Heimate

Kapitel V

Mein Motiv und die Vergänglichkeit

„Mein Motiv und die Vergänglichkeit“ ist in erster Linie eine Erläuterung meiner Fotografie. Es sind Gedanken über die Sehnsucht nach Beständigkeit, über die Endgültigkeit von Ereignissen, über Erinnerung. Es ist eine Selbstbetrachtung im Spiegel meiner Heimaten und ein Standpunkt zum Wandel der Zeit, aber auch eine Suche nach ihrem Geist, die in einer persönlichen Neuerfindung mündet.

Vor­wort

Ich woll­te sie auf mei­nen Fotos fest­hal­ten, um sie in Sicher­heit zu brin­gen: Die hei­li­ge Bar­ba­ra und ihre Schütz­lin­ge, Jesus Chris­tus, ster­ben­de Dino­sau­ri­er, Kraft­wer­ke und rohes Beton – all das fand ich vor, wenn ich foto­gra­fier­te – sie waren wie Spu­ren im Schnee und droh­ten, bald unsicht­bar zu wer­den. Des­halb beschloss ich, ihnen zu fol­gen. Die Welt rings­um befand sich im Auf­bruch – Splash, Cri­cket, Pal­men, Cha­mä­le­ons – doch anstatt mit­zu­ge­hen, dach­te ich ans Bewah­ren, woll­te Bestän­dig­keit aus dem Gefühl der Angst vor der Ver­gäng­lich­keit, aus Nost­al­gie, aus Furcht, das Ver­trau­te zu ver­lie­ren und vor der End­gül­tig­keit des Todes – immer zurück­bli­ckend und sel­ten nach vorn. Ich inter­es­sier­te mich für den Pro­zess der fort­schrei­ten­den Zeit, die Entro­pie, für das geis­ti­ge Erbe und vor allem für die Kraft der Erin­ne­rung, die sogar die Zeit selbst aus­zu­trick­sen ver­moch­te und der Ewig­keit und dem Para­dies glich, weil sie sich nicht an die irdi­schen Regeln und Geset­ze zu hal­ten schien. Ich such­te in Sehn­sucht das Sein, den Sinn und folg­te mei­ner inne­ren Stim­me, wie man Spu­ren im Schnee vor der Schmel­ze folgt – unge­wiss. Ich such­te das, was ein Sohn vom Vater erben kann, wenn er ihm auf­merk­sam gegen­über­tritt und lauscht und zuschaut. Unter­des­sen ent­deck­te ich mei­ne Wur­zeln und die Weis­heit, dass eine Hei­mat kei­ne Gren­zen braucht. Weil ich eine tie­fe Zunei­gung für die Welt emp­fand und stark an sie gebun­den war, ver­spür­te ich Zeit­druck, denn ich konn­te die Zeit spü­ren und sah den Zeit­fluss. Sie fühl­te sich bedroh­lich an, als Feind des Bestän­di­gen. Des­halb muss­te ich etwas fin­den, das einen Wert über das Leben hin­aus hat­te. Auf die­se Wei­se lern­te ich sowohl in klei­nen Din­gen und Ges­ten wie auch in gro­ßen Errun­gen­schaf­ten ande­rer Gene­ra­tio­nen das Wesent­li­che zu fin­den. Es war etwas, das eigen­ar­tig schön war, denn es war robus­ter als alle Mate­ria­li­en und gleich­zei­tig zer­brech­li­cher als das Herz – es war der Zeit­geist, der sogar sei­ne Schöp­fer über­le­ben konn­te. Das Wis­sen um ihn und sei­nen Zer­fall eröff­ne­te die Zukunft vor mir und ließ mich Teil der Welt wer­den, die mich umgab. Ich fand den Sinn, den ich ver­lor, und stand wie­der im Leben, umhüllt von Licht, ließ alles zurück, allen vor­an die Furcht vor der End­gül­tig­keit von Ereignissen.

Ich woll­te doch nur eine schlich­te Foto­se­rie her­vor­brin­gen, wäh­rend­des­sen erwuchs aus einem klei­nen Geis­tes­blitz und mei­ner Lei­den­schaft zur Foto­gra­fie ein lan­ges und sper­ri­ges Gedan­ken­ge­bil­de, durch des­sen Dickicht ich selbst nicht ganz durch­blick­te. Die Zusam­men­stel­lung der Fotos und die Beweg­grün­de ihrer Ent­ste­hung sind rät­sel­haft, selbst für mich, doch ich merk­te vage und unde­fi­niert, dass sie etwas mit Zeit zu tun hat­ten, denn Foto­gra­fie hat­te immer etwas mit Zeit zu tun – vor allem aber, wenn man sie ernst nahm. Streng genom­men hat alles, was wir ken­nen, mit der Zeit zu tun, denn ohne sie gäbe es kein Beginn und kein Ende und nichts dazwi­schen, somit könn­te ich doch nichts falsch machen, wenn ich über sie schrieb, son­dern höchs­tens etwas lernen.

Aus der Not­wen­dig­keit der Ent­wir­rung des­sen, was mög­li­cher­wei­se unter der Ober­flä­che mei­ner Fotos schlum­mert, suche ich nun gedank­li­che Ori­en­tie­rung und Annä­he­rung an mein eige­nes Vor­ge­hen und des­halb reflek­tie­re ich im Schrei­ben die­ses Kapi­tels das, was ich mit dem Foto­ap­pa­rat fest­ge­hal­ten habe.

In die­sem Teil ver­su­che ich, mei­nen Gedan­ken frei­en Lauf zu las­sen, denn sie sol­len den Gegen­stand mei­ner Arbeit und mich selbst erfor­schen wie eine Schlan­ge ihre Umge­bung inspi­ziert, all die Fotos, die jetzt vor mir lie­gen, die ich auf glei­che Wei­se gemacht habe – durch Beob­ach­tung und Erfor­schung. Ich wer­de mei­ne Gedan­ken auf­zeich­nen wie ich die Fotos auf­zeich­ne­te, dann zu einem Foto­es­say bin­den und anse­hen – doch jetzt ken­ne ich die Poin­te nicht und ich weiß nicht, ob es eine geben wird.

Etwa vor einem Jahr­zehnt begann ich, mei­ner inne­ren Stim­me zu fol­gen – Jah­re, die im Rück­blick nicht län­ger als eine ver­gan­ge­ne Weih­nacht vol­ler Emo­tio­nen daher­kom­men. Als ich so rück­wärts­ge­wandt mei­ne Fotos reflek­tier­te, wur­de mir klar, dass die Zeit das eigent­li­che The­ma der Serie ist und ich nur dafür foto­gra­fier­te, um sie für mich sicht­ba­rer zu machen, so wie man sei­ne grau­en Haa­re im Spie­gel sehen kann. Die­ser Wil­lens­zug über­rasch­te mich selbst, denn anfangs woll­te ich ledig­lich zwei Regio­nen gegen­über­stel­len, und in der Tat, das mach­te ich auch, doch die Fotos betrach­te­te ich jetzt durch das Pris­ma der Zeit.

Immer wie­der ver­su­che ich, mir selbst auf den Grund zu kom­men – wer könn­te es sonst – habe ich mich doch in mir selbst ver­steckt, und kaum jemand kennt die Absich­ten des­sen, was ich in mei­ner Arbeit ver­fol­ge. Zu Beginn bezeich­ne­te ich mei­ne Arbeit – zuge­ge­ben etwas schwam­mig for­mu­liert – als „Par­al­lel­wel­ten – Eine foto­gra­fi­sche Spu­ren­su­che“, denn mei­ne Absich­ten all­ge­mein betrach­tend woll­te ich anfangs dem Men­schen und sei­ner Kul­tur im urba­nen Raum auf die Spur kom­men. Auf­grund mei­nes bio­gra­fi­schen Ver­laufs erschien mir eine geo­gra­fi­sche Ein­gren­zung auf zwei Regio­nen nahe­lie­gend und sinn­voll und so foto­gra­fier­te ich im Ruhr­ge­biet und in Ober­schle­si­en. Aus heu­ti­ger Sicht, im Moment des Resü­mees, den­ke ich, dass mei­ne Arbeit eine Spu­ren­su­che geblie­ben war und ihr gegen­wär­ti­ges Erschei­nungs­bild eine deut­lich sicht­ba­re Sil­hou­et­te auf­weist. Es ist das Resul­tat eines Dia­logs zwi­schen mir und mei­ner Umwelt, der mit­tels Foto­ap­pa­rat geführt wur­de. Es ist das Ergeb­nis einer per­sön­li­chen Spu­ren­su­che zwi­schen zwei Wel­ten, die geo­gra­fisch gese­hen nicht weit aus­ein­an­der­lie­gen, wäre da nicht die ver­ge­hen­de Zeit, wäh­rend man gera­de orts­ab­we­send war.

Eine Erin­ne­rung mit Folgen

Zuerst kam die Erin­ne­rung. Wel­che Kraft Erin­ne­run­gen ent­fal­ten kön­nen, ver­ges­se ich immer, bis sie mich uner­war­tet tref­fen. Sie sind Magi­er des men­ta­len Wie­der­erle­bens. Sie ermög­li­chen Zeit­rei­sen, ohne dass wir außer ihnen etwas dafür benö­ti­gen. Dank unse­rer Erin­ne­run­gen kön­nen wir aus der Gegen­wart in ver­schie­de­ne Ver­gan­gen­hei­ten zurück­schlüp­fen. Beson­ders gut funk­tio­nie­ren sie, wenn wir unse­ren Kör­per zum Ort eines Ereig­nis­ses aus der Ver­gan­gen­heit zurück­brin­gen und wir ihn dort Rei­zen aus­set­zen, die er in der Ver­gan­gen­heit bereits ken­nen­ge­lernt hat. Damit kön­nen wir eine Erin­ne­rung ver­stär­ken, doch meist sind sie auch ohne phy­si­sche Rück­kehr zum Tat­ort stark genug – so stark wie die eines Traums – und wir kön­nen ein altes Ereig­nis von jedem belie­bi­gen Ort der Erde wie­der­erle­ben – selbst aus dem All könn­ten wir jeder­zeit in Licht­ge­schwin­dig­keit an den gedeck­ten Abend­tisch unse­res Eltern­hau­ses zurück, das es viel­leicht schon gar nicht mehr gibt. Erin­ne­run­gen machen etwas mög­lich, das in der phy­si­ka­li­schen Zeit­theo­rie lan­ge als abso­lut aus­ge­schlos­sen galt. Sie ermög­li­chen näm­lich, dass das glei­che Ereig­nis mehr­mals statt­fin­den kann. Erin­ne­run­gen kön­nen will­kür­lich und unwill­kür­lich sein, erwar­tet oder uner­war­tet kom­men – sind an Geruchs­emp­fin­dung, Berüh­run­gen oder opti­sche Rei­ze gebun­den. Ich bin der Mei­nung, dass der Zau­ber der Erin­ne­rung all­ge­mein gese­hen von den meis­ten Men­schen unter­schätzt wird – oder nicht voll­stän­dig wahr­ge­nom­men – oh, ich muss noch einkaufen!

Vor etwa einem Jahr­zehnt begann ich, ers­te Fotos für mei­ne soge­nann­te Serie zu machen. Dem vor­aus­ge­gan­gen war eine Erin­ne­rung der unwill­kür­li­chen und uner­war­te­ten Art – nichts Beson­de­res, könn­te man mei­nen, aber eben uner­war­tet und mit Fol­gen. Einen Tag vor Weih­nach­ten des Jah­res 2008, in Gedan­ken ent­flammt, erin­ner­te ich mich blitz­ar­tig an einen arg fros­ti­gen ober­schle­si­schen Win­ter, den ich als Jun­ge mit­er­leb­te, sah mich selbst an einer Bus­hal­te­stel­le ste­hen, an einem glü­hen­den Koks­ofen. Von einem Moment auf den ande­ren konn­te ich sei­ne Wär­me deut­lich spü­ren und vie­le Details wahr­neh­men, so als wäre ich gera­de dort, Details, zu denen ich lan­ge kei­nen Zugang mehr hat­te, die mir sonst ver­bor­gen blie­ben. Selbst die tau­en­den Schnee­flo­cken auf mei­nen erhit­zen Wan­gen, die ihren Aggre­gat­zu­stand inner­halb weni­ger Sekun­den drei­mal ver­än­der­ten und sich eine nach der ande­ren als Dunst in die ober­schle­si­sche Luft misch­ten, waren wie­der leben­dig und spür­bar nahe – wo Schnee ist, da sind auch Spu­ren. Die­se Erin­ne­rung hat­te sich ver­mut­lich gut in mei­nem Gedächt­nis kon­ver­giert, denn ihrer Qua­li­tät nach muss­te sie tief in mein Inners­tes ein­ge­brannt sein. Irgend­wann am Küchen­herd zwi­schen dem Duft der weih­nacht­li­chen Fisch­sup­pe, die ich gera­de koch­te, und im Ziga­ret­ten­dunst wur­de ein ver­gan­ge­ner Win­ter, der bis dahin in men­ta­ler Dun­kel­heit schlum­mer­te, wie­der leben­dig. Die­ser glü­hen­de Kok­siok aus geschweiß­ten Eisen­stä­ben, der an der Bus­hal­te­stel­le neben dem Fried­hof stand, tat es mir ganz beson­ders an und plötz­lich hat­te ich das Gefühl, den Luft­zug des glü­hen­den Koks hören zu kön­nen, so wie das Feu­er atmet, damit es nicht erlischt.

