennen, mit der Zeit zu tun, denn ohne sie gäbe es kein Beginn und kein Ende und nichts dazwischen, somit könnte ich doch nichts falsch machen, wenn ich über sie schrieb, sondern höchstens etwas lernen.
Aus der Notwendigkeit der Entwirrung dessen, was möglicherweise unter der Oberfläche meiner Fotos schlummert, suche ich nun gedankliche Orientierung und Annäherung an mein eigenes Vorgehen und deshalb reflektiere ich im Schreiben dieses Kapitels das, was ich mit dem Fotoapparat festgehalten habe.
In diesem Teil versuche ich, meinen Gedanken freien Lauf zu lassen, denn sie sollen den Gegenstand meiner Arbeit und mich selbst erforschen wie eine Schlange ihre Umgebung inspiziert, all die Fotos, die jetzt vor mir liegen, die ich auf gleiche Weise gemacht habe – durch Beobachtung und Erforschung. Ich werde meine Gedanken aufzeichnen wie ich die Fotos aufzeichnete, dann zu einem Fotoessay binden und ansehen – doch jetzt kenne ich die Pointe nicht und ich weiß nicht, ob es eine geben wird.
Etwa vor einem Jahrzehnt begann ich, meiner inneren Stimme zu folgen – Jahre, die im Rückblick nicht länger als eine vergangene Weihnacht voller Emotionen daherkommen. Als ich so rückwärtsgewandt meine Fotos reflektierte, wurde mir klar, dass die Zeit das eigentliche Thema der Serie ist und ich nur dafür fotografierte, um sie für mich sichtbarer zu machen, so wie man seine grauen Haare im Spiegel sehen kann. Dieser Willenszug überraschte mich selbst, denn anfangs wollte ich lediglich zwei Regionen gegenüberstellen, und in der Tat, das machte ich auch, doch die Fotos betrachtete ich jetzt durch das Prisma der Zeit.
Immer wieder versuche ich, mir selbst auf den Grund zu kommen – wer könnte es sonst – habe ich mich doch in mir selbst versteckt, und kaum jemand kennt die Absichten dessen, was ich in meiner Arbeit verfolge. Zu Beginn bezeichnete ich meine Arbeit – zugegeben etwas schwammig formuliert – als „Parallelwelten – Eine fotografische Spurensuche“, denn meine Absichten allgemein betrachtend wollte ich anfangs dem Menschen und seiner Kultur im urbanen Raum auf die Spur kommen. Aufgrund meines biografischen Verlaufs erschien mir eine geografische Eingrenzung auf zwei Regionen naheliegend und sinnvoll und so fotografierte ich im Ruhrgebiet und in Oberschlesien. Aus heutiger Sicht, im Moment des Resümees, denke ich, dass meine Arbeit eine Spurensuche geblieben war und ihr gegenwärtiges Erscheinungsbild eine deutlich sichtbare Silhouette aufweist. Es ist das Resultat eines Dialogs zwischen mir und meiner Umwelt, der mittels Fotoapparat geführt wurde. Es ist das Ergebnis einer persönlichen Spurensuche zwischen zwei Welten, die geografisch gesehen nicht weit auseinanderliegen, wäre da nicht die vergehende Zeit, während man gerade ortsabwesend war.
Eine Erinnerung mit Folgen
Zuerst kam die Erinnerung. Welche Kraft Erinnerungen entfalten können, vergesse ich immer, bis sie mich unerwartet treffen. Sie sind Magier des mentalen Wiedererlebens. Sie ermöglichen Zeitreisen, ohne dass wir außer ihnen etwas dafür benötigen. Dank unserer Erinnerungen können wir aus der Gegenwart in verschiedene Vergangenheiten zurückschlüpfen. Besonders gut funktionieren sie, wenn wir unseren Körper zum Ort eines Ereignisses aus der Vergangenheit zurückbringen und wir ihn dort Reizen aussetzen, die er in der Vergangenheit bereits kennengelernt hat. Damit können wir eine Erinnerung verstärken, doch meist sind sie auch ohne physische Rückkehr zum Tatort stark genug – so stark wie die eines Traums – und wir können ein altes Ereignis von jedem beliebigen Ort der Erde wiedererleben – selbst aus dem All könnten wir jederzeit in Lichtgeschwindigkeit an den gedeckten Abendtisch unseres Elternhauses zurück, das es vielleicht schon gar nicht mehr gibt. Erinnerungen machen etwas möglich, das in der physikalischen Zeittheorie lange als absolut ausgeschlossen galt. Sie ermöglichen nämlich, dass das gleiche Ereignis mehrmals stattfinden kann. Erinnerungen können willkürlich und unwillkürlich sein, erwartet oder unerwartet kommen – sind an Geruchsempfindung, Berührungen oder optische Reize gebunden. Ich bin der Meinung, dass der Zauber der Erinnerung allgemein gesehen von den meisten Menschen unterschätzt wird – oder nicht vollständig wahrgenommen – oh, ich muss noch einkaufen!
Vor etwa einem Jahrzehnt begann ich, erste Fotos für meine sogenannte Serie zu machen. Dem vorausgegangen war eine Erinnerung der unwillkürlichen und unerwarteten Art – nichts Besonderes, könnte man meinen, aber eben unerwartet und mit Folgen. Einen Tag vor Weihnachten des Jahres 2008, in Gedanken entflammt, erinnerte ich mich blitzartig an einen arg frostigen oberschlesischen Winter, den ich als Junge miterlebte, sah mich selbst an einer Bushaltestelle stehen, an einem glühenden Koksofen. Von einem Moment auf den anderen konnte ich seine Wärme deutlich spüren und viele Details wahrnehmen, so als wäre ich gerade dort, Details, zu denen ich lange keinen Zugang mehr hatte, die mir sonst verborgen blieben. Selbst die tauenden Schneeflocken auf meinen erhitzen Wangen, die ihren Aggregatzustand innerhalb weniger Sekunden dreimal veränderten und sich eine nach der anderen als Dunst in die oberschlesische Luft mischten, waren wieder lebendig und spürbar nahe – wo Schnee ist, da sind auch Spuren. Diese Erinnerung hatte sich vermutlich gut in meinem Gedächtnis konvergiert, denn ihrer Qualität nach musste sie tief in mein Innerstes eingebrannt sein. Irgendwann am Küchenherd zwischen dem Duft der weihnachtlichen Fischsuppe, die ich gerade kochte, und im Zigarettendunst wurde ein vergangener Winter, der bis dahin in mentaler Dunkelheit schlummerte, wieder lebendig. Dieser glühende Koksiok aus geschweißten Eisenstäben, der an der Bushaltestelle neben dem Friedhof stand, tat es mir ganz besonders an und plötzlich hatte ich das Gefühl, den Luftzug des glühenden Koks hören zu können, so wie das Feuer atmet, damit es nicht erlischt.
Bis dahin dachte ich, die Koksöfen schon längst vergessen zu haben, wenn man das überhaupt so sagen kann, denn sie waren einfach nicht aus meinem Gedächtnis heraus aufrufbar. Jetzt, am vorweihnachtlichen Abend, tauchten sie unerwartet wie aus dem Nichts auf – um Luft zu holen, vermutlich – waren in meiner Erinnerung jetzt so präsent wie die Fischköpfe im Suppentopf vor mir.
Damals, Anfang der Achtziger, wurde Winter um Winter, meist im Dezember, ein Koksofen nach dem anderen an den oberschlesischen Bushaltestellen und Bahnhöfen aufgestellt. Ob in Zabrze, Bytom oder eben in Bielszowice, Pendler und Reisende konnten sich an ihnen aufwärmen, während sie auf den Bus warteten. Damals, als ich bei 30 Grad unter Null von der Schule heimwärts ging, tat ich genau dies. Ich machte eine Rast an der Bushaltestelle, drängte mich und meinen Schulranzen durch die wartenden Passagiere bis zum Koksofen hervor und beobachtete vom wärmenden Mittelpunkt aus das Geschehen rundherum. Ich sah, wie große Bierfässer in den Keller der Schänke Uciecha, also „Freude“, nebenan rollten und wie taumelnde Männer diese verließen und auf der rutschigen Treppe das Gleichgewicht verloren. Ich konnte meinen Friseur Alfred Jonda, dem nachgesagt wurde, dass er sich einen genehmigen musste, damit seine Hände beim Schneiden nicht zitterten, und seine Assistentinnen, die meistens meine Haare schnitten, durch das Schaufenster seines Friseursalons beobachten. Neben der Schänke hatte auch der Stadtfotograf Wiktor Gajda sein Studio und durch sein Schaufenster konnte man auch ihn sehen, wie er seiner Arbeit nachging, wie er seine Klienten bat, hinter einen schweren Vorhang zu treten – Herr Gajda, der uns zu allen wichtigen Gelegenheiten ablichtete – die Taufen, Einschulungen, Hochzeiten und selbst die Beerdigungen. Von hier aus hatte ich den Überblick.
Ich schaute zum Friedhof und zu den Fördertürmen hinüber. Mit prüfendem Blick sah ich die drehenden Räder und die Seilwinden der beiden alten Schächte an, die nicht allzu tief – dreihundert oder vierhundert Meter – unter Tage reichten, ein Zeichen, dass die Stadt lebte, denn das Bergwerk war ihr Herzstück. Es konnte sein, dass mein Vater gerade im Schacht steckte und über Tage befördert wurde und wenn ich hier noch etwas wartete, könnte ich ihm begegnen – übrigens hatte das Werk fünf oder sechs Schächte, Belüftungsschächte, Personenbeförderungsschächte, Kohleschächte und eigentlich konnte ich nur vermuten, welchen mein Vater gerade nahm.
Auf den Boden neben dem Koksofen fielen die glühenden Zigarettenstummel der Reisenden, die bereits in den 23er oder den 7er aus Zabrze Hbf. eingestiegen waren. Heimgehende Schüler haben die noch glimmernden Stummel aufgehoben und genüsslich weitergeraucht, nur Jungen und meistens aus der Hilfka, der Hilfsschule. Überall an den Giebeln hingen Eiszapfen herunter – die größten an der Waschkaue, dort wo der Wasserdampf durch eine undichte Stelle entwich – vielleicht war es auch nicht die Kaue, sondern ein Sanitätshaus.
Die Koksöfen – mir gefielen sie, ebenso wie der Gedanke, dass sich irgendwo, irgendwann jemand darum kümmerte, dass es anderen Menschen warm ist, während sie auf den Bus warteten. Das war wirklich praktisch und ich fragte mich, ob es diese frühere, gängige Manier noch gäbe und wenn ja, wie lange noch und wo … und wer steckte dahinter, doch die Antworten waren nicht verfügbar, weder in mir, noch in meiner Umgebung. Ich merkte, dass mich meine eigenen Fragen in eine schattige Sackgasse trieben, weil ich sie nicht auf Anhieb beantworten konnte und so wurde mir die Vergänglichkeit der Zeit zum Begriff, ganz außerordentlich und fast unheimlich. Ich bin meiner Heimat zu lange fern geblieben. In der damaligen, mich heimsuchenden Erinnerung aus meiner Kindesstube lag der Ursprung aller Fotos, die ich später machte, denn sie waren die Folge eines Ereignisses am weihnachtlichen Vorabend, das mich dazu brachte, einer Fährte nachzugehen, der ich gefühlt im Halbschlaf folgte wie ein Schlafwandler dem Mond. Die Spur führte mich zurück nach Hause und zum Friedhof meiner Ahnen.
Heute frage ich mich, ob es einst auch im Ruhrgebiet diese „Koksöfen“ gegeben hat, ich meine, in der Zeit, bevor ich nach Deutschland kam. Über diese Art ewig brennender Fragestellung beschloss ich zu Beginn meiner fotografischen Reise, die industriellen Reviere des Ruhrgebiets und Oberschlesiens bildlich gegenüberzustellen. Ich wollte mit meinen Fotografien einen schlichten Regionalvergleich machen, zum Beispiel eine architektonische Gegenüberstellung von Malakow-Fördertürmen oder einen Vergleich religiöser Rituale, wie die Prozessionen zu den Wallfahrtsorten St. Annaberg in der Nähe von Tarnowitz und Sankt Annaberg in Haltern, oder den 4. Dezember als Tag des Bergmanns. Ich dachte, dass die schwerindustrielle Entwicklung der vergangenen Jahrhunderte aus geschichtlicher Sicht sowohl in Oberschlesien wie im Ruhrgebiet Hand in Hand verlaufen sein muss und diese Annahme spornte mich zu einer Spurensuche im kulturellen Raum an – es war eine Idee, die später in den Hintergrund gerückt ist, aber die Erinnerung hatte die Sache schon ins Rollen gebracht und es dauerte etwa ein Jahr, bis ich im Winter 2010 für eine Weile nach Bielszowice aufbrach.
Alles in allem nahm ich die Arbeit an der Serie als eine freie Entscheidung, die einem inneren Drang des Schaffens entsprang, doch woher kam das Innere und warum zerrte es an meinem Arm? Wie frei meine Entscheidung wirklich war, kann ich nur vermuten, lasse die Gedanken schweifen und schreibe um der Antwort willen, um eine Klärung über meine Motivation zu bekommen, denn mich überkommt der etwaige Verdacht, ich würde aus Nostalgie gehandelt haben, aus Sehnsucht nach meiner Heimat, die mir etwas zuflüstern wollte, doch alles, was mit Nostalgie zu tun hat, würde unvernünftig sein, denn sie unterdrückte das Gegenwärtige, das Hier und Jetzt, und das entsprach nicht ganz meinem Selbstbild.
Den Gedanken der puren Gegenüberstellung der beiden Industriezentren schob ich in den Hintergrund, als ich die ersten Fotos betrachtete, denn ich bemerkte, dass ich mit meinen Bildern etwas anderes verfolgte, von dem ich noch nicht genau wusste, was es war. Eines aber war sicher – das Fotografie-Vorhaben war das Resultat meiner persönlichen Biografie und entflammte in mir gemeinsam mit der Erinnerung an einen längst vergangenen Winter, an einem vorweihnachtlichen Abend, während ich kochte.
Die Abkehr von regionalen Vergleichen
Im oberschlesischen Bielszowice geboren, verbrachte ich dort die prägendsten aller Lebensjahre und siedelte dann als Elfjähriger ins Ruhrgebiet um. Ein abrupter Lebenswechsel zwischen zwei Industrierevieren, zwei Wertesystemen, zwei Sprachen, zwei Ländern mit einer sich kreuzenden Geschichte. Eine Lebensumstellung, die vermutlich bewirkte, dass sich mit dem Heranwachsen Fragen anhäuften, die ich bald mit einem behaglichen und zum Teil kritischen und distanzierten Blick durch mein Objektiv betrachten würde, um ihnen auf den Grund zu gehen. Prompt begann ich mit einem fotografischen Vergleich der beiden Ballungsräume. Dieses Vorhaben nannte ich „Parallelwelten“, weil ich dem „Pott“ und dem schlesischen Revier einen Spiegel ihrer selbst vorhalten wollte, sie in Bildern gegenüberstellend hoffte ich auf Antworten, Überblick und Klarheit – auch mich selbst betreffend. Mit der Zeit merkte ich, dass nicht nur meine Mittel begrenzt waren, sondern auch, dass der Titel meinen Spielraum eingrenzte, weil er nicht das volle Spektrum meiner Intention ausschöpfte und zudem irreführend war. Er würde zu schnell mit Subkulturen oder Unterwelten in Verbindung gebracht und das wäre nicht das, was ich wiedergeben wollte. Am Ende würde man meine Arbeit mit einem Lost Places-Bildband verwechseln, einer Fotografie, die ein Loblied auf Ruinen hält, während ich niemals aus dem kulturellen Untergang egal welcher Kultur Profit schlagen wollen würde. Vielleicht würde man auch sozialdokumentarische Fotografie dahinter vermuten, was meiner tatsächlichen Linie schon etwas näher käme, jedoch nicht nahe genug, weil meine Arbeit so einzigartig und persönlich war, wie sie nur sein konnte, keine Vorbilder hatte und in keinem mir bekannten Genre beheimatet war. Ich und meine Geschichte standen im Vordergrund.
Die Parallelen der Regionen entpuppten sich als zu verzwickt, als dass ich sie mit meinen geschichtlichen und fotografischen Kenntnissen Außenstehenden hätte zugänglich machen können – ich war und bin kein Historiker oder Soziologe, vielleicht nur durchschnittlich als Fotograf, eher ein Beobachter. Ich musste mich fragen, ob es überhaupt Sinn machte. Man stelle sich vor, man wollte Berlin und Paris oder Madrid miteinander vergleichen. Welchen Sinn hätte das? Gut, vielleicht unter einem speziellen Aspekt wie dem der städtebaulichen Entwicklung oder dem gesellschaftlichen Befinden der Städte, aber nüchtern betrachtet sind diese Städte in ihrer Komplexität unvergleichbar und deshalb tragen sie ja auch verschiedene Namen. Sie sind so vielschichtig wie die Welt selbst und im Grunde genommen unvergleichbar.
In meiner Fotoserie blieb nur der Ansatz eines Vergleichs sichtbar, denn mittendrin brach ich ab und begann umzudenken, so in etwa als meine Tochter geboren wurde. Es war gut so, denn ich folgte jetzt meiner inneren Stimme und meiner Intuition und nicht einem pragmatisch anmutenden Gedankenmuster. Man stelle sich vor, ich hätte jahrelang meine alte Heimat mit einem neuen Lebensraum verglichen – ein Albtraum, denn das Loslassen ist Voraussetzung eines jeden Aufbruchs in die Zukunft und macht persönliche Entwicklung erst möglich. Aber es sollte noch eine Weile dauern, bis ich verstehen würde loszulassen.
Je länger ich an der Serie arbeitete, desto klarer wurde mir dieser Umstand. Zudem bemerkte ich, dass sich die Antworten, die ich erwartete, in mir selbst befanden. Eigentlich war es einerlei, wohin ich mein Objektiv richtete. Solange ich mich im Ruhrgebiet oder in Oberschlesien befand, war ich immer in meinem Revier und somit auf der richtigen Fährte und ich fühlte mich frei, den Ausgangspunkt meiner Idee umzulenken von außen nach innen in die Welt der Reflexion und Gedanken. Ich sah von direkten Vergleichen ab und konzentrierte mich zunehmend auf eine intuitive Spur, die mich zu den Menschen und ihrem Lebensumfeld und vor allem zu mir selbst führte. Meine fotografische Herangehensweise war durch diese Umstellung persönlicher geworden – es war mein eigenes Lebensumfeld, in dem ich mich bewegte, und so behandelte ich es auch. Trotz aller Umstellung wirken meine eigenen Bilder beim heutigen Betrachten distanziert und nüchtern auf mich. Ich glaube, nicht zuletzt deshalb, weil ich mich mit der Zeit weit von meiner schlesischen Heimat entfernt hatte und gleichzeitig nicht stark genug im Ruhrgebiet beheimatet war – ein Schwebezustand ohne klare Identifizierung und Zugehörigkeit, dem ich zeitweilen ausgesetzt war und der mich glauben ließ, ich wäre heimatlos – nicht übertrieben ein Zustand, der so quälend wie das Fegefeuer sein muss.
Den Gedanken des regionalen Vergleichs ließ ich irgendwann völlig im Hintergrund schweifen, immer deutlicher die Zeichen der Zeit und der Vergänglichkeit ergründend. Ich suchte Motive aus meiner eigenen Lebensgeschichte, mich interessierte aber auch der Wandel der Zeit und ihres Geistes und Motive, in denen dieser sich offenbarte. Ich verfolgte intuitiv Spuren und als ich mich immer mehr nach meinem Empfinden richtete, fand ich sowohl das Einfache und Schöne wie das Kuriose und Unschlüssige vor. Vor allem fand ich meine Heimat wieder, am Ende der Welt, dort wo ich sie nicht vermutete.
Der neue Titel
Den alten Titel habe ich entsorgt. Jetzt wurde ein neuer notwendig, eine Überschrift, die meine Arbeit trefflicher beschreiben würde. „Gedanken im Querformat“ – der neue Titel ergab sich ohne Anstrengung. Meine bevorzugte Formatwahl war die Horizontale, denn das Querformat gab der urbanen Landschaft das, was ihr gehörte, nämlich Raum in der Horizontalen. Ich fotografierte quer oder besser gesagt querdurch und drauflos, jedoch immer mit einem intuitiv gesponnenen Plan. Mit der Zeit hatte ich immer mehr Gedanken zu den einzelnen Fotomotiven notiert. Zuerst kurze Texte, nach und nach längere Gedanken und Assoziationsketten, aus denen bildbegleitende Geschichten wurden. Jedes Foto hatte seine einzigartige Geschichte, die darauf wartete, auf einem weißen Blatt Papier festgehalten zu werden. Der neue Titel war so quer wie ich selbst, wie eine Fischgräte im Halse, denn ich steckte quer im Rachen, so als wüsste die Welt nicht, ob sie mich herunterwürgen oder ausspucken wollte, und ich fragte mich, wohin ich ging, warum ich fotografierte oder besser gesagt, wohin ich fotografierte – vielleicht sind es die mittleren Jahre.
Als ich mich für den neuen Titel entschied, dachte ich mir, dass der Blick junger Menschen vorwärts gewandt sei, während sich der der Älteren rückwärts in die Vergangenheit richtet. Die meisten Menschen in meinem Alter sind Querseher, weil sie sich im temporären Zentrum ihres Lebens befinden – vorausgesetzt, die Glocke hat noch nicht für sie geschlagen. Sie richten ihren Blick und Gedanken mal rückwärts in die Vergangenheit, mal nach vorn und dann wieder vor die eigenen Füße in der Gegenwart – wenn sie etwas haben, auf das sie sie richten können. Der neue Titel gab mir viel Raum zum Denken – zuvor fühlte ich Befangenheit, jetzt wurde ich freier.
Ich begann, das Bild zu formen, um die Zeit zu überlisten
Mitte der neunziger Jahre arbeitete ich einen Sommer lang bei einem Bildhauer, einem gewissen Heinrich Brockmeier in Recklinghausen, ein Mensch der groben, großzügigen Bronzeskulpturen – so war ihr Duktus. Ich glaube, ein Bildhauer sollte über ein Maß an Großzügigkeit verfügen, ansonsten würden seine Werke kleinlich und unbedeutend wie Haselnüsse wirken. Beim Brockmeier schaute ich mir das Wachsausschmelzverfahren genauer an. Ich ging ihm zur Hand und arbeitete mit Zutaten wie Ziegelmehl, Gips, Wasser, Ton, Wachs, Bronze, Silikon, allen voran Schweiß in der Sommerhitze und half bei der Formgebung seiner Figuren. In einem bewussten Prozess, von der Idee über ein Konzept bis hin zur Fertigstellung, machte er etwas, das aus Menschensicht für die Ewigkeit bestimmt war. Das sehr robuste Material konnte, einmal in Form gebracht, Jahrhunderte, gar Jahrtausende überdauern – wie erstaunlich das ist, weiß jeder, der schon mal eine hundert Generationen alte römische Bronzemünze in der Hand hielt oder Scherben vergangener Kulturen aus dem Sand holte, vielleicht um sie zu bewahren.
Einmal wöchentlich fuhren Brockmeier, sein Assistent Ecki und ich in die Gelsenkirchener Metallgießerei Seppelfricke, um unter enormem Temperatureinfluss seinen Ideen eine greifbare Gestalt zu geben. Die im Atelier angefertigten Gussformen stellte ich dort in Gefäße, die ich mit Kohlenstaub füllte. Dann stampfte ich den Staub mit einem schweren Eisenstab so lange, dass er hart wie Stein die Gussformen umschlang, sodass diese während des Gusses nicht zersprangen. Danach floss das flüssige Metall hinein, ergoss sich im Leerraum, die Luftblasen entwichen durch angefertigte Kanäle – wir wollten keinen Schweizer Käse herstellen und hatten es auf Langlebigkeit abgesehen. Seine Ideen nahmen Gestalt an, doch bevor ich die Skulpturen aus den Formen lösen durfte, ließen wir sie noch tagelang in einem Ofen ruhen und bei geringer Wärme langsam abkühlen – es war das, was man in der Fotografie als Fixativ bezeichnen würde, was die Botschaft konservierte, weil es dem Werk die entsprechende Verfestigung durch Bildung der idealen Metallgitterstruktur verlieh, und es war das, was mir eine unbekümmerte Endbearbeitung mit Hammer und Trennscheibe erlaubte. Seitdem sind mehrere Jahrzehnte vergangen – seine Gebilde stehen stramm im öffentlichen Raum. Den Legierungen sieht man ihre Korrosion durch die Zeit nicht an – bis auf ein gelegentliches oxidgrünes Kolorit, das auftritt, weil sie eine Beimischung von Kupfer haben und wie alles andere dem Zeitfluss ausgesetzt sind.