Bis dahin dach­te ich, die Koks­öfen schon längst ver­ges­sen zu haben, wenn man das über­haupt so sagen kann, denn sie waren ein­fach nicht aus mei­nem Gedächt­nis her­aus auf­ruf­bar. Jetzt, am vor­weih­nacht­li­chen Abend, tauch­ten sie uner­war­tet wie aus dem Nichts auf – um Luft zu holen, ver­mut­lich – waren in mei­ner Erin­ne­rung jetzt so prä­sent wie die Fisch­köp­fe im Sup­pen­topf vor mir.

Damals, Anfang der Acht­zi­ger, wur­de Win­ter um Win­ter, meist im Dezem­ber, ein Koks­ofen nach dem ande­ren an den ober­schle­si­schen Bus­hal­te­stel­len und Bahn­hö­fen auf­ge­stellt. Ob in Zabrze, Bytom oder eben in Biel­s­zowice, Pend­ler und Rei­sen­de konn­ten sich an ihnen auf­wär­men, wäh­rend sie auf den Bus war­te­ten. Damals, als ich bei 30 Grad unter Null von der Schu­le heim­wärts ging, tat ich genau dies. Ich mach­te eine Rast an der Bus­hal­te­stel­le, dräng­te mich und mei­nen Schul­ran­zen durch die war­ten­den Pas­sa­gie­re bis zum Koks­ofen her­vor und beob­ach­te­te vom wär­men­den Mit­tel­punkt aus das Gesche­hen rund­her­um. Ich sah, wie gro­ße Bier­fäs­ser in den Kel­ler der Schän­ke Uciecha, also „Freu­de“, neben­an roll­ten und wie tau­meln­de Män­ner die­se ver­lie­ßen und auf der rut­schi­gen Trep­pe das Gleich­ge­wicht ver­lo­ren. Ich konn­te mei­nen Fri­seur Alfred Jon­da, dem nach­ge­sagt wur­de, dass er sich einen geneh­mi­gen muss­te, damit sei­ne Hän­de beim Schnei­den nicht zit­ter­ten, und sei­ne Assis­ten­tin­nen, die meis­tens mei­ne Haa­re schnit­ten, durch das Schau­fens­ter sei­nes Fri­seur­sa­lons beob­ach­ten. Neben der Schän­ke hat­te auch der Stadt­fo­to­graf Wik­tor Gaj­da sein Stu­dio und durch sein Schau­fens­ter konn­te man auch ihn sehen, wie er sei­ner Arbeit nach­ging, wie er sei­ne Kli­en­ten bat, hin­ter einen schwe­ren Vor­hang zu tre­ten – Herr Gaj­da, der uns zu allen wich­ti­gen Gele­gen­hei­ten ablich­te­te – die Tau­fen, Ein­schu­lun­gen, Hoch­zei­ten und selbst die Beer­di­gun­gen. Von hier aus hat­te ich den Überblick.

Ich schau­te zum Fried­hof und zu den För­der­tür­men hin­über. Mit prü­fen­dem Blick sah ich die dre­hen­den Räder und die Seil­win­den der bei­den alten Schäch­te an, die nicht all­zu tief – drei­hun­dert oder vier­hun­dert Meter – unter Tage reich­ten, ein Zei­chen, dass die Stadt leb­te, denn das Berg­werk war ihr Herz­stück. Es konn­te sein, dass mein Vater gera­de im Schacht steck­te und über Tage beför­dert wur­de und wenn ich hier noch etwas war­te­te, könn­te ich ihm begeg­nen – übri­gens hat­te das Werk fünf oder sechs Schäch­te, Belüf­tungs­schäch­te, Per­so­nen­be­för­de­rungs­schäch­te, Koh­le­schäch­te und eigent­lich konn­te ich nur ver­mu­ten, wel­chen mein Vater gera­de nahm.

Auf den Boden neben dem Koks­ofen fie­len die glü­hen­den Ziga­ret­ten­stum­mel der Rei­sen­den, die bereits in den 23er oder den 7er aus Zabrze Hbf. ein­ge­stie­gen waren. Heim­ge­hen­de Schü­ler haben die noch glim­mern­den Stum­mel auf­ge­ho­ben und genüss­lich wei­ter­ge­raucht, nur Jun­gen und meis­tens aus der Hilf­ka, der Hilfs­schu­le. Über­all an den Gie­beln hin­gen Eis­zap­fen her­un­ter – die größ­ten an der Wasch­kaue, dort wo der Was­ser­dampf durch eine undich­te Stel­le ent­wich – viel­leicht war es auch nicht die Kaue, son­dern ein Sanitätshaus.

Die Koks­öfen – mir gefie­len sie, eben­so wie der Gedan­ke, dass sich irgend­wo, irgend­wann jemand dar­um küm­mer­te, dass es ande­ren Men­schen warm ist, wäh­rend sie auf den Bus war­te­ten. Das war wirk­lich prak­tisch und ich frag­te mich, ob es die­se frü­he­re, gän­gi­ge Manier noch gäbe und wenn ja, wie lan­ge noch und wo … und wer steck­te dahin­ter, doch die Ant­wor­ten waren nicht ver­füg­bar, weder in mir, noch in mei­ner Umge­bung. Ich merk­te, dass mich mei­ne eige­nen Fra­gen in eine schat­ti­ge Sack­gas­se trie­ben, weil ich sie nicht auf Anhieb beant­wor­ten konn­te und so wur­de mir die Ver­gäng­lich­keit der Zeit zum Begriff, ganz außer­or­dent­lich und fast unheim­lich. Ich bin mei­ner Hei­mat zu lan­ge fern geblie­ben. In der dama­li­gen, mich heim­su­chen­den Erin­ne­rung aus mei­ner Kin­des­stu­be lag der Ursprung aller Fotos, die ich spä­ter mach­te, denn sie waren die Fol­ge eines Ereig­nis­ses am weih­nacht­li­chen Vor­abend, das mich dazu brach­te, einer Fähr­te nach­zu­ge­hen, der ich gefühlt im Halb­schlaf folg­te wie ein Schlaf­wand­ler dem Mond. Die Spur führ­te mich zurück nach Hau­se und zum Fried­hof mei­ner Ahnen.

Heu­te fra­ge ich mich, ob es einst auch im Ruhr­ge­biet die­se „Koks­öfen“ gege­ben hat, ich mei­ne, in der Zeit, bevor ich nach Deutsch­land kam. Über die­se Art ewig bren­nen­der Fra­ge­stel­lung beschloss ich zu Beginn mei­ner foto­gra­fi­schen Rei­se, die indus­tri­el­len Revie­re des Ruhr­ge­biets und Ober­schle­si­ens bild­lich gegen­über­zu­stel­len. Ich woll­te mit mei­nen Foto­gra­fien einen schlich­ten Regio­nal­ver­gleich machen, zum Bei­spiel eine archi­tek­to­ni­sche Gegen­über­stel­lung von Mala­kow-För­der­tür­men oder einen Ver­gleich reli­giö­ser Ritua­le, wie die Pro­zes­sio­nen zu den Wall­fahrts­or­ten St. Anna­berg in der Nähe von Tar­no­witz und Sankt Anna­berg in Hal­tern, oder den 4. Dezem­ber als Tag des Berg­manns. Ich dach­te, dass die schwer­indus­tri­el­le Ent­wick­lung der ver­gan­ge­nen Jahr­hun­der­te aus geschicht­li­cher Sicht sowohl in Ober­schle­si­en wie im Ruhr­ge­biet Hand in Hand ver­lau­fen sein muss und die­se Annah­me sporn­te mich zu einer Spu­ren­su­che im kul­tu­rel­len Raum an – es war eine Idee, die spä­ter in den Hin­ter­grund gerückt ist, aber die Erin­ne­rung hat­te die Sache schon ins Rol­len gebracht und es dau­er­te etwa ein Jahr, bis ich im Win­ter 2010 für eine Wei­le nach Biel­s­zowice aufbrach.

Alles in allem nahm ich die Arbeit an der Serie als eine freie Ent­schei­dung, die einem inne­ren Drang des Schaf­fens ent­sprang, doch woher kam das Inne­re und war­um zerr­te es an mei­nem Arm? Wie frei mei­ne Ent­schei­dung wirk­lich war, kann ich nur ver­mu­ten, las­se die Gedan­ken schwei­fen und schrei­be um der Ant­wort wil­len, um eine Klä­rung über mei­ne Moti­va­ti­on zu bekom­men, denn mich über­kommt der etwa­ige Ver­dacht, ich wür­de aus Nost­al­gie gehan­delt haben, aus Sehn­sucht nach mei­ner Hei­mat, die mir etwas zuflüs­tern woll­te, doch alles, was mit Nost­al­gie zu tun hat, wür­de unver­nünf­tig sein, denn sie unter­drück­te das Gegen­wär­ti­ge, das Hier und Jetzt, und das ent­sprach nicht ganz mei­nem Selbstbild.

Den Gedan­ken der puren Gegen­über­stel­lung der bei­den Indus­trie­zen­tren schob ich in den Hin­ter­grund, als ich die ers­ten Fotos betrach­te­te, denn ich bemerk­te, dass ich mit mei­nen Bil­dern etwas ande­res ver­folg­te, von dem ich noch nicht genau wuss­te, was es war. Eines aber war sicher – das Foto­gra­fie-Vor­ha­ben war das Resul­tat mei­ner per­sön­li­chen Bio­gra­fie und ent­flamm­te in mir gemein­sam mit der Erin­ne­rung an einen längst ver­gan­ge­nen Win­ter, an einem vor­weih­nacht­li­chen Abend, wäh­rend ich kochte.

Die Abkehr von regio­na­len Vergleichen

Im ober­schle­si­schen Biel­s­zowice gebo­ren, ver­brach­te ich dort die prä­gends­ten aller Lebens­jah­re und sie­del­te dann als Elf­jäh­ri­ger ins Ruhr­ge­biet um. Ein abrup­ter Lebens­wech­sel zwi­schen zwei Indus­trie­re­vie­ren, zwei Wer­te­sys­te­men, zwei Spra­chen, zwei Län­dern mit einer sich kreu­zen­den Geschich­te. Eine Lebens­um­stel­lung, die ver­mut­lich bewirk­te, dass sich mit dem Her­an­wach­sen Fra­gen anhäuf­ten, die ich bald mit einem behag­li­chen und zum Teil kri­ti­schen und distan­zier­ten Blick durch mein Objek­tiv betrach­ten wür­de, um ihnen auf den Grund zu gehen. Prompt begann ich mit einem foto­gra­fi­schen Ver­gleich der bei­den Bal­lungs­räu­me. Die­ses Vor­ha­ben nann­te ich „Par­al­lel­wel­ten“, weil ich dem „Pott“ und dem schle­si­schen Revier einen Spie­gel ihrer selbst vor­hal­ten woll­te, sie in Bil­dern gegen­über­stel­lend hoff­te ich auf Ant­wor­ten, Über­blick und Klar­heit – auch mich selbst betref­fend. Mit der Zeit merk­te ich, dass nicht nur mei­ne Mit­tel begrenzt waren, son­dern auch, dass der Titel mei­nen Spiel­raum ein­grenz­te, weil er nicht das vol­le Spek­trum mei­ner Inten­ti­on aus­schöpf­te und zudem irre­füh­rend war. Er wür­de zu schnell mit Sub­kul­tu­ren oder Unter­wel­ten in Ver­bin­dung gebracht und das wäre nicht das, was ich wie­der­ge­ben woll­te. Am Ende wür­de man mei­ne Arbeit mit einem Lost Places-Bild­band ver­wech­seln, einer Foto­gra­fie, die ein Lob­lied auf Rui­nen hält, wäh­rend ich nie­mals aus dem kul­tu­rel­len Unter­gang egal wel­cher Kul­tur Pro­fit schla­gen wol­len wür­de. Viel­leicht wür­de man auch sozi­al­do­ku­men­ta­ri­sche Foto­gra­fie dahin­ter ver­mu­ten, was mei­ner tat­säch­li­chen Linie schon etwas näher käme, jedoch nicht nahe genug, weil mei­ne Arbeit so ein­zig­ar­tig und per­sön­lich war, wie sie nur sein konn­te, kei­ne Vor­bil­der hat­te und in kei­nem mir bekann­ten Gen­re behei­ma­tet war. Ich und mei­ne Geschich­te stan­den im Vordergrund.

Die Par­al­le­len der Regio­nen ent­pupp­ten sich als zu ver­zwickt, als dass ich sie mit mei­nen geschicht­li­chen und foto­gra­fi­schen Kennt­nis­sen Außen­ste­hen­den hät­te zugäng­lich machen kön­nen – ich war und bin kein His­to­ri­ker oder Sozio­lo­ge, viel­leicht nur durch­schnitt­lich als Foto­graf, eher ein Beob­ach­ter. Ich muss­te mich fra­gen, ob es über­haupt Sinn mach­te. Man stel­le sich vor, man woll­te Ber­lin und Paris oder Madrid mit­ein­an­der ver­glei­chen. Wel­chen Sinn hät­te das? Gut, viel­leicht unter einem spe­zi­el­len Aspekt wie dem der städ­te­bau­li­chen Ent­wick­lung oder dem gesell­schaft­li­chen Befin­den der Städ­te, aber nüch­tern betrach­tet sind die­se Städ­te in ihrer Kom­ple­xi­tät unver­gleich­bar und des­halb tra­gen sie ja auch ver­schie­de­ne Namen. Sie sind so viel­schich­tig wie die Welt selbst und im Grun­de genom­men unvergleichbar.

In mei­ner Foto­se­rie blieb nur der Ansatz eines Ver­gleichs sicht­bar, denn mit­ten­drin brach ich ab und begann umzu­den­ken, so in etwa als mei­ne Toch­ter gebo­ren wur­de. Es war gut so, denn ich folg­te jetzt mei­ner inne­ren Stim­me und mei­ner Intui­ti­on und nicht einem prag­ma­tisch anmu­ten­den Gedan­ken­mus­ter. Man stel­le sich vor, ich hät­te jah­re­lang mei­ne alte Hei­mat mit einem neu­en Lebens­raum ver­gli­chen – ein Alb­traum, denn das Los­las­sen ist Vor­aus­set­zung eines jeden Auf­bruchs in die Zukunft und macht per­sön­li­che Ent­wick­lung erst mög­lich. Aber es soll­te noch eine Wei­le dau­ern, bis ich ver­ste­hen wür­de loszulassen.

Je län­ger ich an der Serie arbei­te­te, des­to kla­rer wur­de mir die­ser Umstand. Zudem bemerk­te ich, dass sich die Ant­wor­ten, die ich erwar­te­te, in mir selbst befan­den. Eigent­lich war es einer­lei, wohin ich mein Objek­tiv rich­te­te. Solan­ge ich mich im Ruhr­ge­biet oder in Ober­schle­si­en befand, war ich immer in mei­nem Revier und somit auf der rich­ti­gen Fähr­te und ich fühl­te mich frei, den Aus­gangs­punkt mei­ner Idee umzu­len­ken von außen nach innen in die Welt der Refle­xi­on und Gedan­ken. Ich sah von direk­ten Ver­glei­chen ab und kon­zen­trier­te mich zuneh­mend auf eine intui­ti­ve Spur, die mich zu den Men­schen und ihrem Lebens­um­feld und vor allem zu mir selbst führ­te. Mei­ne foto­gra­fi­sche Her­an­ge­hens­wei­se war durch die­se Umstel­lung per­sön­li­cher gewor­den – es war mein eige­nes Lebens­um­feld, in dem ich mich beweg­te, und so behan­del­te ich es auch. Trotz aller Umstel­lung wir­ken mei­ne eige­nen Bil­der beim heu­ti­gen Betrach­ten distan­ziert und nüch­tern auf mich. Ich glau­be, nicht zuletzt des­halb, weil ich mich mit der Zeit weit von mei­ner schle­si­schen Hei­mat ent­fernt hat­te und gleich­zei­tig nicht stark genug im Ruhr­ge­biet behei­ma­tet war – ein Schwe­be­zu­stand ohne kla­re Iden­ti­fi­zie­rung und Zuge­hö­rig­keit, dem ich zeit­wei­len aus­ge­setzt war und der mich glau­ben ließ, ich wäre hei­mat­los – nicht über­trie­ben ein Zustand, der so quä­lend wie das Fege­feu­er sein muss.

Den Gedan­ken des regio­na­len Ver­gleichs ließ ich irgend­wann völ­lig im Hin­ter­grund schwei­fen, immer deut­li­cher die Zei­chen der Zeit und der Ver­gäng­lich­keit ergrün­dend. Ich such­te Moti­ve aus mei­ner eige­nen Lebens­ge­schich­te, mich inter­es­sier­te aber auch der Wan­del der Zeit und ihres Geis­tes und Moti­ve, in denen die­ser sich offen­bar­te. Ich ver­folg­te intui­tiv Spu­ren und als ich mich immer mehr nach mei­nem Emp­fin­den rich­te­te, fand ich sowohl das Ein­fa­che und Schö­ne wie das Kurio­se und Unschlüs­si­ge vor. Vor allem fand ich mei­ne Hei­mat wie­der, am Ende der Welt, dort wo ich sie nicht vermutete.

Der neue Titel

Den alten Titel habe ich ent­sorgt. Jetzt wur­de ein neu­er not­wen­dig, eine Über­schrift, die mei­ne Arbeit treff­li­cher beschrei­ben wür­de. „Gedan­ken im Quer­for­mat“ – der neue Titel ergab sich ohne Anstren­gung. Mei­ne bevor­zug­te For­mat­wahl war die Hori­zon­ta­le, denn das Quer­for­mat gab der urba­nen Land­schaft das, was ihr gehör­te, näm­lich Raum in der Hori­zon­ta­len. Ich foto­gra­fier­te quer oder bes­ser gesagt quer­durch und drauf­los, jedoch immer mit einem intui­tiv gespon­ne­nen Plan. Mit der Zeit hat­te ich immer mehr Gedan­ken zu den ein­zel­nen Foto­mo­ti­ven notiert. Zuerst kur­ze Tex­te, nach und nach län­ge­re Gedan­ken und Asso­zia­ti­ons­ket­ten, aus denen bild­be­glei­ten­de Geschich­ten wur­den. Jedes Foto hat­te sei­ne ein­zig­ar­ti­ge Geschich­te, die dar­auf war­te­te, auf einem wei­ßen Blatt Papier fest­ge­hal­ten zu wer­den. Der neue Titel war so quer wie ich selbst, wie eine Fisch­grä­te im Hal­se, denn ich steck­te quer im Rachen, so als wüss­te die Welt nicht, ob sie mich her­un­ter­wür­gen oder aus­spu­cken woll­te, und ich frag­te mich, wohin ich ging, war­um ich foto­gra­fier­te oder bes­ser gesagt, wohin ich foto­gra­fier­te – viel­leicht sind es die mitt­le­ren Jahre.

Als ich mich für den neu­en Titel ent­schied, dach­te ich mir, dass der Blick jun­ger Men­schen vor­wärts gewandt sei, wäh­rend sich der der Älte­ren rück­wärts in die Ver­gan­gen­heit rich­tet. Die meis­ten Men­schen in mei­nem Alter sind Quer­se­her, weil sie sich im tem­po­rä­ren Zen­trum ihres Lebens befin­den – vor­aus­ge­setzt, die Glo­cke hat noch nicht für sie geschla­gen. Sie rich­ten ihren Blick und Gedan­ken mal rück­wärts in die Ver­gan­gen­heit, mal nach vorn und dann wie­der vor die eige­nen Füße in der Gegen­wart – wenn sie etwas haben, auf das sie sie rich­ten kön­nen. Der neue Titel gab mir viel Raum zum Den­ken – zuvor fühl­te ich Befan­gen­heit, jetzt wur­de ich freier.

Ich begann, das Bild zu for­men, um die Zeit zu überlisten

Mit­te der neun­zi­ger Jah­re arbei­te­te ich einen Som­mer lang bei einem Bild­hau­er, einem gewis­sen Hein­rich Brock­mei­er in Reck­ling­hau­sen, ein Mensch der gro­ben, groß­zü­gi­gen Bron­ze­skulp­tu­ren – so war ihr Duk­tus. Ich glau­be, ein Bild­hau­er soll­te über ein Maß an Groß­zü­gig­keit ver­fü­gen, ansons­ten wür­den sei­ne Wer­ke klein­lich und unbe­deu­tend wie Hasel­nüs­se wir­ken. Beim Brock­mei­er schau­te ich mir das Wachs­aus­schmelz­ver­fah­ren genau­er an. Ich ging ihm zur Hand und arbei­te­te mit Zuta­ten wie Zie­gel­mehl, Gips, Was­ser, Ton, Wachs, Bron­ze, Sili­kon, allen vor­an Schweiß in der Som­mer­hit­ze und half bei der Form­ge­bung sei­ner Figu­ren. In einem bewuss­ten Pro­zess, von der Idee über ein Kon­zept bis hin zur Fer­tig­stel­lung, mach­te er etwas, das aus Men­schen­sicht für die Ewig­keit bestimmt war. Das sehr robus­te Mate­ri­al konn­te, ein­mal in Form gebracht, Jahr­hun­der­te, gar Jahr­tau­sen­de über­dau­ern – wie erstaun­lich das ist, weiß jeder, der schon mal eine hun­dert Gene­ra­tio­nen alte römi­sche Bron­ze­mün­ze in der Hand hielt oder Scher­ben ver­gan­ge­ner Kul­tu­ren aus dem Sand hol­te, viel­leicht um sie zu bewahren.

Ein­mal wöchent­lich fuh­ren Brock­mei­er, sein Assis­tent Ecki und ich in die Gel­sen­kir­che­ner Metall­gie­ße­rei Sep­pelf­ri­cke, um unter enor­mem Tem­pe­ra­tur­ein­fluss sei­nen Ideen eine greif­ba­re Gestalt zu geben. Die im Ate­lier ange­fer­tig­ten Guss­for­men stell­te ich dort in Gefä­ße, die ich mit Koh­len­staub füll­te. Dann stampf­te ich den Staub mit einem schwe­ren Eisen­stab so lan­ge, dass er hart wie Stein die Guss­for­men umschlang, sodass die­se wäh­rend des Gus­ses nicht zer­spran­gen. Danach floss das flüs­si­ge Metall hin­ein, ergoss sich im Leer­raum, die Luft­bla­sen ent­wi­chen durch ange­fer­tig­te Kanä­le – wir woll­ten kei­nen Schwei­zer Käse her­stel­len und hat­ten es auf Lang­le­big­keit abge­se­hen. Sei­ne Ideen nah­men Gestalt an, doch bevor ich die Skulp­tu­ren aus den For­men lösen durf­te, lie­ßen wir sie noch tage­lang in einem Ofen ruhen und bei gerin­ger Wär­me lang­sam abküh­len – es war das, was man in der Foto­gra­fie als Fix­a­tiv bezeich­nen wür­de, was die Bot­schaft kon­ser­vier­te, weil es dem Werk die ent­spre­chen­de Ver­fes­ti­gung durch Bil­dung der idea­len Metall­git­ter­struk­tur ver­lieh, und es war das, was mir eine unbe­küm­mer­te End­be­ar­bei­tung mit Ham­mer und Trenn­schei­be erlaub­te. Seit­dem sind meh­re­re Jahr­zehn­te ver­gan­gen – sei­ne Gebil­de ste­hen stramm im öffent­li­chen Raum. Den Legie­run­gen sieht man ihre Kor­ro­si­on durch die Zeit nicht an – bis auf ein gele­gent­li­ches oxid­grü­nes Kolo­rit, das auf­tritt, weil sie eine Bei­mi­schung von Kup­fer haben und wie alles ande­re dem Zeit­fluss aus­ge­setzt sind.