Menschen hinterlassen Spuren, wollend oder unwissend, konzentrieren ihre Gedanken, ballen ihre Energie, um sie in Aussagen oder Botschaften umzuwandeln – stellen sich förmlich auf den Kopf dafür. Sie selbst entsprangen der Energie, dem Licht allesamt dem, was sie umgibt und dem, das wir als Leben anerkennen und darüber hinaus. Das, was dem Licht entsprang, samt unserem Selbst und dessen Errungenschaften, ist unumkehrbar und endgültig der Entropie ausgesetzt, einem Prozess der Veränderung, der all das, was aus der Asche entsprang, zu Asche und Staub werden lässt. Die Menschheit und der blaue Planet sind die größten Zufälle der Thermodynamik, oder das Meisterwerk eines genialen Uhrmachers, der das unglaublichste Uhrwerk erschuf, weit und breit einzigartig, über jede menschliche Vorstellungskraft hinaus. Das, was uns umgibt, ist das Ergebnis eines präzisen Handwerkers, der anscheinend mit einem feinen Gespür für Humor den Menschen erschuf – wenn wir genauer hinschauen – oder aber sind wir das tragischste Resultat von unzähligen, unendlichen Zufällen im kosmischen Raum-Zeit-Geschehen, Zufälle, die unseren Planeten in die günstigste Konstellation brachten, die es nur hätte geben können, damit wir seine Schönheit bewundern dürfen.
Wir entsprangen den kosmischen Gesetzen und wir nutzen seine Gesetzmäßigkeiten. Wir machten uns die Thermodynamik, also das Wissen über die Entropie zunutze, eine Größe, die in allen stattfindenden Prozessen vorhanden und für immer an die voranschreitende Zeit gekoppelt ist oder – wer weiß das schon so genau – vielleicht gekoppelt wurde. Sie verändert das, was wir erschaffen haben, löst jede Form auf, nagt sowohl an den Bronzegüssen und Denkmälern als auch an der Beschaffenheit der Bildträger der Fotografie oder Malerei im Museum und am Museum selbst.
„Entropie ist etwas, das wir nicht verstehen, das aber sehr wichtig ist“. Diesen Satz haben Schüler des Marler Albert-Schweizer-/Geschwister-Scholl-Gymnasiums nach einem Projekt im Chemie- oder Physikunterricht aufgeschrieben und in einer Glasvitrine ausgestellt. Wie zutreffend dieser Satz doch ist. Wie bei den meisten Menschen liegt der Naturwissenschaft-Unterricht auch bei mir weit zurück und ist irgendwie peripher an mir vorbeigezogen. Janina, meine Großmutter mütterlicherseits, konnte am Chemie- und Physikunterricht nicht teilnehmen, weil ihr der Einmarsch der braunen Socken in die Quere kam. Diese besetzten Posen und übernahmen die Cegielski-Werke unter dem Namen Deutsche Waffen- und Munitionsfabriken, in denen meine damals minderjährige Großmutter in der Waffenproduktion gegen ihren Willen arbeitete, anstatt die Schulbank zu drücken. Sie wäre gerne zur Schule gegangen, aber immerhin hat sie überlebt. Das, was damals an ihr vorbeigegangen war, holte sie als Autodidaktin nach.
Während sie putzte und drei Kinder großzog, las sie David Bohm und Basil Hiley, schwärmte bis ins hohe Alter für Einstein und Hawkins und hatte sich mit dem Begriff der Entropie vertraut gemacht, ich hingegen verstand ihn höchstens im Ansatz und ahnte das Gewicht und vermutete, dass sie alles durchdrang. Ich verstand, dass Menschen in gewaltigen Kraftwerken selbst Entropie erzeugten, um den Nährstoff der modernen Zivilisation herzustellen – die elektrische Energie. Ich wusste auch, dass sie sowohl zur Herstellung einer Bronzeskulptur als auch einer Seifenblase vonnöten ist, aber vor allem, dass die Entropie immer und überall war und dass sie das Werkzeug des genialen Uhrmachers war, der früher oder später alles Menschengemachte verschlingen würde – als erstes die Seifenblasen im Park, dann die Bronzestatuen vor den Rathäusern und zuallerletzt die goldene Platte der Voyager, die noch lange wie Treibholz durch den entropiearmen, interstellaren Raum vor sich her driften und vielleicht die Erde selbst überdauern wird.
Jeder hatte so seinen eigenen Ansatz, wenn es um die Entropie ging. Schüler und Lehrer traktierten und wälzten sie im Unterricht, meine Großmutter während sie Kinder großzog, ich beim Schreiben und Fotografieren und wenn ich mit Christian sprach. Ich schrieb ihn an und erklärte ihm, was mich beschäftigte. Ich erzählte von meiner Großmutter und fragte nach der menschengemachten Entropie in Kraftwerken und nach dem Zeitzusammenhang. Sein Fach waren Kohlekraftwerke und sein Hobby die Fotografie und so endete jede Konversation zwischen uns mit mehr Fragen als zu ihrem Beginn, denn mein Beruf war die Fotografie und mein Hobby die Kraftwerke. Er schickte mir ein Foto aus dem Steuerraum eines Kraftwerks aus Castrop-Rauxel zu. Ich schaute es mir genauestens an – das machte ich schon immer so mit den Fotos meiner Freunde, die sich daraufhin fragten, warum ich ihre Alben so lange anstarre. Hier wurde also Entropie verwaltet, in einem Raum mit zwei mickrigen Palmengewächsen in der Mitte, zwei HQL-Lampen darüber und einer Kaffeekanne auf dem Tisch – interessant. Dem Foto folgten einige Zeilen: „Entropie hat die Einheit KJ/kgK, also 1000x kgm²/s²/kg und Kelvin … ich dachte die ganze Woche, die Zeit wäre kein Faktor … aber das klärt sich gerade … ich werde meine selbst definierten Einsprüche alsbald ad acta legen … Peace and over“ – er beliebt wohl zu scherzen – ich blickte kaum durch den Wulst seiner Einheitsgrößen hindurch. Das fiel ihm ein, als er im Dampfbad war, ich aber hatte mehr die Kunst im Blick. Das Kraftwerk auf dem Foto gibt es heute nicht mehr und wir befinden uns am Wendepunkt, kurz vor dem Untergang der fossilen Energie – zumindest hier sieht man den Horizont. Die Riesen unserer Zeit werden bald ihren Frieden finden.
Ich bevorzugte das Beispiel der Bildhauerei, vor allem nachdem ich mich mit Christians kryptografischer Nachricht auseinandersetzte. Ein Bildhauer, der Figuren gießt, strukturiert seinen Werkstoff mit Hilfe der Energie um. Es ist ein aufwändiges und robustes Handwerk, dessen Ergebnisse Jahrtausende überdauern können. Der Künstler verändert den Aggregatzustand seiner Metallverbindungen durch Erhitzung und lässt die Legierung in die von ihm erwünschte Form erstarren, bewirkt eine Neustrukturierung bis ins kleinste Teilchen auf Molekularebene, sodass er das Ergebnis seiner Geistesarbeit – die allgemein als Kunst bezeichnet wird – in ein Medium bringt, das in der Zeit eine Weile überdauern kann und zwar solange, bis sein Werk wieder in den Zustand der maximalen Unordnung übergeht und sich unumkehrbar auflöst.
Die Kunstwerke eines Straßenkünstlers, der Seifenblasen für Kinder macht, sind wiederum sehr kurzlebig. Es ist eine Kunst des kurzen Augenblicks, des kurzen Aufatmens im Moment, da eine bunt schimmernde und traumhafte Seifenblase die Herzen der kleinen Menschen erobert. Die Beschaffenheit einer Seifenblase ist zerbrechlich und kurz nach ihrer Geburt wird ihre strukturierte Oberfläche zerplatzen, bevor die einzelnen Bestandteile genau wie die einer Bronzeskulptur ins Chaos-Maximum übergehen. Aus der Traum.
Fotografen hingegen nutzen das Licht und dessen Energie für sich. Sie arbeiten mit einem Material, das streng genommen keines ist. Sie arbeiten mit einem Stoff der unendlichen Farbvielfalt und Schönheit, nutzen sein welliges Farbspektrum, um ihren Motiven Ausdruck zu verleihen, indem sie sie auf einen Bildträger übertragen. Ob in digitalen oder analogen Bildgebungsverfahren – die Bestandteilchen des Lichts, die Photonen, treffen im Belichtungsprozess auf die lichtempfindlichen Flächen der Sensoren bzw. Analogfilme, die auf die unterschiedlichen Helligkeiten und Stärken reagieren und ein Abbild der sichtbaren Welt zeichnen – es ist stets das Abbild der Vergangenheit, gezeichnet mit einem Stoff, der so schnell ist wie die Gedanken selbst. Die „Photo-Grafie“ – das Zeichnen mit Licht – ist eigentlich ein subtiles und fragiles Handwerk, denn der Werkstoff ist das nicht greifbare, flüchtige Licht, der Stoff, aus dem Träume gewebt sind, und mit dessen Hilfe Fotografen die Gegenwart festhalten.
Vor diesem Hintergrund formte ich seit Jahren ein Gesamtbild, dessen Vision meiner Erinnerung entsprang. Ich knetete es zusammen aus Licht und Zeit. Mein Vorhaben verlangte von mir rückwärtsgewandte gedankliche Verrenkungen in der Zeit, hin nach Oberschlesien, aber auch einen Blick in das Gegenwärtige und Zukünftige meiner Heimaten.
Mal arbeitete ich regelmäßig an den Fotos, dann wieder weniger, mit langen Auszeiten dazwischen. Meine Tochter kam zur Welt, ich überdachte meinen Standpunkt, das Erarbeitete sackte, während ich anderen Auftragsarbeiten nachging. Im besten Fall würde ich mit meinen Fotos in einen Dialog treten, wenn ich fertig war, dachte ich manchmal, vorzugsweise mit Menschen, die ein Interesse an der dokumentarischen und künstlerischen Fotografie haben. Im Hintergrund hoffte ich, dass ich über die Fotografie die Entwicklung eines Diskurses zum Thema Oberschlesien oder Migration stützen könnte, einen Diskurs, den ich vermisste. An anderen Tagen wiederum merkte ich, dass diese Arbeit einem anderen Zweck gewidmet war, einem Zweck, der etwas persönlicher und inniger war als der Wunsch, mit meinen Fotos in die Öffentlichkeit vorzustoßen. Es war der Wunsch, meine Realität und die fortwährend vorwärts fließende Zeit einzufrieren, um sie dann im Stillstand zu bezwingen. Ich dachte, zumindest auf den Fotos würde dies gelingen, wenn ich all die Bilder zusammen betrachten würde, und ich wusste, dass selbst dieser Wunsch streng genommen und beim näheren Betrachten nicht erfüllbar war. Die Zeit lässt sich nicht bezwingen. Irgendwann würde selbst eine Fotografie oder eine Festplatte den Gesetzen der Entropie folgen, dem fortwährenden Zeitfluss unterliegen und zur Asche werden, aus der sie entstammt. Man kann die Zeit nicht anhalten, doch könnte ich sie verlangsamen, in Ruhe betrachten, wenn ich meine Arbeit abgeschlossen habe, dachte ich und weil ich daran glaubte, überlistete ich die Zeit, indem ich sie fotografierte und für eine Weile zum Stillstand brachte, bevor sie in einigen Jahrzehnten weiterfließen würde und die Bilder zum Teil des großen Ganzen würden.
Ich formte eine Serie, die kraftlos war, denn sie war keine, höchstens auf den zweiten Blick
In den letzten Jahren war ich damit beschäftigt, das Gesamtbild der Serie zu formen, die Fotografien zu komplettieren, indem ich meinen Gedanken und meiner Intuition folgte und immer neue Orte aufsuchte mit dem Ziel, alle Puzzleteile zu verbinden, um ein ganzheitliches Resultat zu sehen. Meine Arbeit nahm einen langwierigen Verlauf an. Sie entstand im Prozess der Erinnerung, wie ich sie beispielweise mit dem Koksofen erlebte, der Wiederentdeckung, als ich mir vornahm, meine Geburtsstadt nach langer Abwesenheit zu allen Jahreszeiten wiederzusehen, oder der Erkundung des Ruhrgebiets. Sie entstand durch Beobachtung, die vom Geisteshunger und Interesse am Leben gelenkt wurde und zu guter Letzt durch Teilnahme, die ich erfuhr, wenn ich Menschen traf, die Teile meiner Bildreise wurden. Auf die Weise kamen immer weitere Segmente der Serie zusammen und die Arbeit hievte sich selbst auf ein persönlich-biografisches Fundament.