Men­schen hin­ter­las­sen Spu­ren, wol­lend oder unwis­send, kon­zen­trie­ren ihre Gedan­ken, bal­len ihre Ener­gie, um sie in Aus­sa­gen oder Bot­schaf­ten umzu­wan­deln – stel­len sich förm­lich auf den Kopf dafür. Sie selbst ent­spran­gen der Ener­gie, dem Licht alle­samt dem, was sie umgibt und dem, das wir als Leben aner­ken­nen und dar­über hin­aus. Das, was dem Licht ent­sprang, samt unse­rem Selbst und des­sen Errun­gen­schaf­ten, ist unum­kehr­bar und end­gül­tig der Entro­pie aus­ge­setzt, einem Pro­zess der Ver­än­de­rung, der all das, was aus der Asche ent­sprang, zu Asche und Staub wer­den lässt. Die Mensch­heit und der blaue Pla­net sind die größ­ten Zufäl­le der Ther­mo­dy­na­mik, oder das Meis­ter­werk eines genia­len Uhr­ma­chers, der das unglaub­lichs­te Uhr­werk erschuf, weit und breit ein­zig­ar­tig, über jede mensch­li­che Vor­stel­lungs­kraft hin­aus. Das, was uns umgibt, ist das Ergeb­nis eines prä­zi­sen Hand­wer­kers, der anschei­nend mit einem fei­nen Gespür für Humor den Men­schen erschuf – wenn wir genau­er hin­schau­en – oder aber sind wir das tra­gischs­te Resul­tat von unzäh­li­gen, unend­li­chen Zufäl­len im kos­mi­schen Raum-Zeit-Gesche­hen, Zufäl­le, die unse­ren Pla­ne­ten in die güns­tigs­te Kon­stel­la­ti­on brach­ten, die es nur hät­te geben kön­nen, damit wir sei­ne Schön­heit bewun­dern dürfen.

Wir ent­spran­gen den kos­mi­schen Geset­zen und wir nut­zen sei­ne Gesetz­mä­ßig­kei­ten. Wir mach­ten uns die Ther­mo­dy­na­mik, also das Wis­sen über die Entro­pie zunut­ze, eine Grö­ße, die in allen statt­fin­den­den Pro­zes­sen vor­han­den und für immer an die vor­an­schrei­ten­de Zeit gekop­pelt ist oder – wer weiß das schon so genau – viel­leicht gekop­pelt wur­de. Sie ver­än­dert das, was wir erschaf­fen haben, löst jede Form auf, nagt sowohl an den Bron­ze­güs­sen und Denk­mä­lern als auch an der Beschaf­fen­heit der Bild­trä­ger der Foto­gra­fie oder Male­rei im Muse­um und am Muse­um selbst.

„Entro­pie ist etwas, das wir nicht ver­ste­hen, das aber sehr wich­tig ist“. Die­sen Satz haben Schü­ler des Mar­ler Albert-Schwei­zer-/Ge­schwis­ter-Scholl-Gym­na­si­ums nach einem Pro­jekt im Che­mie- oder Phy­sik­un­ter­richt auf­ge­schrie­ben und in einer Glas­vi­tri­ne aus­ge­stellt. Wie zutref­fend die­ser Satz doch ist. Wie bei den meis­ten Men­schen liegt der Natur­wis­sen­schaft-Unter­richt auch bei mir weit zurück und ist irgend­wie peri­pher an mir vor­bei­ge­zo­gen. Jani­na, mei­ne Groß­mutter müt­ter­li­cher­seits, konn­te am Che­mie- und Phy­sik­un­ter­richt nicht teil­neh­men, weil ihr der Ein­marsch der brau­nen Socken in die Que­re kam. Die­se besetz­ten Posen und über­nah­men die Cegiel­ski-Wer­ke unter dem Namen Deut­sche Waf­fen- und Muni­ti­ons­fa­bri­ken, in denen mei­ne damals min­der­jäh­ri­ge Groß­mutter in der Waf­fen­pro­duk­ti­on gegen ihren Wil­len arbei­te­te, anstatt die Schul­bank zu drü­cken. Sie wäre ger­ne zur Schu­le gegan­gen, aber immer­hin hat sie über­lebt. Das, was damals an ihr vor­bei­ge­gan­gen war, hol­te sie als Auto­di­dak­tin nach.

Wäh­rend sie putz­te und drei Kin­der groß­zog, las sie David Bohm und Basil Hiley, schwärm­te bis ins hohe Alter für Ein­stein und Haw­kins und hat­te sich mit dem Begriff der Entro­pie ver­traut gemacht, ich hin­ge­gen ver­stand ihn höchs­tens im Ansatz und ahn­te das Gewicht und ver­mu­te­te, dass sie alles durch­drang. Ich ver­stand, dass Men­schen in gewal­ti­gen Kraft­wer­ken selbst Entro­pie erzeug­ten, um den Nähr­stoff der moder­nen Zivi­li­sa­ti­on her­zu­stel­len – die elek­tri­sche Ener­gie. Ich wuss­te auch, dass sie sowohl zur Her­stel­lung einer Bron­ze­skulp­tur als auch einer Sei­fen­bla­se von­nö­ten ist, aber vor allem, dass die Entro­pie immer und über­all war und dass sie das Werk­zeug des genia­len Uhr­ma­chers war, der frü­her oder spä­ter alles Men­schen­ge­mach­te ver­schlin­gen wür­de – als ers­tes die Sei­fen­bla­sen im Park, dann die Bron­ze­sta­tu­en vor den Rat­häu­sern und zual­ler­letzt die gol­de­ne Plat­te der Voy­a­ger, die noch lan­ge wie Treib­holz durch den entro­pie­ar­men, inter­stel­la­ren Raum vor sich her drif­ten und viel­leicht die Erde selbst über­dau­ern wird.

Jeder hat­te so sei­nen eige­nen Ansatz, wenn es um die Entro­pie ging. Schü­ler und Leh­rer trak­tier­ten und wälz­ten sie im Unter­richt, mei­ne Groß­mutter wäh­rend sie Kin­der groß­zog, ich beim Schrei­ben und Foto­gra­fie­ren und wenn ich mit Chris­ti­an sprach. Ich schrieb ihn an und erklär­te ihm, was mich beschäf­tig­te. Ich erzähl­te von mei­ner Groß­mutter und frag­te nach der men­schen­ge­mach­ten Entro­pie in Kraft­wer­ken und nach dem Zeit­zu­sam­men­hang. Sein Fach waren Koh­le­kraft­wer­ke und sein Hob­by die Foto­gra­fie und so ende­te jede Kon­ver­sa­ti­on zwi­schen uns mit mehr Fra­gen als zu ihrem Beginn, denn mein Beruf war die Foto­gra­fie und mein Hob­by die Kraft­wer­ke. Er schick­te mir ein Foto aus dem Steu­er­raum eines Kraft­werks aus Cas­trop-Rau­xel zu. Ich schau­te es mir genau­es­tens an – das mach­te ich schon immer so mit den Fotos mei­ner Freun­de, die sich dar­auf­hin frag­ten, war­um ich ihre Alben so lan­ge anstar­re. Hier wur­de also Entro­pie ver­wal­tet, in einem Raum mit zwei mick­ri­gen Pal­men­ge­wäch­sen in der Mit­te, zwei HQL-Lam­pen dar­über und einer Kaf­fee­kan­ne auf dem Tisch – inter­es­sant. Dem Foto folg­ten eini­ge Zei­len: „Entro­pie hat die Ein­heit KJ/kgK, also 1000x kgm²/s²/kg und Kel­vin … ich dach­te die gan­ze Woche, die Zeit wäre kein Fak­tor … aber das klärt sich gera­de … ich wer­de mei­ne selbst defi­nier­ten Ein­sprü­che als­bald ad acta legen … Peace and over“ – er beliebt wohl zu scher­zen – ich blick­te kaum durch den Wulst sei­ner Ein­heits­grö­ßen hin­durch. Das fiel ihm ein, als er im Dampf­bad war, ich aber hat­te mehr die Kunst im Blick. Das Kraft­werk auf dem Foto gibt es heu­te nicht mehr und wir befin­den uns am Wen­de­punkt, kurz vor dem Unter­gang der fos­si­len Ener­gie – zumin­dest hier sieht man den Hori­zont. Die Rie­sen unse­rer Zeit wer­den bald ihren Frie­den finden.

Ich bevor­zug­te das Bei­spiel der Bild­haue­rei, vor allem nach­dem ich mich mit Chris­ti­ans kryp­to­gra­fi­scher Nach­richt aus­ein­an­der­setz­te. Ein Bild­hau­er, der Figu­ren gießt, struk­tu­riert sei­nen Werk­stoff mit Hil­fe der Ener­gie um. Es ist ein auf­wän­di­ges und robus­tes Hand­werk, des­sen Ergeb­nis­se Jahr­tau­sen­de über­dau­ern kön­nen. Der Künst­ler ver­än­dert den Aggre­gat­zu­stand sei­ner Metall­ver­bin­dun­gen durch Erhit­zung und lässt die Legie­rung in die von ihm erwünsch­te Form erstar­ren, bewirkt eine Neu­struk­tu­rie­rung bis ins kleins­te Teil­chen auf Mole­ku­lar­ebe­ne, sodass er das Ergeb­nis sei­ner Geis­tes­ar­beit – die all­ge­mein als Kunst bezeich­net wird – in ein Medi­um bringt, das in der Zeit eine Wei­le über­dau­ern kann und zwar solan­ge, bis sein Werk wie­der in den Zustand der maxi­ma­len Unord­nung über­geht und sich unum­kehr­bar auflöst.

Die Kunst­wer­ke eines Stra­ßen­künst­lers, der Sei­fen­bla­sen für Kin­der macht, sind wie­der­um sehr kurz­le­big. Es ist eine Kunst des kur­zen Augen­blicks, des kur­zen Auf­at­mens im Moment, da eine bunt schim­mern­de und traum­haf­te Sei­fen­bla­se die Her­zen der klei­nen Men­schen erobert. Die Beschaf­fen­heit einer Sei­fen­bla­se ist zer­brech­lich und kurz nach ihrer Geburt wird ihre struk­tu­rier­te Ober­flä­che zer­plat­zen, bevor die ein­zel­nen Bestand­tei­le genau wie die einer Bron­ze­skulp­tur ins Cha­os-Maxi­mum über­ge­hen. Aus der Traum.

Foto­gra­fen hin­ge­gen nut­zen das Licht und des­sen Ener­gie für sich. Sie arbei­ten mit einem Mate­ri­al, das streng genom­men kei­nes ist. Sie arbei­ten mit einem Stoff der unend­li­chen Farb­viel­falt und Schön­heit, nut­zen sein wel­li­ges Farb­spek­trum, um ihren Moti­ven Aus­druck zu ver­lei­hen, indem sie sie auf einen Bild­trä­ger über­tra­gen. Ob in digi­ta­len oder ana­lo­gen Bild­ge­bungs­ver­fah­ren – die Bestand­teil­chen des Lichts, die Pho­to­nen, tref­fen im Belich­tungs­pro­zess auf die licht­emp­find­li­chen Flä­chen der Sen­so­ren bzw. Ana­log­fil­me, die auf die unter­schied­li­chen Hel­lig­kei­ten und Stär­ken reagie­ren und ein Abbild der sicht­ba­ren Welt zeich­nen – es ist stets das Abbild der Ver­gan­gen­heit, gezeich­net mit einem Stoff, der so schnell ist wie die Gedan­ken selbst. Die „Pho­to-Gra­fie“ – das Zeich­nen mit Licht – ist eigent­lich ein sub­ti­les und fra­gi­les Hand­werk, denn der Werk­stoff ist das nicht greif­ba­re, flüch­ti­ge Licht, der Stoff, aus dem Träu­me gewebt sind, und mit des­sen Hil­fe Foto­gra­fen die Gegen­wart festhalten.

Vor die­sem Hin­ter­grund form­te ich seit Jah­ren ein Gesamt­bild, des­sen Visi­on mei­ner Erin­ne­rung ent­sprang. Ich kne­te­te es zusam­men aus Licht und Zeit. Mein Vor­ha­ben ver­lang­te von mir rück­wärts­ge­wand­te gedank­li­che Ver­ren­kun­gen in der Zeit, hin nach Ober­schle­si­en, aber auch einen Blick in das Gegen­wär­ti­ge und Zukünf­ti­ge mei­ner Heimaten.