Meine Fotografien hatten einen dokumentarischen Still, doch ihr biografischer Hintergrund öffnete eine weitere Ebene, die eine einsam anmutende Ästhetik der Distanziertheit in sich verbarg, weshalb ich letztendlich meine Arbeiten in einem Genre-Vakuum ansiedelte. Dieses Vakuum nannte ich „konzeptionelle Dokumentarfotografie“ – doch eigentlich hat die Bezeichnung letztendlich keine Bedeutung. Ich machte Bilder von Orten meiner Vergangenheit sowie des Aufbruchs. Religion, Kultur, Sport, Migration und die industrielle Stadtlandschaft tauchen in der thematischen Oberfläche auf. Meine Fotos sollten Geschichten erzählen und nicht zuletzt auch meine eigene Lebensgeschichte. Vor der Kulisse der abgebildeten Orte und Stadtlandschaften entfalteten sich vor meiner Linse persönliche, gesellschaftliche und universelle Biographien. Ich nahm die Szenen auf und ließ die allbekannten Klischees außen vor, um meinem individuellen Blick Platz zu verschaffen und auf meine eigene Weise vom Dasein im urbanen Raum zu erzählen.
Ich machte die Industriezentren zu Hauptakteuren, stellte sie in den Fokus, doch sie wurden lediglich zur Kulisse meiner fotografischen Auseinandersetzung. Es war eine Auseinandersetzung mit dem, was ich vorgefunden habe, aber vor allem mit mir selbst. Aus den einzelnen Fotos formte ich mehr und mehr eine Serie, aber wurde sie wirklich eine? Ich musste mich selbst ins klare Licht setzen. Der serielle Charakter war schwach erkennbar – höchstens auf den zweiten Blick vielleicht, wenn überhaupt. Woran lag das?
Den Grund vermutete ich vor allem in dreierlei Dilemmas – einem zu hohen Anspruch, den ich an mich selbst stellte, einem zu großen Abstand sowohl im zeitlichen wie im räumlichen Sinne, und in einer unklaren Fokussierung.
Zunächst einmal wollte ich, dass die einzelnen Teile sowohl in der Serie als auch isoliert voneinander eine Geschichte erzählen. Ich wollte zweierlei auf einmal erledigen. Diese Ambition arbeitete gegen den seriellen Charakter, denn jedes Foto, das ich machte, stellte ich über das Gesamtbild, das sich im besten Fall und im Nachhinein von selbst ergeben würde. Diese Einstellung verlangte von mir Selbstvertrauen und zehrte an meinen Kräften und an der Kraft der Serie. Mein Anspruch schien zu hoch, als dass er erreicht werden könnte, und ich müsste mich am Ende meiner Spurensuche überraschen lassen.
Zweitens entstanden die Aufnahmen über einen langgestreckten Zeitraum, an zahlreichen Orten, die auf Außenstehende zusammenhangslos wirken könnten. Sie überbrückten das Zeitliche und den Raum, die Abstände dazwischen waren weit gestreckt. Damit arbeitete scheinbar mein eigenes Konzept von Grund auf gegen den Charakter, den eine Serie ausmachte, gegen die inhaltliche Stringenz, die man erwarten würde. Die Distanzen zwischen den Motiven schienen unüberbrückbar und erneut müsste ich mich am Ende meiner Spurensuche überraschen lassen.
Obendrein konzentrierte ich mich nicht auf die ganzheitliche Erfassung einer Wirklichkeit, viel mehr auf die fragmentarische Erfassung vieler Wirklichkeiten, die im Nachhinein eine geschickte Zusammensetzung verlangen würden, anders würde der serielle Charakter in den vielen Farben und Fragmenten untergehen und so blieb mir nur noch die Hoffnung, ich könnte die Fotos so zusammensetzen, dass die Ebene der Vergänglichkeit mit der Sehnsucht, die sie verursachte und hinter sich zog, in Symbiose mündete. Ich fragte mich, wie ich eine klare Fokussierung erreichen könnte, ohne dass die Überraschung am Ende allzu groß ausfallen würde, etwa wie ein Schriftsteller, der einen Roman schreibt, ohne seine Pointe zu kennen.
Aus meiner fotografischen Auseinandersetzung wurde vielmehr eine Reise durch meine Gedankenwelt, die ich im Querformat festhielt, als dass es eine Serie wurde. Auf dieser Reise verfolgte ich mit meinem Fotoapparat einzelne Sachverhalte, die ich versuchte, in jeweils einer Darstellung detailliert auszuleuchten, aber zeitgleich arbeitete ich am großen Ganzen, dessen Ansicht mich am meisten reizte. Die Arbeit glich einem Spagat oder einem Seiltanz, der zum Balanceakt wurde. Möglicherweise fiel ich und verlor das Serielle in den Weiten der supertotalen und halbtotalen Einstellungsgrößen, die in zu schwacher Semiotik unvereinbar mit den zerstreuten Großaufnahmen wurden, weil sie auf den ersten Blick zusammenhangslos wirkten und keine Gravitation besaßen. Ahnend, dass ich mich verlieren würde, verbarg ich in jedem Foto eine kleine Geschichte oder einen Hinweis, der zusammengesetzt zu meiner essenziellen Botschaft fusionieren konnte, wenn man seine eigene Perspektive justierte, vielleicht auf den zweiten Blick, durch das Prisma der Zeit und mit dem Wissen um die Vergänglichkeit betrachtend. Das klingt kompliziert, ist es aber nicht.
Am Duisburger Rheinufer fotografierte ich zwei Barken, die mit der richtigen Blickrichtung zum bildlichen Synonym der Zeit tendieren. Die Landschaftsszene zeigt das Verharren am Ort sowie den Zeitfluss vor der Kulisse der Ruhrindustrie. Ähnlich auch das nächste Bild – die A40. Ich interessierte mich für sie, weil sie im zeitlichen Sinne gesehen einen langen Atem hatte – eine Voraussetzung des Überdauerns. Die Trasse wurde von Reisenden und Händlern auf ihren Durchquerungen des Ruhr-Lippe-Beckens anskizziert, lange bevor diese ahnen konnten, dass sie irgendwann zur manifesten Auto-Route des Ruhrgebiets wachsen würde. Ich suchte mit meinem Fotoapparat, begab mich nach Dortmund, fotografierte Überreste der Schwerindustrie in Hörde und hielt in einem weiteren Bild fest, wie sich das Leben zu ihren Füßen neu formte, wie der Sport die Zeiten überdauerte, Frauenfußball zur Tagesordnung überging – jetzt, wo der Herzschlag der Ruhrbarone erloschen war und Freizeit und Sport einen neuen Stellenwert bekamen. Hoffentlich schafft man bald die Abseitsregel ab und lässt Männer wie Frauen in gemischten Mannschaften spielen – für die meisten undenkbar, doch wer weiß, was die Zukunft für den eher konservativen Fußball bereithält. Die Stadtlandschaft hatte eine Stimme, die sich wandelte, die man durch das Annehmen einer passenden Perspektive hören konnte.
In Oer-Erkenschwick drückte ich den Auslöser, weil mir die Freude einer Nation zuteil wurde, die alle vier Jahre siegen wollte. Ich hielt fest, wie Deutschland sich mit seiner Nationalflagge brüstete, stolz und aufrecht, Jahr um Jahr ein Stück stolzer wurde, ohne Schuld und Schande vergangener Tage, immer aufrechter vorwärts marschierte – der Ansicht, es waren nicht wir. Die Flagge zeigte Einigkeit und Freiheit und der Sport machte das Unrecht vergessen. Immer wenn ich diese Flaggen sah, musste ich an die Geschichte denken – woher kamen meine Assoziationen?
Die Erinnerung an das, was Deutsche der Menschheit angetan haben, bleibt. Ich zumindest denke öfters daran, als mir lieb ist, und eigentlich müssten andere die Erinnerung wahren. Der unvorstellbare Gräuel fand bekanntlich überall statt – auch in Bielszowice. Andersdenkende, wie Edmund Kokott, wurden auf einer Kastanie vor unserem Bergwerk gehängt und verspottet. Der Bruder meines Großvaters Rudolf oder der Pfarrer Niedziela wurden im selben Jahr deportiert und vergast, gemeinsam mit Hunderten aus unserer Stadt, nur drei Jahrzehnte vor meiner Zeit. Wer waren die Mörder und wo kamen sie her? Ich versuche zu verstehen.
Ich frage einen alten Sportsfreund, der in der Nachbarschaft des Flaggenhauses wohnt, wie er zu seiner Geschichte steht – heute ist er über neunzig. Er antwortet mir, dass Hitler ein guter Mann war, doch er hätte das mit den Juden nicht machen sollen – er war ein guter Mann.
Was bringt der Kniefall eines Kanzlers ohne Einsicht derer, die er vertritt? Brauchen wir mehr Beispiele?
Als ich zur Welt kam, hatte die BRD bereits verdaut. Die Menschen fanden schon in Bern ihren Nationalstolz wieder, dann im kapitalistischen Wirtschaftswunder das Selbstbewusstsein, das fortan expandierte, bis es irgendwann sogar die afrikanische Vuvuzela adoptierte – hoffentlich wird es in Zukunft dabei bleiben. Deutschland ist ein Land, das sich heute um die demokratischen Werte bemüht, sogar gut dasteht im internationalen Vergleich. Was noch fehlt, ist ein Kniefall für jedermann.
Duisburg, Dortmund, Oer-Erkenschwick – keine Fotoserie, nicht auf den ersten Blick. Wer sich auf der Suche nach der Essenz im zerstreuten Sammelsurium meiner Gedanken verliert, der kann meine fotografischen Positionen vor dem Hintergrund der sich permanent wandelnden Zeit und Geschichte ansehen und ihren gemeinsamen Nenner finden – die Vergänglichkeit.
Die Furcht vor der Vergänglichkeit drückte den Auslöser
Bis dahin machte ich mir Gedanken über das Phänomen der Erinnerung, die unerwartet kommen und wie ein Funke ein Feuer anfachen kann. Ich dachte auch darüber nach, wie ich mich entschied, die Hände von bildlichen Vergleichen zu lassen, wie ich den Titel meiner Arbeit änderte, um mehr Freiraum für meine Arbeit zu bekommen. Ich überlegte, dass die Kunst die Gesetze der Thermodynamik nutzte, um Gedanken in Aussagen zu pressen, und dass die Entropie alles Erschaffene verschlingen würde. Ich merkte, dass meine sogenannte Serie vom Wissen um die Vergänglichkeit zusammengehalten wurde und ich wurde das Gefühl nicht los, dass mich möglicherweise die Furcht vor ihr zum Fotografieren bewegte. Fürchtete ich mich vor der Vergänglichkeit? Eigentlich eine existenzielle Frage, wie die nach dem Sinn des Todes oder dem Unsinn des Lebens, doch jetzt war mir die Frage behilflich, den Zusammenhang zwischen mir und meinen Fotos zu klären.
Diese Furcht war der passende Schlüssel zu den Antworten auf die Frage nach der Herkunft meines Schaffensdrangs sowie der Grund meiner Motivation. Sie reiste sozusagen immer mit mir, als Ballast in meiner Fototasche. Ihre Präsenz beeinflusste mich und meine Arbeit. Sie war möglicherweise der Anlass für die Auswahl vieler Fotomotive – das Rathaus, das Hotel und die Frau am Koksiok. Dieses unterschwellig auftretende Gefühl ließ mich spontan samt Fotoapparat losziehen und immer wieder neue, weitere Aufnahmen von mir vertraut gewordenen Orten oder Stadtlandschaften machen.
Meistens erfuhr ich in medialen Ankündigungen oder im Freundeskreis über anstehende Veränderung in der urbanen Landschaft, zum Beispiel geplante Baumaßnahmen, dann wieder eine Stilllegung oder ähnliches. Diese Vergänglichkeiten bescherten mir Schlaflosigkeit, immer wenn etwas Vertrautes in meinem Umfeld zu kippen drohte, eine bestehende Ordnung sich auflöste, verursachte dies – im übertragenen Sinne – einen zähneknirschenden Greifreflex, ein grundlegendes Gefühl aus der Befürchtung heraus, mir könnte etwas, das mir ans Herz gewachsen war, abhanden kommen. Ich verspürte das, was man am besten unter der Bezeichnung „Zeitdruck“ kennt und erkannte, dass Verlustangst in mir schlummert. Ich hing an der Beständigkeit und die Welt um mich war alles andere als beständig.
Eine kleine Erkenntnis
Ich wollte mein eigenes Verhalten ohne einen zu hohen Anspruch auf treffliche Schlussfolgerungen durchblicken. Ich beschäftigte mich mit meiner eigenen Fotografie rein subjektiv, aus Geisteshunger, ohne Ambition, eine allgemeine Wahrheit zu finden. Auf diese Weise mich selbst betrachtend, erkannte ich ein verstecktes Angstgefühl, das an die Fotografie gekoppelt war – es war die Furcht vor dem Verlust. Dieser Zustand erklärte scheinbar die Motivation meiner Fotografie, denn er beeinflusste meine Motivwahl und ihre ästhetische Umsetzung. Die Erkenntnis der Verlustangst als Antrieb meiner Arbeit überraschte mich und ich mutmaßte über ihre Herkunft.
Die Vermutung, ich würde aus Nostalgie handeln und aus Sehnsucht nach der Heimat
Verlustangst – verspürte sie nicht jeder, der sich zu stark gebunden hatte? Nach der Erkenntnis musste ich erst einmal tief Luft holend nach hinten blicken und mich fragen, wann sich so etwas in mich und meine Fotografie eingeschlichen hat.
Ich blickte zurück. Im meinen Kinderzimmer lag ein bunter Ball, aufgeteilt in die Grundfarben Rot, Gelb, Blau, mit der Aufschrift ORWO, dem Monopolisten der Filmherstellung aus der DDR – ich konnte mich gut an ihn erinnern. Meine Rennradmütze und der Kalender in der Küche hatten das gleiche Logo. Früh begann die Freundschaft mit der Fotografie. Meine Mutter zeigte mir ihre Fotokamera, eine russische Zenit und erklärte mir grob ihre Funktion. „Schau mal her, hier kommt das Bild rein“. Klack. „Jetzt ist es drin“. Ich wiederum erklärte ihr, wie sie mich fotografieren sollte: „Warte, ich hole noch den Ball. Hast du ihn drauf?“ Klack. „Oh, der Film ist zu Ende“. Wir wechselten den Film, wieder ORWO – ich lernte spielend. Im Laufe der Zeit nahm sie mich mit in verschiedene Fotostudios, in denen sie tätig war, machte Fotos und zeigte mir alles. Später fuhren wir öfters in das Fotolabor in Gleiwitz, im Ikar-Kaufhaus, wo ich den ganzen Tag im Betrieb verbringen durfte. Ich erinnere mich genau an die Entwicklungskammer und den Raum, in dem Fotofilme wie Wäsche an Wäscheleinen trockneten. Eine Mitarbeiterin, Ola oder Christina, zeigte mir, wie ich mit der Schneidemaschine umgehen sollte, und ich hatte das Gefühl, ein Teil der Produktionskette zu sein, weil ich die fertigen Fotografien zuschneiden durfte, ganz autonom. Automaten – fehl am Platz und das Digitalzeitalter steckte in den Kinderschuhen. Ich war etwa sieben, vielleicht acht, höchstens neun.
Sie fotografierte mich, meine Schwester Monika und den Rest der Familie fast täglich, zu Hause, am Strand oder im Fotostudio und dann entwickelte sie die Filme meistens selbst, manuell und nach der Arbeit. Im Labor benutzte sie Lichtfilter, die bei der Negativvergrößerung mit einem RGB-Farbmischkopf bedient wurden, dann überprüfte sie das Resultat im natürlichen Sonnenlicht, bis der richtige Ton getroffen war – ein Handwerk und eine Kunst des Sehens, die heute nach nur einigen Jahrzehnten kaum noch Anwendung findet. Die Fotos meiner Mutter stützen, konservierten gar meine Erinnerungen der vergangenen Tage und ich lernte, die Vergangenheit zu lieben und schaute sehnsuchtsvoll auf die Fotos, die unsere Vergangenheit darstellten und immer blasser wurden.
Heute verstehe ich mehr darüber, wie Nostalgie und Sehnsüchte ineinander greifen. Sie sind das Resultat von Erinnerungen, sind in die Vergangenheit gewandt und entstehen mit zunehmenden Lebensjahren, selten früher, meist im hohen Alter.
Meine Mutter arbeitete über viele Jahrzehnte als Fotografin, hatte ein geschultes Auge, erkannte jeden falschen Schatten unter einer Nase, der aus einer schönen Frau einen Adolf machen konnte, oder ein zu deutliches Doppelkinn sofort. An den Wochenenden machte sie bis zu drei Fotoreportagen von Veranstaltungen und lichtete in den vielen Arbeitsjahren tausende Gesichter als Porträts in Fotostudios in Wroclaw, Zabrze, Gliwice, Recklinghausen und Herne ab. Ihr Lieblingsmotiv blieb bis heute die Familie.
Vielleicht infizierte sie mich mit dem Virus der Fotografie. Als ich heranwuchs, meldete ich mich zu jedem stattfindenden Fotounterricht an, ich baute mir eine „Kamera Obscura“ und fotografierte mehr oder weniger, ohne eine Ordnung dahinter zu verfolgen, einfach drauf los, Freunde, Haustiere, Autos, wahllos und anarchistisch. Ich scherte mich kaum um Katalogisierung und Aufbewahrung, das kam viel später.
Irgendwann war das passé und hatte sich ausgeknipst. Der Akt des Fotografierens ist seit dem Kunststudium oder spätestens seit der Erinnerung an den Koksofen mehr zum bewussten und gesteuerten Prozess geworden. Das muss dann auch der Moment gewesen sein, in dem die Vergänglichkeit Einfluss auf meine Bilder nahm – ein Einflussfaktor, den ich bewusst lebte, weil ich die Endgültigkeit von Ereignissen verinnerlichte. Meine Arbeitsweise hatte fühlbar an Gewicht zugenommen. Das führte nicht zwangsläufig zum Verlust der Leichtigkeit im Motiv – wie man vermuten könnte – doch ein neuer Ansatz veränderte die Ästhetik der Bilder. Das Knipsen im Affekt, wie ich es bis jetzt praktizierte, ist mehr und mehr einer Planung und dem bewussten Handeln gewichen. Leichtfertiges Knipsen adieu – nicht ganz. Ich hielt mir stets die Möglichkeit offen, ein spontanes Bild aufzunehmen, aus einem fahrenden Auto zum Beispiel, doch selbst dann war das Motiv meistens schon Teil eines im Vorfeld erstellten Grundrisses. So betrachtet ähnelte meine Methodik dem Komplettieren eines Puzzles, dessen Gesamtbild mir vor Augen schwebte, während mir seine einzelnen Komponenten noch fehlten.
Heute verstehe ich mehr darüber, wie Nostalgie und Sehnsüchte ineinander greifen. Sie sind das Resultat von Erinnerungen, sind in die Vergangenheit gewandt und entstehen mit zunehmenden Lebensjahren, selten früher, meist im hohen Alter.
Meine Mutter arbeitete über viele Jahrzehnte als Fotografin, hatte ein geschultes Auge, erkannte jeden falschen Schatten unter einer Nase, der aus einer schönen Frau einen Adolf machen konnte, oder ein zu deutliches Doppelkinn sofort. An den Wochenenden machte sie bis zu drei Fotoreportagen von Veranstaltungen und lichtete in den vielen Arbeitsjahren tausende Gesichter als Porträts in Fotostudios in Wroclaw, Zabrze, Gliwice, Recklinghausen und Herne ab. Ihr Lieblingsmotiv blieb bis heute die Familie.
Vielleicht infizierte sie mich mit dem Virus der Fotografie. Als ich heranwuchs, meldete ich mich zu jedem stattfindenden Fotounterricht an, ich baute mir eine „Kamera Obscura“ und fotografierte mehr oder weniger, ohne eine Ordnung dahinter zu verfolgen, einfach drauf los, Freunde, Haustiere, Autos, wahllos und anarchistisch. Ich scherte mich kaum um Katalogisierung und Aufbewahrung, das kam viel später.
Irgendwann war das passé und hatte sich ausgeknipst. Der Akt des Fotografierens ist seit dem Kunststudium oder spätestens seit der Erinnerung an den Koksofen mehr zum bewussten und gesteuerten Prozess geworden. Das muss dann auch der Moment gewesen sein, in dem die Vergänglichkeit Einfluss auf meine Bilder nahm – ein Einflussfaktor, den ich bewusst lebte, weil ich die Endgültigkeit von Ereignissen verinnerlichte. Meine Arbeitsweise hatte fühlbar an Gewicht zugenommen. Das führte nicht zwangsläufig zum Verlust der Leichtigkeit im Motiv – wie man vermuten könnte – doch ein neuer Ansatz veränderte die Ästhetik der Bilder. Das Knipsen im Affekt, wie ich es bis jetzt praktizierte, ist mehr und mehr einer Planung und dem bewussten Handeln gewichen. Leichtfertiges Knipsen adieu – nicht ganz. Ich hielt mir stets die Möglichkeit offen, ein spontanes Bild aufzunehmen, aus einem fahrenden Auto zum Beispiel, doch selbst dann war das Motiv meistens schon Teil eines im Vorfeld erstellten Grundrisses. So betrachtet ähnelte meine Methodik dem Komplettieren eines Puzzles, dessen Gesamtbild mir vor Augen schwebte, während mir seine einzelnen Komponenten noch fehlten.
Ich legte keinen besonderen Wert auf die Qualität der Ausstattung, benutzte meistens günstigere Reiseobjektive, die ich mir leisten konnte, die aber Randunschärfe, Vignettierung und chromatische Aberration verursachten und nicht besonders lichtstark waren. Mein bestes Objektiv hatte ich verloren, bevor es alt werden konnte. Meinen Motiven hingegen schenkte ich mehr Aufmerksamkeit und betrachtete sie meist mit Sorgfalt im größtmöglichen Bewusstsein. Vielleicht würde ich zukünftig mehr auf meine Ausstattung achten und körnigen Unschärfen adieu sagen, doch bis jetzt war eine gute Ausstattung für mich der pure Luxus. Ich war aus einer Zenit hervorgegangen und jedes auch noch so durchschnittliche Reiseobjektiv übertraf seine Qualität und so kam es, dass ich genügsam wurde.
Die Evaluation meiner Fotografie kann ich recht gut nachverfolgen und nachvollziehen und ich sehe ihre Entwicklung aus den Kinderschuhen bis heute, aber dass sich die Furcht vor der Vergänglichkeit in sie einschlich, lässt in mir eine traurige Vermutung wachsen, dass ich aus Nostalgie und Sehnsucht zu meiner Heimat handelte und vielleicht nicht richtig habe loslassen können.
Ich mutmaßte, ob die Umsiedlung ins Ruhrgebiet mich gezeichnet hatte, so wie es einst Markus andeutete, als ich auf meiner blankpolierten roten Rennmaschine über die Migrationsfolgen von Aussiedlern sprach. War mir bange, mir könnte wieder eine vertraute Welt entgleiten? Fotografierte ich deshalb so, als würde Gott die Welt schon morgen verlassen wollen und ich versuchte, ihn vor seinem Abgang vor die Linse zu bekommen? Versuchte ich, im fotografischen Prozess den Verlust der Heimat zu kompensieren und suchte Beständigkeit? Mir kommt es vor, als wollte ich mit dem Fotoapparat die Vergänglichkeit kompensieren und sie gewissermaßen zum Stillstand bringen, indem ich den Auslöser drückte – so konnte die Zeit eingefroren werden und das starre Motiv würde mir Trost spenden.
Das war ja auch meine Erkenntnis und ich stufte sie als signifikant und stilbildend ein. Möglicherweise war es die DNA meiner Fotos – endlich an der Oberfläche sichtbar, schillernd wie eine dünne Schicht Benzin an der Wasseroberfläche. Die Angst war die Ursache für diesen Bildband, doch jede Ursache hatte eine weitere Ursache, unendlich verschachtelt, und deshalb legte ich meine Fotos noch einmal auf den Leuchttisch – das Rathaus von Marl, das Hotel, den Koksofen – nahm sie in Betracht, dachte nach und erkannte, dass sich hinter der Angst die Zuneigung zum Leben verbarg – simpler konnte die Antwort nicht sein – pure Lebenslust und Wertschätzung dessen, was mich umgab und an dem ich hing.