Mal arbei­te­te ich regel­mä­ßig an den Fotos, dann wie­der weni­ger, mit lan­gen Aus­zei­ten dazwi­schen. Mei­ne Toch­ter kam zur Welt, ich über­dach­te mei­nen Stand­punkt, das Erar­bei­te­te sack­te, wäh­rend ich ande­ren Auf­trags­ar­bei­ten nach­ging. Im bes­ten Fall wür­de ich mit mei­nen Fotos in einen Dia­log tre­ten, wenn ich fer­tig war, dach­te ich manch­mal, vor­zugs­wei­se mit Men­schen, die ein Inter­es­se an der doku­men­ta­ri­schen und künst­le­ri­schen Foto­gra­fie haben. Im Hin­ter­grund hoff­te ich, dass ich über die Foto­gra­fie die Ent­wick­lung eines Dis­kur­ses zum The­ma Ober­schle­si­en oder Migra­ti­on stüt­zen könn­te, einen Dis­kurs, den ich ver­miss­te. An ande­ren Tagen wie­der­um merk­te ich, dass die­se Arbeit einem ande­ren Zweck gewid­met war, einem Zweck, der etwas per­sön­li­cher und inni­ger war als der Wunsch, mit mei­nen Fotos in die Öffent­lich­keit vor­zu­sto­ßen. Es war der Wunsch, mei­ne Rea­li­tät und die fort­wäh­rend vor­wärts flie­ßen­de Zeit ein­zu­frie­ren, um sie dann im Still­stand zu bezwin­gen. Ich dach­te, zumin­dest auf den Fotos wür­de dies gelin­gen, wenn ich all die Bil­der zusam­men betrach­ten wür­de, und ich wuss­te, dass selbst die­ser Wunsch streng genom­men und beim nähe­ren Betrach­ten nicht erfüll­bar war. Die Zeit lässt sich nicht bezwin­gen. Irgend­wann wür­de selbst eine Foto­gra­fie oder eine Fest­plat­te den Geset­zen der Entro­pie fol­gen, dem fort­wäh­ren­den Zeit­fluss unter­lie­gen und zur Asche wer­den, aus der sie ent­stammt. Man kann die Zeit nicht anhal­ten, doch könn­te ich sie ver­lang­sa­men, in Ruhe betrach­ten, wenn ich mei­ne Arbeit abge­schlos­sen habe, dach­te ich und weil ich dar­an glaub­te, über­lis­te­te ich die Zeit, indem ich sie foto­gra­fier­te und für eine Wei­le zum Still­stand brach­te, bevor sie in eini­gen Jahr­zehn­ten wei­ter­flie­ßen wür­de und die Bil­der zum Teil des gro­ßen Gan­zen würden.

Ich form­te eine Serie, die kraft­los war, denn sie war kei­ne, höchs­tens auf den zwei­ten Blick

In den letz­ten Jah­ren war ich damit beschäf­tigt, das Gesamt­bild der Serie zu for­men, die Foto­gra­fien zu kom­plet­tie­ren, indem ich mei­nen Gedan­ken und mei­ner Intui­ti­on folg­te und immer neue Orte auf­such­te mit dem Ziel, alle Puz­zle­tei­le zu ver­bin­den, um ein ganz­heit­li­ches Resul­tat zu sehen. Mei­ne Arbeit nahm einen lang­wie­ri­gen Ver­lauf an. Sie ent­stand im Pro­zess der Erin­ne­rung, wie ich sie bei­spiel­wei­se mit dem Koks­ofen erleb­te, der Wie­der­ent­de­ckung, als ich mir vor­nahm, mei­ne Geburts­stadt nach lan­ger Abwe­sen­heit zu allen Jah­res­zei­ten wie­der­zu­se­hen, oder der Erkun­dung des Ruhr­ge­biets. Sie ent­stand durch Beob­ach­tung, die vom Geis­tes­hun­ger und Inter­es­se am Leben gelenkt wur­de und zu guter Letzt durch Teil­nah­me, die ich erfuhr, wenn ich Men­schen traf, die Tei­le mei­ner Bild­rei­se wur­den. Auf die Wei­se kamen immer wei­te­re Seg­men­te der Serie zusam­men und die Arbeit hiev­te sich selbst auf ein per­sön­lich-bio­gra­fi­sches Fundament.

Mei­ne Foto­gra­fien hat­ten einen doku­men­ta­ri­schen Still, doch ihr bio­gra­fi­scher Hin­ter­grund öff­ne­te eine wei­te­re Ebe­ne, die eine ein­sam anmu­ten­de Ästhe­tik der Distan­ziert­heit in sich ver­barg, wes­halb ich letzt­end­lich mei­ne Arbei­ten in einem Gen­re-Vaku­um ansie­del­te. Die­ses Vaku­um nann­te ich „kon­zep­tio­nel­le Doku­men­tar­fo­to­gra­fie“ – doch eigent­lich hat die Bezeich­nung letzt­end­lich kei­ne Bedeu­tung. Ich mach­te Bil­der von Orten mei­ner Ver­gan­gen­heit sowie des Auf­bruchs. Reli­gi­on, Kul­tur, Sport, Migra­ti­on und die indus­tri­el­le Stadt­land­schaft tau­chen in der the­ma­ti­schen Ober­flä­che auf. Mei­ne Fotos soll­ten Geschich­ten erzäh­len und nicht zuletzt auch mei­ne eige­ne Lebens­ge­schich­te. Vor der Kulis­se der abge­bil­de­ten Orte und Stadt­land­schaf­ten ent­fal­te­ten sich vor mei­ner Lin­se per­sön­li­che, gesell­schaft­li­che und uni­ver­sel­le Bio­gra­phien. Ich nahm die Sze­nen auf und ließ die all­be­kann­ten Kli­schees außen vor, um mei­nem indi­vi­du­el­len Blick Platz zu ver­schaf­fen und auf mei­ne eige­ne Wei­se vom Dasein im urba­nen Raum zu erzählen.

Ich mach­te die Indus­trie­zen­tren zu Haupt­ak­teu­ren, stell­te sie in den Fokus, doch sie wur­den ledig­lich zur Kulis­se mei­ner foto­gra­fi­schen Aus­ein­an­der­set­zung. Es war eine Aus­ein­an­der­set­zung mit dem, was ich vor­ge­fun­den habe, aber vor allem mit mir selbst. Aus den ein­zel­nen Fotos form­te ich mehr und mehr eine Serie, aber wur­de sie wirk­lich eine? Ich muss­te mich selbst ins kla­re Licht set­zen. Der seri­el­le Cha­rak­ter war schwach erkenn­bar – höchs­tens auf den zwei­ten Blick viel­leicht, wenn über­haupt. Wor­an lag das?

Den Grund ver­mu­te­te ich vor allem in drei­er­lei Dilem­mas – einem zu hohen Anspruch, den ich an mich selbst stell­te, einem zu gro­ßen Abstand sowohl im zeit­li­chen wie im räum­li­chen Sin­ne, und in einer unkla­ren Fokussierung.

Zunächst ein­mal woll­te ich, dass die ein­zel­nen Tei­le sowohl in der Serie als auch iso­liert von­ein­an­der eine Geschich­te erzäh­len. Ich woll­te zwei­er­lei auf ein­mal erle­di­gen. Die­se Ambi­ti­on arbei­te­te gegen den seri­el­len Cha­rak­ter, denn jedes Foto, das ich mach­te, stell­te ich über das Gesamt­bild, das sich im bes­ten Fall und im Nach­hin­ein von selbst erge­ben wür­de. Die­se Ein­stel­lung ver­lang­te von mir Selbst­ver­trau­en und zehr­te an mei­nen Kräf­ten und an der Kraft der Serie. Mein Anspruch schien zu hoch, als dass er erreicht wer­den könn­te, und ich müss­te mich am Ende mei­ner Spu­ren­su­che über­ra­schen lassen.

Zwei­tens ent­stan­den die Auf­nah­men über einen lang­ge­streck­ten Zeit­raum, an zahl­rei­chen Orten, die auf Außen­ste­hen­de zusam­men­hangs­los wir­ken könn­ten. Sie über­brück­ten das Zeit­li­che und den Raum, die Abstän­de dazwi­schen waren weit gestreckt. Damit arbei­te­te schein­bar mein eige­nes Kon­zept von Grund auf gegen den Cha­rak­ter, den eine Serie aus­mach­te, gegen die inhalt­li­che Strin­genz, die man erwar­ten wür­de. Die Distan­zen zwi­schen den Moti­ven schie­nen unüber­brück­bar und erneut müss­te ich mich am Ende mei­ner Spu­ren­su­che über­ra­schen lassen.

Oben­drein kon­zen­trier­te ich mich nicht auf die ganz­heit­li­che Erfas­sung einer Wirk­lich­keit, viel mehr auf die frag­men­ta­ri­sche Erfas­sung vie­ler Wirk­lich­kei­ten, die im Nach­hin­ein eine geschick­te Zusam­men­set­zung ver­lan­gen wür­den, anders wür­de der seri­el­le Cha­rak­ter in den vie­len Far­ben und Frag­men­ten unter­ge­hen und so blieb mir nur noch die Hoff­nung, ich könn­te die Fotos so zusam­men­set­zen, dass die Ebe­ne der Ver­gäng­lich­keit mit der Sehn­sucht, die sie ver­ur­sach­te und hin­ter sich zog, in Sym­bio­se mün­de­te. Ich frag­te mich, wie ich eine kla­re Fokus­sie­rung errei­chen könn­te, ohne dass die Über­ra­schung am Ende all­zu groß aus­fal­len wür­de, etwa wie ein Schrift­stel­ler, der einen Roman schreibt, ohne sei­ne Poin­te zu kennen.

Aus mei­ner foto­gra­fi­schen Aus­ein­an­der­set­zung wur­de viel­mehr eine Rei­se durch mei­ne Gedan­ken­welt, die ich im Quer­for­mat fest­hielt, als dass es eine Serie wur­de. Auf die­ser Rei­se ver­folg­te ich mit mei­nem Foto­ap­pa­rat ein­zel­ne Sach­ver­hal­te, die ich ver­such­te, in jeweils einer Dar­stel­lung detail­liert aus­zu­leuch­ten, aber zeit­gleich arbei­te­te ich am gro­ßen Gan­zen, des­sen Ansicht mich am meis­ten reiz­te. Die Arbeit glich einem Spa­gat oder einem Seil­tanz, der zum Balan­ce­akt wur­de. Mög­li­cher­wei­se fiel ich und ver­lor das Seri­el­le in den Wei­ten der super­to­ta­len und halb­to­ta­len Ein­stel­lungs­grö­ßen, die in zu schwa­cher Semio­tik unver­ein­bar mit den zer­streu­ten Groß­auf­nah­men wur­den, weil sie auf den ers­ten Blick zusam­men­hangs­los wirk­ten und kei­ne Gra­vi­ta­ti­on besa­ßen. Ahnend, dass ich mich ver­lie­ren wür­de, ver­barg ich in jedem Foto eine klei­ne Geschich­te oder einen Hin­weis, der zusam­men­ge­setzt zu mei­ner essen­zi­el­len Bot­schaft fusio­nie­ren konn­te, wenn man sei­ne eige­ne Per­spek­ti­ve jus­tier­te, viel­leicht auf den zwei­ten Blick, durch das Pris­ma der Zeit und mit dem Wis­sen um die Ver­gäng­lich­keit betrach­tend. Das klingt kom­pli­ziert, ist es aber nicht.

Am Duis­bur­ger Rhein­ufer foto­gra­fier­te ich zwei Bar­ken, die mit der rich­ti­gen Blick­rich­tung zum bild­li­chen Syn­onym der Zeit ten­die­ren. Die Land­schafts­sze­ne zeigt das Ver­har­ren am Ort sowie den Zeit­fluss vor der Kulis­se der Ruhr­in­dus­trie. Ähn­lich auch das nächs­te Bild – die A40. Ich inter­es­sier­te mich für sie, weil sie im zeit­li­chen Sin­ne gese­hen einen lan­gen Atem hat­te – eine Vor­aus­set­zung des Über­dau­erns. Die Tras­se wur­de von Rei­sen­den und Händ­lern auf ihren Durch­que­run­gen des Ruhr-Lip­pe-Beckens anskiz­ziert, lan­ge bevor die­se ahnen konn­ten, dass sie irgend­wann zur mani­fes­ten Auto-Rou­te des Ruhr­ge­biets wach­sen wür­de. Ich such­te mit mei­nem Foto­ap­pa­rat, begab mich nach Dort­mund, foto­gra­fier­te Über­res­te der Schwer­indus­trie in Hör­de und hielt in einem wei­te­ren Bild fest, wie sich das Leben zu ihren Füßen neu form­te, wie der Sport die Zei­ten über­dau­er­te, Frau­en­fuß­ball zur Tages­ord­nung über­ging – jetzt, wo der Herz­schlag der Ruhr­ba­ro­ne erlo­schen war und Frei­zeit und Sport einen neu­en Stel­len­wert beka­men. Hof­fent­lich schafft man bald die Abseits­re­gel ab und lässt Män­ner wie Frau­en in gemisch­ten Mann­schaf­ten spie­len – für die meis­ten undenk­bar, doch wer weiß, was die Zukunft für den eher kon­ser­va­ti­ven Fuß­ball bereit­hält. Die Stadt­land­schaft hat­te eine Stim­me, die sich wan­del­te, die man durch das Anneh­men einer pas­sen­den Per­spek­ti­ve hören konnte.