Ich legte keinen besonderen Wert auf die Qualität der Ausstattung, benutzte meistens günstigere Reiseobjektive, die ich mir leisten konnte, die aber Randunschärfe, Vignettierung und chromatische Aberration verursachten und nicht besonders lichtstark waren. Mein bestes Objektiv hatte ich verloren, bevor es alt werden konnte. Meinen Motiven hingegen schenkte ich mehr Aufmerksamkeit und betrachtete sie meist mit Sorgfalt im größtmöglichen Bewusstsein. Vielleicht würde ich zukünftig mehr auf meine Ausstattung achten und körnigen Unschärfen adieu sagen, doch bis jetzt war eine gute Ausstattung für mich der pure Luxus. Ich war aus einer Zenit hervorgegangen und jedes auch noch so durchschnittliche Reiseobjektiv übertraf seine Qualität und so kam es, dass ich genügsam wurde.
Die Evaluation meiner Fotografie kann ich recht gut nachverfolgen und nachvollziehen und ich sehe ihre Entwicklung aus den Kinderschuhen bis heute, aber dass sich die Furcht vor der Vergänglichkeit in sie einschlich, lässt in mir eine traurige Vermutung wachsen, dass ich aus Nostalgie und Sehnsucht zu meiner Heimat handelte und vielleicht nicht richtig habe loslassen können.
Ich mutmaßte, ob die Umsiedlung ins Ruhrgebiet mich gezeichnet hatte, so wie es einst Markus andeutete, als ich auf meiner blankpolierten roten Rennmaschine über die Migrationsfolgen von Aussiedlern sprach. War mir bange, mir könnte wieder eine vertraute Welt entgleiten? Fotografierte ich deshalb so, als würde Gott die Welt schon morgen verlassen wollen und ich versuchte, ihn vor seinem Abgang vor die Linse zu bekommen? Versuchte ich, im fotografischen Prozess den Verlust der Heimat zu kompensieren und suchte Beständigkeit? Mir kommt es vor, als wollte ich mit dem Fotoapparat die Vergänglichkeit kompensieren und sie gewissermaßen zum Stillstand bringen, indem ich den Auslöser drückte – so konnte die Zeit eingefroren werden und das starre Motiv würde mir Trost spenden.
Das war ja auch meine Erkenntnis und ich stufte sie als signifikant und stilbildend ein. Möglicherweise war es die DNA meiner Fotos – endlich an der Oberfläche sichtbar, schillernd wie eine dünne Schicht Benzin an der Wasseroberfläche. Die Angst war die Ursache für diesen Bildband, doch jede Ursache hatte eine weitere Ursache, unendlich verschachtelt, und deshalb legte ich meine Fotos noch einmal auf den Leuchttisch – das Rathaus von Marl, das Hotel, den Koksofen – nahm sie in Betracht, dachte nach und erkannte, dass sich hinter der Angst die Zuneigung zum Leben verbarg – simpler konnte die Antwort nicht sein – pure Lebenslust und Wertschätzung dessen, was mich umgab und an dem ich hing.
Das Rathaus von Marl auf dem Leuchttisch
Ich habe meine Arbeitsweise distanziert und kritisch untersucht und entdeckt, dass die Endgültigkeit des Vergehens mein innerer Antrieb für die Fotografie war und dass ich von großer Zuneigung für die geistigen Errungenschaften des Menschen gelenkt wurde, vielleicht sogar von der Liebe selbst. Um diese simple Erkenntnis zu manifestieren, beobachtete ich mich selbst und meine Arbeitsweise, dann schrieb ich meine Gedanken auf. Ich rekonstruierte mein Vorgehen und sah unterdessen, wie ich von Eigensinn getrieben samt Fotoapparat loszog, um den Creiler Platz zu fotografieren, auf dem sich ein Gebäudekomplex befand, dessen Gesicht mir mit der Zeit vertraut wurde, und jetzt, nachdem ich irgendwo von seiner anstehenden Sanierung hörte und sein Antlitz sich aufzulösen drohte, ihn ablichten wollte, bevor er sich veränderte. Lange Zeit war nicht klar, ob das Rathaus seinen Bürgern erhalten bleiben würde. Seine Sanierung würde viele Millionen kosten und zudem waren seine Gegner lautstark unterwegs – „Rathaussanierung stoppen!“ – bis vors Gericht. Ich weiß, das kann abwegig klingen, doch ich spürte, dass die Fassaden, die Uhr und die Brunnen am Rathausplatz mir ans Herz gewachsen waren und sich mit mir verwoben hatten und deshalb wollte ich nicht riskieren, kein Dokument ihrer Schönheit, wie ich sie in Erinnerung hatte, zu besitzen. Ich hatte mich an die Ansicht des béton brut, des ehrlichen und rohen Brutalismus gewöhnt, denn ich wurde bereits im Kindesalter mit dem Virus infiziert und hatte Sympathie für diese Bauform entwickelt. Meine Augen sogen an seinen Formen wie an der Muttermilch – es war die Architektur meiner Heimat in meiner Wahlheimat. Ich spürte Empathie für Menschen, die alles taten, um den Erhalt des Rathauses zu sichern, und ich verstand diejenigen, die mit ihrer Umgebung zusammengewachsen waren, aber wahrscheinlich auch jene, die sich in ihr nicht ganz wohl fühlten. Ich wusste, welch wichtige Rolle das Lebensumfeld bei seinen Bewohnern einzunehmen vermag. Ich verstand, wie wichtig die Arbeit der Architekten und Stadtplaner war, wie weit sie in das Leben des Einzelnen hineinreicht und wusste in der Form, die mir begegnete, zu lesen. Ich schätzte und schätze den Idealismus der Nachkriegsmoderne, seine utopische Herangehensweise, seine visionäre Baukunst – puristisch in der Materialwahl und ethisch den sozialen Aspekten verpflichtend, außen schroff und roh, Sichtbeton, Aluminium, Glas, innen fein und geschmeidig sauber, übersichtlich bis elegant – Holz, Marmor, Leder, Palmen, dies alles konnte die Moderne. Das Rathaus überzeugt mich auch durch die großzügige Zwischenraumgestaltung zu den mächtigen Wohngebäuden und dem „Marler Stern“ in seinem Umkreis. Raum für Mensch, Trennung von Leben und Arbeit, viel Grün, Kunst, so die Idee. Eine Stadt für Menschen und Menschen für ihre Stadt, eine Utopie der 1950er-Jahre, dem Antifaschisten und Bürgermeister Rudolf Heiland geschuldet, den Architekten van den Broek und Bakema zu verdanken.
Marl O Man. Das am Reißbrett entworfene Zentrum erinnerte mich an meine Kindheit im Ostblock, an die Bauten der dortigen Moderne, die nach Stalins Tod und der Überwindung des sozialistischen Realismus wie ein frischer Windzug über die Köpfe der Architekten hinwegzog. Die Pilzdachkonstruktion der Marler Rathaustürme erinnerte mich – es war wieder die Erinnerung, die mich heimsuchte – an den Kattowitzer Bahnhof und seine Kelchkonstruktion der 16 Betonpilze, die als geometrisches Beton-Schalenkonstrukt die Trägerfunktion an diesem funktional eingerichteten Gebäude übernahmen. Anders als dem Rathaus erging es der Kattowitzer Bahnhofshalle. Die Investoren und Stadtplaner bekamen den Bahnhof unter ihre Fittiche und bestimmten ihn für die Abrissbirne, die ihn ins Jenseits beförderte, bevor ich ihn fotografieren konnte. Das schmerzte. Es gab viele solcher Orte, die einen Wert für mich hatten, zu denen ich aber keinen Zugang hatte, von denen ich wusste, dass sie bald das Zeitliche segnen würde. Angeblich stand die Halle bereits unter Denkmalschutz, als dies geschah. Den Fehler würde ich nicht noch einmal machen – meiner bewahrenden Verlustangst sei gedankt. Die Marler Bauvisionen der 1960er-Jahre musste ich ablichten, waren sie doch wie die aus meiner Jugend, wie die Kattowitzer Supereinheit des Architekten Mieczysław Król mit ihren 762 Wohnungen für nahezu 3.000 Menschen und der Danziger Falowiec, der als 850 Meter lange Plattenbauwelle für 6.000 Menschen konzipiert wurde. Das Rathaus entsprach sowohl dem schöpferischen Geist der Spodek – der fliegenden Untertasse, die nie flog – gebaut für 11.000 Besucher, mit einer Estrade für Sport, Musik und Tanz, wie z. B. das Ensemble des Friedrichstadt-Palasts aus Ostberlin, das ich schon als Fünfjähriger dort bestaunen durfte, als auch dem grünweißen Dinosaurier – ein Hotel, der Bleistiftspitze von Tadeusz Łobos entsprungen. Diese Gebäude verkörpern den modernistischen Geist im Bau und ihr Anblick erinnert mich an die Gegenwart der ewig fließenden Zeit und an die Vergänglichkeit. Die Erinnerungen an die großartigen Architekturlandschaften weckten die Lust zur Spurensuche in mir.
Nach mehr als 50 Jahren ihrer Existenz sehe ich in den Landschaften der Moderne immer noch eine Städteplanung im Dienst des Menschen, genau das, was wir brauchen, doch bemerke ich auch die Schattenseiten, die sich vor allem bei der Wohnraumplanung zeigten. Der damalige Wohnungsbau spielte durch seinen Gigantismus und seine Übergröße der menschlichen Entfremdung und der städtischen Anonymität in die Arme – den eigentlichen Visionen seiner Zeit entgegengesetzt. Sozialdemokratisch oder sozialistisch geboren, entsprangen die Bauten einer gesellschaftlich-politischen Ideologie, aber vor allem der Notwendigkeit des Teilens im rasant stattfindenden Aufschwung der Nachkriegszeit. Paradoxerweise, trotz Unterdrückung der Religion im Ostblock, waren sie einer durch und durch christlichen Doktrin entsprungen – einer Doktrin, welche die Grundlage für das Überleben menschlicher Gesellschaften bildete – des Teilens.
Teilen bedeutete also, seine Tage in hunderten übereinandergestapelten Wohneinheiten zu verbringen. Gestern wie heute wird Wohnraum meist von denen geteilt, die gezwungen sind, ihn zu teilen. Das Christliche des Teilens scheint aktuell mehr eine marginale Stellung einzunehmen, denn Teilen wird mehr und mehr als Zweck und Zwang begriffen, aus dessen Raster diejenigen herausfallen, die es sich leisten können, nicht zu teilen. Um diesen Gedanken abzuschließen: Ich hoffe, dass Broek und Bakema ihre Häuser mit anderen geteilt haben, vielleicht besaßen sie sogar mehrere. Ich frage mich, wie genau hielten es die städtischen und politischen Entscheidungsträger, die Vorstände der Zechen und Kombinate des Ostens und Westens mit dem Teilen, wenn es um sie selbst ging. Ich wünschte mir, sie handelten vorbildlich, doch über dem Gedanken an die wunderbare Architektur der Nachkriegsmoderne schwebt immer eine Note der moralischen Unruhe – vor allem über ihrem Wohnungsbau. Nichtsdestotrotz – man kann ihr aus heutiger Sicht nicht absprechen, ihren Dienst für eine gute Gesellschaft vernachlässigt zu haben, und was die Entfremdung des Menschen anbelangt, so nimmt sie weiter exponentielle Ausmaße an, an die die mangelhafte Wohnraumplanung der 1960er- und 70er-Jahre nicht annähernd heranreichen kann, und aus diesem Grund hat diese Architektur noch nicht ausgedient, sondern ist im Gegenteil wichtiger denn je.
Die Nachkriegsmoderne tendiert dazu, ein Mahnmal gegen Faschismus und für ein Miteinander der Kulturen zu werden – ein Mahnmal für Vielfalt. Meine Begeisterung wurde ihr zuteil, weil sie mir zeigt, dass überall meine Heimat sein kann, und so lud sie mich immer wieder ein, ihre wahre Größe aufs Neue zu entdecken. Ob als sakrales Haus Gottes, Hallenbad oder Sporthalle aus den fetten Kohlejahren von Marl oder aus den Aufbruchsjahrzehnten des Ostblocks nach 1953 – dominant und couragiert stand das, was sie hervorbrachte, für jene Grundwerte, die für eine gesunde und zufriedene Gesellschaft stehen könnten – gegen Egoismus, für Gerechtigkeit, für Solidarität und Freiheit, gegen Rassismus, für Gesundheit und Bildung, für eine Wirtschaft im Dienst der Menschen und nicht umgekehrt, sozial, utopisch und offen für die Zukunft. Ihre Bauten waren und sind Symbol für die Beständigkeit des Großen im Menschen und als solches sollten sie die Zeiten überdauern.
Die Voraussetzung dafür ist, dass wir sie respektierten und vor dem Zerfall und dem Abriss schützen, denn der raue Beton ist witterungsanfällig und zieht schnell die Ungunst seiner Betrachter nach sich.
Als ich erfuhr, dass das Rathaus saniert wird, wollte ich dringend noch ein Foto machen. Ich hatte nichts gegen ein Facelifting, denn Sanierungen erhalten den Zustand und sind in der Regel sinnvoll – die Zeit nagte am Beton. Das Rathaus steht unter Denkmalschutz, also alles gut, ruhig bleiben, aber das alte Gesicht des Creiler Platzes sollte als Erinnerung dienen, wie eine Postkarte, die man seinen Lieben aus dem Ostseeurlaub heimschickt, weil es doch so schön war – nur für den Fall, dass der Visagist das Makeup zu stark auftragen würde und ich den Platz nicht wiedererkennen könnte. Es spielt für mich keine Rolle, ob in den Weiten des Virtuellen bereits tausende Bilder vom Rathaus gespeichert waren, denn für mich war es wichtig, dass die Fotos meiner Vorstellung entsprangen, und als ich den Platz fotografierte, wollte ich, dass sich das Motiv anfühlt, als hätte ich es einer Postkarte entnommen oder so ähnlich zumindest.
Ein bloßes Dokument des Objekts in seiner Zweidimensionalität war mir nicht genug, so suchte ich die geeignete Perspektive, wartete die Lichtstimmung ab und verwandelte meine urbane Landschaft in das, was ich zum späteren Zeitpunkt sehen wollte. Bevor ich abdrückte, trat ich jedesmal in Interaktion mit meiner Umwelt, fast kontemplativ, und setze ihr meinen persönlichen Spiegel vor – diesmal wartete ich, bis sich die Konstellation der sich auf dem Platz befindenden Menschen der meiner Vorstellung anglich, bevor ich auslöste – wie die Bildsprache eines Postkartenmotivs mit dem Charme einer vergangenen Sehweise.
Am Leuchttisch wird mir klar, dass ich von der reinen Dokumentarfotografie abdriftete, dem eigenen ästhetischen Empfinden zuliebe. In meinen Fotos war nichts zweckgebunden. Sie entstanden in Bestimmungsfreiheit. Es gab keinen Redakteur, der mir auf die Finger schaute, keinen Geldgeber, der meine Zeitplanung diktierte, keine Muster, die ich zwanghaft kopieren wollte. Es gab keinen anderen Sinn für meine Arbeit als den, den ich mir selbst erfand. Wenn ich ein Foto als Postkarte definieren wollte, die ich mir imaginär aus der Vergangenheit in die Zukunft sandte, dann tat ich dies. Eigentlich war ich sehr einsam in dem, was ich tat, und so wurde der Taktgeber meine Zuneigung zu einer schwer ergreifbaren Beständigkeit. Sie war der Dokumentartist in mir, der ohne Pflichtbewusstsein, jedoch mit Wertschätzung für das Fotomotiv arbeitete. Ich fotografierte das Rathaus und die Uhr davor und Rechenschaft legte ich ausschließlich vor mir selbst ab und das machte mich und meine Fotografie frei, aber äußerst einsam.
Hotel Silesia
Den Dinosaurier fotografierte ich im gleichen Jahr wie das Rathaus von Marl. Von den Siebzigern bis in die Neunziger gehörte das Gebäude zum Katowicka-Stadtpanorama so selbstverständlich dazu wie die Supereinheit der 762 Wohnungen, die Spodek als Veranstaltungsort nebenan und die Luft zum Atmen – später wurde das Gebäude für manche ein Dorn im Auge, für andere Grund zur Nostalgie und zum Sehnsuchtsobjekt. Früher, als ich die grünweiße Keramik-Fassade tagsüber im Sonnenschein ansah, erinnerte sie mich an die schuppige und glänzende Haut eines Reptils. Mitte der 2000er-Jahre wurde das Hotel geschlossen. Zwischenzeitlich diente es als Werbefläche und man konnte zeitweise eine riesige grünweiße Kefirflasche auf dem Gebäude sehen. Einst undenkbar, war es doch eine gute Adresse der Kategorie LUX, ein luxuriöses Etablissement, ein Smaragd mit hohem Standard, vom Bauministerium ausgezeichnet, das Gebäude und sein Projektant Ing. Tadeusz Łobos. Wechselstube für ausländische Besucher. Unter den Hotelgästen auch die deutsche Nationalelf.
An der Rezeption drei Chronometer – Nowy Jork, Warszawa, Tokio. In der ersten Etage ein Kosmetiksalon und ein Friseur der atemberaubenden Dauerwellen. Außerdem ein Pewex – Waren gegen grünweiße Dollar, und angeblich ein Klub mit Striptease, ein Cafe, drei Konferenzsäle, eine Antik- und Kunstgalerie, ein Restaurant. Hier stiegen die Größen der Filmbranche, Sportler, Politiker und Businessleute ab. Ich fand heraus, dass hier bereits Krzysztof Penderecki, Kazimierz Kutz, die Enkelin Korfantys, der Noblist Josif Brodski, Czesław Miłosz, Jerzy Maksymiuk, Kwaśniewski, Charles Aznavour und Andrzej Wajda und nicht zu vergessen und zu guter Letzt Ronald, mein alter Freund aus Szombierki, beherbergt wurden. Der Dinosaurier beherbergte Prominenz und nicht nur die, denn – nicht zu vergessen – er war der sozialistischen Idee entsprungen und dementsprechend war auch seine Einstellung.
Im neuen Millennium kamen die Gäste seltener. Das Gebäude wurde marode und seine Verwalter konkurrenzmüde. Die Menschen tratschten. Manche sagten, dass der Eigentümer, das Orbis Polish Travel Office, absichtlich Misswirtschaft betreiben würde, um das Grundstück inmitten von Kattowitz zu verkaufen, andere bedauerten, dass man nach der Schließung des Hotelcafé nirgends mehr einen so guten Käsekuchen bekommen würde, nie mehr – mein Gott! Der Dinosaurier vegetierte und wurde mehrmals samt Grundstück an verschiedene Gesellschaften weitergereicht – an jedem Tratsch war anscheinend etwas Wahres dran. Sowas passiert über die Köpfe hinweg, während man an den guten Käsekuchen denkt. Währenddessen machten Journalisten und Blogger Schlagzeilen:
„Silesia wird abgerissen! Wann hört es auf, das Zentrum zu verschandeln?“
Oder: „Moloch wird abgerissen. Das Symbol der Vergangenheit löst sich auf. Ein Luxussymbol in der Zeit der Volksrepublik – Silesia verschwindet Stück für Stück“.
Oder hier: „Es gab mal ein Hotel. Dies ist die bittersüße Geschichte eines grünen Ungeheuers namens ‚Schlesien‘“.
Manche schüttelten den Kopf, andere nickten zustimmend und wenn es vorbei ist, kommt das Bedauern, oh, was war das schön damals.
Als ich nach Jahrzehnten meiner Abwesenheit eines Herbstabends das Silesia sehe, schaue ich einem sterbenden Dinosaurier in die Augen. Sein Innenleben war seit dreizehn Jahren verstummt – kein Besucher und kein Käsekuchen mehr, doch die Fassade stand aufrecht. Zum Schluss wurde sein Inneres verscherbelt, denn es soll von Wert gewesen sein. Ein bedauernswertes Ende. Ich fotografierte ihn. Ich dachte daran, was sein Projektant, seine Assistenten und die vielen Künstler und Handwerker, die einst an seiner Fertigung arbeiteten, über die ganze Sache denken würden, und warum Menschen einer Epoche in parteilicher, feierlicher Manier und posaunend das rote Band zur Eröffnung durchschneiden und wiederum andere nach nur einem halben Menschenleben es mit Baggern im Namen des Fortschritts und Wachstums niederreißen. Den Architekten können wir dazu nicht mehr befragen. Vielleicht ist es besser so, denn was sollte er schon sagen?
Vielleicht: „Ist nicht schlimm, Martin, den Londoner Crystal Palace von Paxton im viktorianischen Baustil hatte es weitaus schlimmer getroffen, es war das Feuer, das wütete, und ganz zu schweigen von Minoru Yamasakis postmodernem World Trade Center, den bärtige Fanatiker auf dem Gewissen haben. Wenigstens haben wir es geschafft, das Mobiliar zu verscherbeln, und es ist niemandem auch nur ein Haar gekrümmt worden. Bleib ma‘ locker!“
„Silesia wird abgerissen! Wann hört es auf, das Zentrum zu verschandeln?“
Oder: „Moloch wird abgerissen. Das Symbol der Vergangenheit löst sich auf. Ein Luxussymbol in der Zeit der Volksrepublik – Silesia verschwindet Stück für Stück“.
Oder hier: „Es gab mal ein Hotel. Dies ist die bittersüße Geschichte eines grünen Ungeheuers namens ‚Schlesien‘“.
Manche schüttelten den Kopf, andere nickten zustimmend und wenn es vorbei ist, kommt das Bedauern, oh, was war das schön damals.
Als ich nach Jahrzehnten meiner Abwesenheit eines Herbstabends das Silesia sehe, schaue ich einem sterbenden Dinosaurier in die Augen. Sein Innenleben war seit dreizehn Jahren verstummt – kein Besucher und kein Käsekuchen mehr, doch die Fassade stand aufrecht. Zum Schluss wurde sein Inneres verscherbelt, denn es soll von Wert gewesen sein. Ein bedauernswertes Ende. Ich fotografierte ihn. Ich dachte daran, was sein Projektant, seine Assistenten und die vielen Künstler und Handwerker, die einst an seiner Fertigung arbeiteten, über die ganze Sache denken würden, und warum Menschen einer Epoche in parteilicher, feierlicher Manier und posaunend das rote Band zur Eröffnung durchschneiden und wiederum andere nach nur einem halben Menschenleben es mit Baggern im Namen des Fortschritts und Wachstums niederreißen. Den Architekten können wir dazu nicht mehr befragen. Vielleicht ist es besser so, denn was sollte er schon sagen?
Vielleicht: „Ist nicht schlimm, Martin, den Londoner Crystal Palace von Paxton im viktorianischen Baustil hatte es weitaus schlimmer getroffen, es war das Feuer, das wütete, und ganz zu schweigen von Minoru Yamasakis postmodernem World Trade Center, den bärtige Fanatiker auf dem Gewissen haben. Wenigstens haben wir es geschafft, das Mobiliar zu verscherbeln, und es ist niemandem auch nur ein Haar gekrümmt worden. Bleib ma‘ locker!“
Oder er würde sagen: „Herr Janczek, verstehen Sie nicht? Die Zeit ist ein Ungeheuer, das sich selbst in den Schwanz beißt. Sie nimmt sich das, was sie hervorgebracht hat, auf ihre Weise und lässt sich von keinem sagen, wie sie es zu machen hat, ob als religiöser Fanatiker, Spekulant, Investor oder in ihrem natürlichen Zustand, als Entropie, als Moose, Flechten und die wütenden Elemente. Die Zeit kippt jede Ordnung. Was dachten Sie denn? – Sie Idiot!“
Vielleicht würde er aber auch sagen: „Geschmack ist erlernbar“, und dass wir unser Erbe pflegen sollten, da es uns Beständigkeit, Stabilität und Weisheit bringen kann, alles Dinge, die wir als rasante Gesellschaft jetzt dringender denn je brauchen, um uns selbst nicht aus den Augen zu verlieren. Er würde sagen: „Wir müssen unsere Väter besser verstehen, denn sie sind in uns und wir in ihnen“, und dass wir denken sollten, bevor wir handeln.
Ich hatte es eilig und es ist spät geworden. Mein Stativ hatte ich nicht mit, also lehnte ich den Apparat seitlich an eine Laterne und konservierte den architektonischen Kadaver mehr schlecht als recht auf meine Weise. Wahrscheinlich würde Łobos sagen, ich solle sorgfältiger arbeiten und überhaupt alle Architekten würden das Gleiche sagen. Arbeite sorgfältiger und hör auf deinen Vater, pjerona, zum Donnerwetter! „Aber ich hab doch so schlechte Objektive“.