In Oer-Erken­sch­wick drück­te ich den Aus­lö­ser, weil mir die Freu­de einer Nati­on zuteil wur­de, die alle vier Jah­re sie­gen woll­te. Ich hielt fest, wie Deutsch­land sich mit sei­ner Natio­nal­flag­ge brüs­te­te, stolz und auf­recht, Jahr um Jahr ein Stück stol­zer wur­de, ohne Schuld und Schan­de ver­gan­ge­ner Tage, immer auf­rech­ter vor­wärts mar­schier­te – der Ansicht, es waren nicht wir. Die Flag­ge zeig­te Einig­keit und Frei­heit und der Sport mach­te das Unrecht ver­ges­sen. Immer wenn ich die­se Flag­gen sah, muss­te ich an die Geschich­te den­ken – woher kamen mei­ne Assoziationen?

Die Erin­ne­rung an das, was Deut­sche der Mensch­heit ange­tan haben, bleibt. Ich zumin­dest den­ke öfters dar­an, als mir lieb ist, und eigent­lich müss­ten ande­re die Erin­ne­rung wah­ren. Der unvor­stell­ba­re Gräu­el fand bekannt­lich über­all statt – auch in Biel­s­zowice. Anders­den­ken­de, wie Edmund Kokott, wur­den auf einer Kas­ta­nie vor unse­rem Berg­werk gehängt und ver­spot­tet. Der Bru­der mei­nes Groß­va­ters Rudolf oder der Pfar­rer Nied­ziela wur­den im sel­ben Jahr depor­tiert und ver­gast, gemein­sam mit Hun­der­ten aus unse­rer Stadt, nur drei Jahr­zehn­te vor mei­ner Zeit. Wer waren die Mör­der und wo kamen sie her? Ich ver­su­che zu verstehen.

Ich fra­ge einen alten Sports­freund, der in der Nach­bar­schaft des Flag­gen­hau­ses wohnt, wie er zu sei­ner Geschich­te steht – heu­te ist er über neun­zig. Er ant­wor­tet mir, dass Hit­ler ein guter Mann war, doch er hät­te das mit den Juden nicht machen sol­len – er war ein guter Mann.

Was bringt der Knie­fall eines Kanz­lers ohne Ein­sicht derer, die er ver­tritt? Brau­chen wir mehr Beispiele?

Als ich zur Welt kam, hat­te die BRD bereits ver­daut. Die Men­schen fan­den schon in Bern ihren Natio­nal­stolz wie­der, dann im kapi­ta­lis­ti­schen Wirt­schafts­wun­der das Selbst­be­wusst­sein, das fort­an expan­dier­te, bis es irgend­wann sogar die afri­ka­ni­sche Vuvuz­ela adop­tier­te – hof­fent­lich wird es in Zukunft dabei blei­ben. Deutsch­land ist ein Land, das sich heu­te um die demo­kra­ti­schen Wer­te bemüht, sogar gut dasteht im inter­na­tio­na­len Ver­gleich. Was noch fehlt, ist ein Knie­fall für jedermann.

Duis­burg, Dort­mund, Oer-Erken­sch­wick – kei­ne Foto­se­rie, nicht auf den ers­ten Blick. Wer sich auf der Suche nach der Essenz im zer­streu­ten Sam­mel­su­ri­um mei­ner Gedan­ken ver­liert, der kann mei­ne foto­gra­fi­schen Posi­tio­nen vor dem Hin­ter­grund der sich per­ma­nent wan­deln­den Zeit und Geschich­te anse­hen und ihren gemein­sa­men Nen­ner fin­den – die Vergänglichkeit.

Die Furcht vor der Ver­gäng­lich­keit drück­te den Auslöser

Bis dahin mach­te ich mir Gedan­ken über das Phä­no­men der Erin­ne­rung, die uner­war­tet kom­men und wie ein Fun­ke ein Feu­er anfa­chen kann. Ich dach­te auch dar­über nach, wie ich mich ent­schied, die Hän­de von bild­li­chen Ver­glei­chen zu las­sen, wie ich den Titel mei­ner Arbeit änder­te, um mehr Frei­raum für mei­ne Arbeit zu bekom­men. Ich über­leg­te, dass die Kunst die Geset­ze der Ther­mo­dy­na­mik nutz­te, um Gedan­ken in Aus­sa­gen zu pres­sen, und dass die Entro­pie alles Erschaf­fe­ne ver­schlin­gen wür­de. Ich merk­te, dass mei­ne soge­nann­te Serie vom Wis­sen um die Ver­gäng­lich­keit zusam­men­ge­hal­ten wur­de und ich wur­de das Gefühl nicht los, dass mich mög­li­cher­wei­se die Furcht vor ihr zum Foto­gra­fie­ren beweg­te. Fürch­te­te ich mich vor der Ver­gäng­lich­keit? Eigent­lich eine exis­ten­zi­el­le Fra­ge, wie die nach dem Sinn des Todes oder dem Unsinn des Lebens, doch jetzt war mir die Fra­ge behilf­lich, den Zusam­men­hang zwi­schen mir und mei­nen Fotos zu klären.

Die­se Furcht war der pas­sen­de Schlüs­sel zu den Ant­wor­ten auf die Fra­ge nach der Her­kunft mei­nes Schaf­fens­drangs sowie der Grund mei­ner Moti­va­ti­on. Sie reis­te sozu­sa­gen immer mit mir, als Bal­last in mei­ner Foto­ta­sche. Ihre Prä­senz beein­fluss­te mich und mei­ne Arbeit. Sie war mög­li­cher­wei­se der Anlass für die Aus­wahl vie­ler Foto­mo­ti­ve – das Rat­haus, das Hotel und die Frau am Kok­siok. Die­ses unter­schwel­lig auf­tre­ten­de Gefühl ließ mich spon­tan samt Foto­ap­pa­rat los­zie­hen und immer wie­der neue, wei­te­re Auf­nah­men von mir ver­traut gewor­de­nen Orten oder Stadt­land­schaf­ten machen.

Meis­tens erfuhr ich in media­len Ankün­di­gun­gen oder im Freun­des­kreis über anste­hen­de Ver­än­de­rung in der urba­nen Land­schaft, zum Bei­spiel geplan­te Bau­maß­nah­men, dann wie­der eine Still­le­gung oder ähn­li­ches. Die­se Ver­gäng­lich­kei­ten bescher­ten mir Schlaf­lo­sig­keit, immer wenn etwas Ver­trau­tes in mei­nem Umfeld zu kip­pen droh­te, eine bestehen­de Ord­nung sich auf­lös­te, ver­ur­sach­te dies – im über­tra­ge­nen Sin­ne – einen zäh­ne­knir­schen­den Greif­re­flex, ein grund­le­gen­des Gefühl aus der Befürch­tung her­aus, mir könn­te etwas, das mir ans Herz gewach­sen war, abhan­den kom­men. Ich ver­spür­te das, was man am bes­ten unter der Bezeich­nung „Zeit­druck“ kennt und erkann­te, dass Ver­lust­angst in mir schlum­mert. Ich hing an der Bestän­dig­keit und die Welt um mich war alles ande­re als beständig.

Eine klei­ne Erkenntnis

Ich woll­te mein eige­nes Ver­hal­ten ohne einen zu hohen Anspruch auf treff­li­che Schluss­fol­ge­run­gen durch­bli­cken. Ich beschäf­tig­te mich mit mei­ner eige­nen Foto­gra­fie rein sub­jek­tiv, aus Geis­tes­hun­ger, ohne Ambi­ti­on, eine all­ge­mei­ne Wahr­heit zu fin­den. Auf die­se Wei­se mich selbst betrach­tend, erkann­te ich ein ver­steck­tes Angst­ge­fühl, das an die Foto­gra­fie gekop­pelt war – es war die Furcht vor dem Ver­lust. Die­ser Zustand erklär­te schein­bar die Moti­va­ti­on mei­ner Foto­gra­fie, denn er beein­fluss­te mei­ne Motiv­wahl und ihre ästhe­ti­sche Umset­zung. Die Erkennt­nis der Ver­lust­angst als Antrieb mei­ner Arbeit über­rasch­te mich und ich mut­maß­te über ihre Herkunft.

Die Ver­mu­tung, ich wür­de aus Nost­al­gie han­deln und aus Sehn­sucht nach der Heimat

Ver­lust­angst – ver­spür­te sie nicht jeder, der sich zu stark gebun­den hat­te? Nach der Erkennt­nis muss­te ich erst ein­mal tief Luft holend nach hin­ten bli­cken und mich fra­gen, wann sich so etwas in mich und mei­ne Foto­gra­fie ein­ge­schli­chen hat.

Ich blick­te zurück. Im mei­nen Kin­der­zim­mer lag ein bun­ter Ball, auf­ge­teilt in die Grund­far­ben Rot, Gelb, Blau, mit der Auf­schrift ORWO, dem Mono­po­lis­ten der Film­her­stel­lung aus der DDR – ich konn­te mich gut an ihn erin­nern. Mei­ne Renn­rad­müt­ze und der Kalen­der in der Küche hat­ten das glei­che Logo. Früh begann die Freund­schaft mit der Foto­gra­fie. Mei­ne Mut­ter zeig­te mir ihre Foto­ka­me­ra, eine rus­si­sche Zenit und erklär­te mir grob ihre Funk­ti­on. „Schau mal her, hier kommt das Bild rein“. Klack. „Jetzt ist es drin“. Ich wie­der­um erklär­te ihr, wie sie mich foto­gra­fie­ren soll­te: „War­te, ich hole noch den Ball. Hast du ihn drauf?“ Klack. „Oh, der Film ist zu Ende“. Wir wech­sel­ten den Film, wie­der ORWO – ich lern­te spie­lend. Im Lau­fe der Zeit nahm sie mich mit in ver­schie­de­ne Foto­stu­di­os, in denen sie tätig war, mach­te Fotos und zeig­te mir alles. Spä­ter fuh­ren wir öfters in das Foto­la­bor in Glei­witz, im Ikar-Kauf­haus, wo ich den gan­zen Tag im Betrieb ver­brin­gen durf­te. Ich erin­ne­re mich genau an die Ent­wick­lungs­kam­mer und den Raum, in dem Foto­fil­me wie Wäsche an Wäsche­lei­nen trock­ne­ten. Eine Mit­ar­bei­te­rin, Ola oder Chris­ti­na, zeig­te mir, wie ich mit der Schnei­de­ma­schi­ne umge­hen soll­te, und ich hat­te das Gefühl, ein Teil der Pro­duk­ti­ons­ket­te zu sein, weil ich die fer­ti­gen Foto­gra­fien zuschnei­den durf­te, ganz auto­nom. Auto­ma­ten – fehl am Platz und das Digi­tal­zeit­al­ter steck­te in den Kin­der­schu­hen. Ich war etwa sie­ben, viel­leicht acht, höchs­tens neun.

Sie foto­gra­fier­te mich, mei­ne Schwes­ter Moni­ka und den Rest der Fami­lie fast täg­lich, zu Hau­se, am Strand oder im Foto­stu­dio und dann ent­wi­ckel­te sie die Fil­me meis­tens selbst, manu­ell und nach der Arbeit. Im Labor benutz­te sie Licht­fil­ter, die bei der Nega­tiv­ver­grö­ße­rung mit einem RGB-Farb­misch­kopf bedient wur­den, dann über­prüf­te sie das Resul­tat im natür­li­chen Son­nen­licht, bis der rich­ti­ge Ton getrof­fen war – ein Hand­werk und eine Kunst des Sehens, die heu­te nach nur eini­gen Jahr­zehn­ten kaum noch Anwen­dung fin­det. Die Fotos mei­ner Mut­ter stüt­zen, kon­ser­vier­ten gar mei­ne Erin­ne­run­gen der ver­gan­ge­nen Tage und ich lern­te, die Ver­gan­gen­heit zu lie­ben und schau­te sehn­suchts­voll auf die Fotos, die unse­re Ver­gan­gen­heit dar­stell­ten und immer blas­ser wurden.