Der letzte Bus fuhr ohne mich und ich musste zu Fuß in meine Unterkunft wegen der Palme, die ich zwanghaft versuchte, ins Bild zu bekommen, während der Bus nicht auf mich wartete – Palmen bekamen meine Aufmerksamkeit, denn sie waren Symbole für Sehnsucht, und die Kohle unter meinen Füßen war aus ihnen hervorgegangen. Am nächsten Tag hatte mein Vater Geburtstag, daher wollte ich Oberschlesien schnellstmöglich verlassen und ins Ruhrgebiet zurückkehren.
Einige Monate danach verließ der Dinosaurier endgültig und unumkehrbar die Kattowitzer Stadtlandschaft. Er war ein vertrauter Zeitgenosse im urbanen Raum, in dem zunehmend die Glasfassade dominierte. Jetzt sah ich ihn nur noch auf meinen Leuchttisch, spürte seinen Geist und überlegte, wieso ich ihn nicht …
Nachtrag zur Erkenntnis
Die Vergänglichkeit war also mein Ansporn, weil sie unumkehrbar das Vertraute verschlang. Das Gefühl von Irreversibilität löste einen Greifreflex aus und ich bewahrte das Vertraute und das, was mich beschäftigte, vor dem Vergessen, indem ich auf den Auslöser drückte. Ich mutmaßte über den Grund dafür und suchte in meiner Migrationsgeschichte. Ich musste tief in mich blicken und lange meine Fotografien anschauen, bis ich erkannte, dass sich dahinter weniger Ängste verbargen, vielmehr die Lebenslust und Zuneigung zu Menschen und zu dem, was sie erschufen – Gefühle liegen eben oft sehr eng beieinander, sind miteinander verwoben und nicht immer klar trennbar. Ich fotografierte aus Wertschätzung der geistigen Errungenschaften, der kleinen wie der großen, und mich interessierte der Wandel, der sie betraf. Es war der Ausdruck meiner Hinneigung zur Welt der Liebe, die man in die Wiege gelegt bekommen hatte, zusammen mit der Gabe der Beobachtung. Meine Migration und die Verlustangst waren gute Lückenbüßer in meiner Selbstanalyse, waren sicherlich nicht unbeteiligt, doch würde ich gewiss auch ohne Migrationsgeschichte im Nacken das Rathaus und den grünweißen Dinosaurier bestaunen, ob mit oder ohne Fotoapparat, weil ich ein Ästhet bin und hinter einer bloßen alten Fassade das Wesentliche suche, das sich im Geist offenbarte, auf den zweiten Blick.
Nachwort – Beständigkeit ist nicht greifbar
Ich wollte auf meinen Fotos die Zeit festhalten, die A40 – Lebensader einer Region, den Sport als ihr Herzschlag, der dem Wandel trotzt, den Duisburger Rhein als den Lauf der Zeit selbst. Ich fotografierte die Heilige Barbara im Glauben an den Glauben, den Menschen in sich tragen und der sie trägt. Ich begab mich zu den Orten der Arbeit, die ihrem Zweck entweiht waren und fand dort Splash, Palmen und Chamäleons vor.
Meine Spurensuche hat ein Ende gefunden, die Angst vor der Vergänglichkeit, die ich anfangs verspürte, hat sich mit jedem Foto, das ich machte, mehr und mehr in Mut gewandelt. Gegenwärtig blicke ich der Zukunft direkt entgegen. Die Nostalgie ist fort und vergessen, die Sehnsucht ans Ende der Welt geschickt zu den Palmen, dem Meer und der Brise – Dinge, denen ich lange abschwor in asketischer Selbstdisziplin. Ich bin wieder offen. Ich habe fotografiert, um das Vertraute und die Beständigkeit zu finden.
Die Fotografie war mein Detektor, nicht mehr als ein Werkzeug, das eigentlich beliebig austauschbar ist. Ich habe das Vertraute und die Beständigkeit in der Außenwelt gesucht, aber in mir gefunden. Die Beständigkeit war so beständig wie eine Seifenblase. Weil sich die Zeit nicht festhalten ließ, zerplatzte sie immer wieder wie ein Traum beim Aufwachen. Deswegen beschließe ich, aufzubrechen und eins mit der Welt zu werden, um mich um ihre Achse zu drehen, statt sie beharrlich anzustarren – die Welt, die sich im Aufbruch befindet, wird mir von nun an zuteil werden – vielleicht folge ich dem Rat meiner Tochter und fahre nach Funafuti, wo die Infrastruktur so winzig ist wie die Quantenmechanik von Atomen.
Tuvalu klingt wie das Gegenstück zu meinen gedanklichen Querungen – vielleicht das letzte fehlende Puzzleteil, ein Gedanke, der mich woanders hinführt – ich finde den Ratschlag nicht schlecht – das wird mich jetzt beschäftigen.
Doch ich habe bereits meinen Sinn gefunden und es ist einerlei, wo ich hingehen werde. Ich fand das Essenzielle des Lebens, weil ich meiner inneren Stimme folgte wie den Spuren im Schnee, bevor sie schmolzen. Zuerst ging ich dorthin, wo ich herkam, nach Hause, weil in mir die Sehnsucht glühte wie der Koks im Koksofen – nach Jahren immer noch nicht erloschen. Das führte mich zum Friedhof meiner Ahnen und zu meinem Urgroßvater Paul, der mich an seinem Grab zurechtgewiesen hat – wohin wir gehen und dass Abschied und Loslassen wichtig seien. Er sagte zu mir, wenn ich weiß, woher ich komme und wohin es geht, dann kenne ich den Sinn, und dann noch: „Jerona! Marcin … idź już na Honolulu krowy paść i nie nerwuj“ – pedzioł mi. Also: „Donnerwetter, Martin … geh nach Honolulu, Kühe melken, und geh mir nicht auf die Nerven” – hat er mir gesagt.
Als ich damals zuhause in Bielszowice angekommen war und er mich zurechtwies, fand ich zwar kein Heim mehr, aber voller Erleichterung die glühenden Koksöfen aus meiner Erinnerung wieder. Sie waren so präsent wie sie nur hätten sein können, wirklicher als jede Realität, mehr wie einem Traum entnommen. Als ich einige Jahre später das Rathaus von Marl fotografierte, wusste ich bereits, dass das Glühen, das mich beschäftigte, überall auffindbar war, grenzüberschreitend, wenn man wollte, wenn man es verstand, hinter die Fassaden zu blicken und in der Form der Dinge zu lesen und die Zeit und den Zeitfluss verstand.
Das, was sich hinter dem Koksofen verbarg, war der simple Gedanke, dass sich irgendwo, irgendwann jemand darum kümmerte, dass es anderen Menschen warm war, während sie auf den Bus warteten – ein Gedanke, der in mir überdauerte, denn er war warm und menschlich. Das war das, was sich entgegen allem Anschein sowohl hinter den schroffen Fassaden des Brutalismus verbarg als auch dem leeren Blick des grünweißen Dinosauriers in Kattowitz beiwohnte, tausend Kilometer weiter in einer Parallelwelt.
Tacheles gesprochen – es geht um das geistige Erbe sowohl im Kleinen eines Koksofens wie im großen Maßstab einer visionären Stadtlandschaft – es geht um den Geist, seine Transzendenz und das Licht, das er ausstrahlt, und sein Wesen, das gleichermaßen in der äußeren Welt wie im Spiegel in einem selbst leuchtet. Ich erblickte es, indem ich das suchte, was Söhne von Vätern erben können, wenn sie ihnen aufmerksam gegenübertreten und horchend beobachten – nicht unbedingt gehorchend. Ich konnte es sehen, weil ich mich für den Prozess der fortschreitenden Zeit interessierte und für das geistige Erbe.
Ich schließe ab. Ich habe meine Fotos und schaue auf sie wie auf Spuren im Schnee – wenige Minuten Belichtungszeit auf insgesamt 252 Fotos – gewiss, dass sie früher oder später schmelzen werden, wenn es wärmer wird. Jetzt bin ich im Klaren über die Endlichkeit ihrer Motive, ihrer selbst und meiner. Ich habe lange nach hinten geschaut, um Luft zu holen für den Blick in die Zukunft. Jetzt, wo ich abschließe, kann und will ich vorwärts blicken und mahnend feststellen, dass Menschen ihr Erbe zu pflegen haben, weil sie auf diese Weise ihren Nachfahren Beständigkeit, Stabilität und Weisheit schenken, Werte, die sie zukünftig dringend brauchen werden, damit sie sich nicht aus den Augen verlieren, wenn es drauf ankommt. Die Marler haben richtig gehandelt. Unterdessen können sie, wenn es nötig sei, ihre gemeinsamen Wurzeln wiederfinden und auf sie zurückblicken, weil sie auf die Größe ihrer Vorfahren vertrauen können – wie ich am Grab eines Urgroßvaters. Wenn das nicht mehr geht, dann gibt es noch den Glauben, dessen grenzenlose Größe von vielen unterschätzt wird, von denen, die auch die Kraft der Erinnerung unterschätzen. Ich kann mich glücklich schätzen, erkannt zu haben, dass eine Heimat keine Grenzen braucht, weil man sie in sich trägt als Glaube an sie. Heimat kann überall sein – in Kattowitz, Marl oder auf Funafuti, wenn man bereit ist, hinter die Fassaden zu blicken, um das Wesentliche zu entdecken. Für diese Erkenntnis musste ich mich auf eine Suche begeben, im Glauben, dass ich das finde, was mir fehlte. Wie ein herrenloser Hund in Loyalität und Zuneigung zur Welt komplettierte ich meine Fotos zu einer Serie, die keine war. Wie hoffnungslos sind die, die ihre Heimat in Abschottung und Abgrenzung suchen.
Jetzt ziehe ich ein Resümee, eine beflügelnde Beichte, dem Eindruck nahe, nicht wirklich klüger geworden zu sein, aber eine Lichtgestalt im Nebel erkannt zu haben. Es freut mich sehr, dass die Handschrift, die meine Fotos tragen, nicht von Verlust geprägt ist, denn meine Fotos stellen sich über das traurige Gefühl von Nostalgie. Ich verstehe jetzt, dass meine Motivation die vergehende Zeit an sich war, jene Metaebene, die Menschen zu Handlungen aller Arten bewegt.
Für dieses simple Erkennen dachte ich über die Zeit nach bis hin zur Sinnlosigkeit: Was würde die Welt ohne die Zeit sein? Undenkbar. Wie sollte sie aussehen? Chopin würde ewig spielen, Adolf würde ewig brüllen, ich würde nie aufhören zu schreiben? Mein Auslöser würde nie schließen. Ohne sie gäbe es uns nicht. Unsere Mütter würden uns nicht gebären, und wenn doch, so würde der Schmerz nie vergehen, wir würden Chopin und van Gogh nicht zu würdigen wissen und es gebe unendlich viele Zeitebenen, die einzeln für sich existieren oder auch nicht, denn sie würden nicht mehr Zeitebenen heißen können, weil es die Zeit ja nicht gäbe. Bestehende Ordnungen würden ewig andauern oder ewig zerfallen. Ad absurdum – den Urknall hätte es nie gegeben, Rolex gäbe es auch nicht. Naturwissenschaftler würden fortwährend über meine gedanklichen Ansätze schmunzeln. Ich weiß, so könnten höchstens das Paradies und die Ewigkeit aussehen, aber nicht unsere profane Welt mit dem, was sie uns bietet. In dieser Welt kann nur der Geist ewig überdauern. Nur der Geist besitzt die Eigenschaft, in Dinge zu schlüpfen und andere Formen anzunehmen. Nur der Geist kann ewig leben. Von Vätern an Söhne weitergereicht, von Söhnen in Schrift und Form gebracht und in der Zeit festgehalten, ist der Geist das eigenartigste Wesen, das mir je begegnete – in der Architektur, Literatur, Musik, in der Kulturlandschaft und am Ende der Welt in Recklinghausen oder Herne. Der Geist ist der Kosmos, der sich selbst zu verstehen versucht. Wenn etwa Einstein oder Hawkins oder meine Großmutter über den Kosmos grübelten, so war das, als würde der Kosmos über sich selbst nachdenken, denn wir sind das Universum und das Universum ist in uns. Denn wir sind durch ihn und mit ihm und in ihm, im Namen des Vaters und des Sohnes und des Geistes, jetzt und in Ewigkeit.