Heu­te ver­ste­he ich mehr dar­über, wie Nost­al­gie und Sehn­süch­te inein­an­der grei­fen. Sie sind das Resul­tat von Erin­ne­run­gen, sind in die Ver­gan­gen­heit gewandt und ent­ste­hen mit zuneh­men­den Lebens­jah­ren, sel­ten frü­her, meist im hohen Alter.

Mei­ne Mut­ter arbei­te­te über vie­le Jahr­zehn­te als Foto­gra­fin, hat­te ein geschul­tes Auge, erkann­te jeden fal­schen Schat­ten unter einer Nase, der aus einer schö­nen Frau einen Adolf machen konn­te, oder ein zu deut­li­ches Dop­pel­kinn sofort. An den Wochen­en­den mach­te sie bis zu drei Foto­re­por­ta­gen von Ver­an­stal­tun­gen und lich­te­te in den vie­len Arbeits­jah­ren tau­sen­de Gesich­ter als Por­träts in Foto­stu­di­os in Wro­claw, Zabrze, Gli­wice, Reck­ling­hau­sen und Her­ne ab. Ihr Lieb­lings­mo­tiv blieb bis heu­te die Familie.

Viel­leicht infi­zier­te sie mich mit dem Virus der Foto­gra­fie. Als ich her­an­wuchs, mel­de­te ich mich zu jedem statt­fin­den­den Foto­un­ter­richt an, ich bau­te mir eine „Kame­ra Obscu­ra“ und foto­gra­fier­te mehr oder weni­ger, ohne eine Ord­nung dahin­ter zu ver­fol­gen, ein­fach drauf los, Freun­de, Haus­tie­re, Autos, wahl­los und anar­chis­tisch. Ich scher­te mich kaum um Kata­lo­gi­sie­rung und Auf­be­wah­rung, das kam viel später.

Irgend­wann war das pas­sé und hat­te sich aus­ge­knipst. Der Akt des Foto­gra­fie­rens ist seit dem Kunst­stu­di­um oder spä­tes­tens seit der Erin­ne­rung an den Koks­ofen mehr zum bewuss­ten und gesteu­er­ten Pro­zess gewor­den. Das muss dann auch der Moment gewe­sen sein, in dem die Ver­gäng­lich­keit Ein­fluss auf mei­ne Bil­der nahm – ein Ein­fluss­fak­tor, den ich bewusst leb­te, weil ich die End­gül­tig­keit von Ereig­nis­sen ver­in­ner­lich­te. Mei­ne Arbeits­wei­se hat­te fühl­bar an Gewicht zuge­nom­men. Das führ­te nicht zwangs­läu­fig zum Ver­lust der Leich­tig­keit im Motiv – wie man ver­mu­ten könn­te – doch ein neu­er Ansatz ver­än­der­te die Ästhe­tik der Bil­der. Das Knip­sen im Affekt, wie ich es bis jetzt prak­ti­zier­te, ist mehr und mehr einer Pla­nung und dem bewuss­ten Han­deln gewi­chen. Leicht­fer­ti­ges Knip­sen adieu – nicht ganz. Ich hielt mir stets die Mög­lich­keit offen, ein spon­ta­nes Bild auf­zu­neh­men, aus einem fah­ren­den Auto zum Bei­spiel, doch selbst dann war das Motiv meis­tens schon Teil eines im Vor­feld erstell­ten Grund­ris­ses. So betrach­tet ähnel­te mei­ne Metho­dik dem Kom­plet­tie­ren eines Puz­zles, des­sen Gesamt­bild mir vor Augen schweb­te, wäh­rend mir sei­ne ein­zel­nen Kom­po­nen­ten noch fehlten.

Heu­te ver­ste­he ich mehr dar­über, wie Nost­al­gie und Sehn­süch­te inein­an­der grei­fen. Sie sind das Resul­tat von Erin­ne­run­gen, sind in die Ver­gan­gen­heit gewandt und ent­ste­hen mit zuneh­men­den Lebens­jah­ren, sel­ten frü­her, meist im hohen Alter.

Mei­ne Mut­ter arbei­te­te über vie­le Jahr­zehn­te als Foto­gra­fin, hat­te ein geschul­tes Auge, erkann­te jeden fal­schen Schat­ten unter einer Nase, der aus einer schö­nen Frau einen Adolf machen konn­te, oder ein zu deut­li­ches Dop­pel­kinn sofort. An den Wochen­en­den mach­te sie bis zu drei Foto­re­por­ta­gen von Ver­an­stal­tun­gen und lich­te­te in den vie­len Arbeits­jah­ren tau­sen­de Gesich­ter als Por­träts in Foto­stu­di­os in Wro­claw, Zabrze, Gli­wice, Reck­ling­hau­sen und Her­ne ab. Ihr Lieb­lings­mo­tiv blieb bis heu­te die Familie.

Viel­leicht infi­zier­te sie mich mit dem Virus der Foto­gra­fie. Als ich her­an­wuchs, mel­de­te ich mich zu jedem statt­fin­den­den Foto­un­ter­richt an, ich bau­te mir eine „Kame­ra Obscu­ra“ und foto­gra­fier­te mehr oder weni­ger, ohne eine Ord­nung dahin­ter zu ver­fol­gen, ein­fach drauf los, Freun­de, Haus­tie­re, Autos, wahl­los und anar­chis­tisch. Ich scher­te mich kaum um Kata­lo­gi­sie­rung und Auf­be­wah­rung, das kam viel später.

Irgend­wann war das pas­sé und hat­te sich aus­ge­knipst. Der Akt des Foto­gra­fie­rens ist seit dem Kunst­stu­di­um oder spä­tes­tens seit der Erin­ne­rung an den Koks­ofen mehr zum bewuss­ten und gesteu­er­ten Pro­zess gewor­den. Das muss dann auch der Moment gewe­sen sein, in dem die Ver­gäng­lich­keit Ein­fluss auf mei­ne Bil­der nahm – ein Ein­fluss­fak­tor, den ich bewusst leb­te, weil ich die End­gül­tig­keit von Ereig­nis­sen ver­in­ner­lich­te. Mei­ne Arbeits­wei­se hat­te fühl­bar an Gewicht zuge­nom­men. Das führ­te nicht zwangs­läu­fig zum Ver­lust der Leich­tig­keit im Motiv – wie man ver­mu­ten könn­te – doch ein neu­er Ansatz ver­än­der­te die Ästhe­tik der Bil­der. Das Knip­sen im Affekt, wie ich es bis jetzt prak­ti­zier­te, ist mehr und mehr einer Pla­nung und dem bewuss­ten Han­deln gewi­chen. Leicht­fer­ti­ges Knip­sen adieu – nicht ganz. Ich hielt mir stets die Mög­lich­keit offen, ein spon­ta­nes Bild auf­zu­neh­men, aus einem fah­ren­den Auto zum Bei­spiel, doch selbst dann war das Motiv meis­tens schon Teil eines im Vor­feld erstell­ten Grund­ris­ses. So betrach­tet ähnel­te mei­ne Metho­dik dem Kom­plet­tie­ren eines Puz­zles, des­sen Gesamt­bild mir vor Augen schweb­te, wäh­rend mir sei­ne ein­zel­nen Kom­po­nen­ten noch fehlten.

Ich leg­te kei­nen beson­de­ren Wert auf die Qua­li­tät der Aus­stat­tung, benutz­te meis­tens güns­ti­ge­re Rei­se­ob­jek­ti­ve, die ich mir leis­ten konn­te, die aber Rand­un­schär­fe, Vignet­tie­rung und chro­ma­ti­sche Aberra­ti­on ver­ur­sach­ten und nicht beson­ders licht­stark waren. Mein bes­tes Objek­tiv hat­te ich ver­lo­ren, bevor es alt wer­den konn­te. Mei­nen Moti­ven hin­ge­gen schenk­te ich mehr Auf­merk­sam­keit und betrach­te­te sie meist mit Sorg­falt im größt­mög­li­chen Bewusst­sein. Viel­leicht wür­de ich zukünf­tig mehr auf mei­ne Aus­stat­tung ach­ten und kör­ni­gen Unschär­fen adieu sagen, doch bis jetzt war eine gute Aus­stat­tung für mich der pure Luxus. Ich war aus einer Zenit her­vor­ge­gan­gen und jedes auch noch so durch­schnitt­li­che Rei­se­ob­jek­tiv über­traf sei­ne Qua­li­tät und so kam es, dass ich genüg­sam wurde.

Die Eva­lua­ti­on mei­ner Foto­gra­fie kann ich recht gut nach­ver­fol­gen und nach­voll­zie­hen und ich sehe ihre Ent­wick­lung aus den Kin­der­schu­hen bis heu­te, aber dass sich die Furcht vor der Ver­gäng­lich­keit in sie ein­schlich, lässt in mir eine trau­ri­ge Ver­mu­tung wach­sen, dass ich aus Nost­al­gie und Sehn­sucht zu mei­ner Hei­mat han­del­te und viel­leicht nicht rich­tig habe los­las­sen können.

Ich mut­maß­te, ob die Umsied­lung ins Ruhr­ge­biet mich gezeich­net hat­te, so wie es einst Mar­kus andeu­te­te, als ich auf mei­ner blank­po­lier­ten roten Renn­ma­schi­ne über die Migra­ti­ons­fol­gen von Aus­sied­lern sprach. War mir ban­ge, mir könn­te wie­der eine ver­trau­te Welt ent­glei­ten? Foto­gra­fier­te ich des­halb so, als wür­de Gott die Welt schon mor­gen ver­las­sen wol­len und ich ver­such­te, ihn vor sei­nem Abgang vor die Lin­se zu bekom­men? Ver­such­te ich, im foto­gra­fi­schen Pro­zess den Ver­lust der Hei­mat zu kom­pen­sie­ren und such­te Bestän­dig­keit? Mir kommt es vor, als woll­te ich mit dem Foto­ap­pa­rat die Ver­gäng­lich­keit kom­pen­sie­ren und sie gewis­ser­ma­ßen zum Still­stand brin­gen, indem ich den Aus­lö­ser drück­te – so konn­te die Zeit ein­ge­fro­ren wer­den und das star­re Motiv wür­de mir Trost spenden.

Das war ja auch mei­ne Erkennt­nis und ich stuf­te sie als signi­fi­kant und stil­bil­dend ein. Mög­li­cher­wei­se war es die DNA mei­ner Fotos – end­lich an der Ober­flä­che sicht­bar, schil­lernd wie eine dün­ne Schicht Ben­zin an der Was­ser­ober­flä­che. Die Angst war die Ursa­che für die­sen Bild­band, doch jede Ursa­che hat­te eine wei­te­re Ursa­che, unend­lich ver­schach­telt, und des­halb leg­te ich mei­ne Fotos noch ein­mal auf den Leucht­tisch – das Rat­haus von Marl, das Hotel, den Koks­ofen – nahm sie in Betracht, dach­te nach und erkann­te, dass sich hin­ter der Angst die Zunei­gung zum Leben ver­barg – simp­ler konn­te die Ant­wort nicht sein – pure Lebens­lust und Wert­schät­zung des­sen, was mich umgab und an dem ich hing.

Ich leg­te kei­nen beson­de­ren Wert auf die Qua­li­tät der Aus­stat­tung, benutz­te meis­tens güns­ti­ge­re Rei­se­ob­jek­ti­ve, die ich mir leis­ten konn­te, die aber Rand­un­schär­fe, Vignet­tie­rung und chro­ma­ti­sche Aberra­ti­on ver­ur­sach­ten und nicht beson­ders licht­stark waren. Mein bes­tes Objek­tiv hat­te ich ver­lo­ren, bevor es alt wer­den konn­te. Mei­nen Moti­ven hin­ge­gen schenk­te ich mehr Auf­merk­sam­keit und betrach­te­te sie meist mit Sorg­falt im größt­mög­li­chen Bewusst­sein. Viel­leicht wür­de ich zukünf­tig mehr auf mei­ne Aus­stat­tung ach­ten und kör­ni­gen Unschär­fen adieu sagen, doch bis jetzt war eine gute Aus­stat­tung für mich der pure Luxus. Ich war aus einer Zenit her­vor­ge­gan­gen und jedes auch noch so durch­schnitt­li­che Rei­se­ob­jek­tiv über­traf sei­ne Qua­li­tät und so kam es, dass ich genüg­sam wurde.

Die Eva­lua­ti­on mei­ner Foto­gra­fie kann ich recht gut nach­ver­fol­gen und nach­voll­zie­hen und ich sehe ihre Ent­wick­lung aus den Kin­der­schu­hen bis heu­te, aber dass sich die Furcht vor der Ver­gäng­lich­keit in sie ein­schlich, lässt in mir eine trau­ri­ge Ver­mu­tung wach­sen, dass ich aus Nost­al­gie und Sehn­sucht zu mei­ner Hei­mat han­del­te und viel­leicht nicht rich­tig habe los­las­sen können.

Ich mut­maß­te, ob die Umsied­lung ins Ruhr­ge­biet mich gezeich­net hat­te, so wie es einst Mar­kus andeu­te­te, als ich auf mei­ner blank­po­lier­ten roten Renn­ma­schi­ne über die Migra­ti­ons­fol­gen von Aus­sied­lern sprach. War mir ban­ge, mir könn­te wie­der eine ver­trau­te Welt ent­glei­ten? Foto­gra­fier­te ich des­halb so, als wür­de Gott die Welt schon mor­gen ver­las­sen wol­len und ich ver­such­te, ihn vor sei­nem Abgang vor die Lin­se zu bekom­men? Ver­such­te ich, im foto­gra­fi­schen Pro­zess den Ver­lust der Hei­mat zu kom­pen­sie­ren und such­te Bestän­dig­keit? Mir kommt es vor, als woll­te ich mit dem Foto­ap­pa­rat die Ver­gäng­lich­keit kom­pen­sie­ren und sie gewis­ser­ma­ßen zum Still­stand brin­gen, indem ich den Aus­lö­ser drück­te – so konn­te die Zeit ein­ge­fro­ren wer­den und das star­re Motiv wür­de mir Trost spenden.

Das war ja auch mei­ne Erkennt­nis und ich stuf­te sie als signi­fi­kant und stil­bil­dend ein. Mög­li­cher­wei­se war es die DNA mei­ner Fotos – end­lich an der Ober­flä­che sicht­bar, schil­lernd wie eine dün­ne Schicht Ben­zin an der Was­ser­ober­flä­che. Die Angst war die Ursa­che für die­sen Bild­band, doch jede Ursa­che hat­te eine wei­te­re Ursa­che, unend­lich ver­schach­telt, und des­halb leg­te ich mei­ne Fotos noch ein­mal auf den Leucht­tisch – das Rat­haus von Marl, das Hotel, den Koks­ofen – nahm sie in Betracht, dach­te nach und erkann­te, dass sich hin­ter der Angst die Zunei­gung zum Leben ver­barg – simp­ler konn­te die Ant­wort nicht sein – pure Lebens­lust und Wert­schät­zung des­sen, was mich umgab und an dem ich hing.

Das Rat­haus von Marl auf dem Leuchttisch

Ich habe mei­ne Arbeits­wei­se distan­ziert und kri­tisch unter­sucht und ent­deckt, dass die End­gül­tig­keit des Ver­ge­hens mein inne­rer Antrieb für die Foto­gra­fie war und dass ich von gro­ßer Zunei­gung für die geis­ti­gen Errun­gen­schaf­ten des Men­schen gelenkt wur­de, viel­leicht sogar von der Lie­be selbst. Um die­se simp­le Erkennt­nis zu mani­fes­tie­ren, beob­ach­te­te ich mich selbst und mei­ne Arbeits­wei­se, dann schrieb ich mei­ne Gedan­ken auf. Ich rekon­stru­ier­te mein Vor­ge­hen und sah unter­des­sen, wie ich von Eigen­sinn getrie­ben samt Foto­ap­pa­rat los­zog, um den Crei­ler Platz zu foto­gra­fie­ren, auf dem sich ein Gebäu­de­kom­plex befand, des­sen Gesicht mir mit der Zeit ver­traut wur­de, und jetzt, nach­dem ich irgend­wo von sei­ner anste­hen­den Sanie­rung hör­te und sein Ant­litz sich auf­zu­lö­sen droh­te, ihn ablich­ten woll­te, bevor er sich ver­än­der­te. Lan­ge Zeit war nicht klar, ob das Rat­haus sei­nen Bür­gern erhal­ten blei­ben wür­de. Sei­ne Sanie­rung wür­de vie­le Mil­lio­nen kos­ten und zudem waren sei­ne Geg­ner laut­stark unter­wegs – „Rat­haus­sa­nie­rung stop­pen!“ – bis vors Gericht. Ich weiß, das kann abwe­gig klin­gen, doch ich spür­te, dass die Fas­sa­den, die Uhr und die Brun­nen am Rat­haus­platz mir ans Herz gewach­sen waren und sich mit mir ver­wo­ben hat­ten und des­halb woll­te ich nicht ris­kie­ren, kein Doku­ment ihrer Schön­heit, wie ich sie in Erin­ne­rung hat­te, zu besit­zen. Ich hat­te mich an die Ansicht des béton brut, des ehr­li­chen und rohen Bru­ta­lis­mus gewöhnt, denn ich wur­de bereits im Kin­des­al­ter mit dem Virus infi­ziert und hat­te Sym­pa­thie für die­se Bau­form ent­wi­ckelt. Mei­ne Augen sogen an sei­nen For­men wie an der Mut­ter­milch – es war die Archi­tek­tur mei­ner Hei­mat in mei­ner Wahl­hei­mat. Ich spür­te Empa­thie für Men­schen, die alles taten, um den Erhalt des Rat­hau­ses zu sichern, und ich ver­stand die­je­ni­gen, die mit ihrer Umge­bung zusam­men­ge­wach­sen waren, aber wahr­schein­lich auch jene, die sich in ihr nicht ganz wohl fühl­ten. Ich wuss­te, welch wich­ti­ge Rol­le das Lebens­um­feld bei sei­nen Bewoh­nern ein­zu­neh­men ver­mag. Ich ver­stand, wie wich­tig die Arbeit der Archi­tek­ten und Stadt­pla­ner war, wie weit sie in das Leben des Ein­zel­nen hin­ein­reicht und wuss­te in der Form, die mir begeg­ne­te, zu lesen. Ich schätz­te und schät­ze den Idea­lis­mus der Nach­kriegs­mo­der­ne, sei­ne uto­pi­sche Her­an­ge­hens­wei­se, sei­ne visio­nä­re Bau­kunst – puris­tisch in der Mate­ri­al­wahl und ethisch den sozia­len Aspek­ten ver­pflich­tend, außen schroff und roh, Sicht­be­ton, Alu­mi­ni­um, Glas, innen fein und geschmei­dig sau­ber, über­sicht­lich bis ele­gant – Holz, Mar­mor, Leder, Pal­men, dies alles konn­te die Moder­ne. Das Rat­haus über­zeugt mich auch durch die groß­zü­gi­ge Zwi­schen­raum­ge­stal­tung zu den mäch­ti­gen Wohn­ge­bäu­den und dem „Mar­ler Stern“ in sei­nem Umkreis. Raum für Mensch, Tren­nung von Leben und Arbeit, viel Grün, Kunst, so die Idee. Eine Stadt für Men­schen und Men­schen für ihre Stadt, eine Uto­pie der 1950er-Jah­re, dem Anti­fa­schis­ten und Bür­ger­meis­ter Rudolf Hei­land geschul­det, den Archi­tek­ten van den Broek und Bak­e­ma zu verdanken.

Marl O Man. Das am Reiß­brett ent­wor­fe­ne Zen­trum erin­ner­te mich an mei­ne Kind­heit im Ost­block, an die Bau­ten der dor­ti­gen Moder­ne, die nach Sta­lins Tod und der Über­win­dung des sozia­lis­ti­schen Rea­lis­mus wie ein fri­scher Wind­zug über die Köp­fe der Archi­tek­ten hin­weg­zog. Die Pilz­dach­kon­struk­ti­on der Mar­ler Rat­haus­tür­me erin­ner­te mich – es war wie­der die Erin­ne­rung, die mich heim­such­te – an den Kat­to­wit­zer Bahn­hof und sei­ne Kelch­kon­struk­ti­on der 16 Beton­pil­ze, die als geo­me­tri­sches Beton-Scha­len­kon­strukt die Trä­ger­funk­ti­on an die­sem funk­tio­nal ein­ge­rich­te­ten Gebäu­de über­nah­men. Anders als dem Rat­haus erging es der Kat­to­wit­zer Bahn­hofs­hal­le. Die Inves­to­ren und Stadt­pla­ner beka­men den Bahn­hof unter ihre Fit­ti­che und bestimm­ten ihn für die Abriss­bir­ne, die ihn ins Jen­seits beför­der­te, bevor ich ihn foto­gra­fie­ren konn­te. Das schmerz­te. Es gab vie­le sol­cher Orte, die einen Wert für mich hat­ten, zu denen ich aber kei­nen Zugang hat­te, von denen ich wuss­te, dass sie bald das Zeit­li­che seg­nen wür­de. Angeb­lich stand die Hal­le bereits unter Denk­mal­schutz, als dies geschah. Den Feh­ler wür­de ich nicht noch ein­mal machen – mei­ner bewah­ren­den Ver­lust­angst sei gedankt. Die Mar­ler Bau­vi­sio­nen der 1960er-Jah­re muss­te ich ablich­ten, waren sie doch wie die aus mei­ner Jugend, wie die Kat­to­wit­zer Super­ein­heit des Archi­tek­ten Miec­zysław Król mit ihren 762 Woh­nun­gen für nahe­zu 3.000 Men­schen und der Dan­zi­ger Falowiec, der als 850 Meter lan­ge Plat­ten­bau­wel­le für 6.000 Men­schen kon­zi­piert wur­de. Das Rat­haus ent­sprach sowohl dem schöp­fe­ri­schen Geist der Spo­dek – der flie­gen­den Unter­tas­se, die nie flog – gebaut für 11.000 Besu­cher, mit einer Estra­de für Sport, Musik und Tanz, wie z. B. das Ensem­ble des Fried­rich­stadt-Palasts aus Ost­ber­lin, das ich schon als Fünf­jäh­ri­ger dort bestau­nen durf­te, als auch dem grün­wei­ßen Dino­sau­ri­er – ein Hotel, der Blei­stift­spit­ze von Tade­usz Łobos ent­sprun­gen. Die­se Gebäu­de ver­kör­pern den moder­nis­ti­schen Geist im Bau und ihr Anblick erin­nert mich an die Gegen­wart der ewig flie­ßen­den Zeit und an die Ver­gäng­lich­keit. Die Erin­ne­run­gen an die groß­ar­ti­gen Archi­tek­tur­land­schaf­ten weck­ten die Lust zur Spu­ren­su­che in mir.

Nach mehr als 50 Jah­ren ihrer Exis­tenz sehe ich in den Land­schaf­ten der Moder­ne immer noch eine Städ­te­pla­nung im Dienst des Men­schen, genau das, was wir brau­chen, doch bemer­ke ich auch die Schat­ten­sei­ten, die sich vor allem bei der Wohn­raum­pla­nung zeig­ten. Der dama­li­ge Woh­nungs­bau spiel­te durch sei­nen Gigan­tis­mus und sei­ne Über­grö­ße der mensch­li­chen Ent­frem­dung und der städ­ti­schen Anony­mi­tät in die Arme – den eigent­li­chen Visio­nen sei­ner Zeit ent­ge­gen­ge­setzt. Sozi­al­de­mo­kra­tisch oder sozia­lis­tisch gebo­ren, ent­spran­gen die Bau­ten einer gesell­schaft­lich-poli­ti­schen Ideo­lo­gie, aber vor allem der Not­wen­dig­keit des Tei­lens im rasant statt­fin­den­den Auf­schwung der Nach­kriegs­zeit. Para­do­xer­wei­se, trotz Unter­drü­ckung der Reli­gi­on im Ost­block, waren sie einer durch und durch christ­li­chen Dok­trin ent­sprun­gen – einer Dok­trin, wel­che die Grund­la­ge für das Über­le­ben mensch­li­cher Gesell­schaf­ten bil­de­te – des Teilens.

Tei­len bedeu­te­te also, sei­ne Tage in hun­der­ten über­ein­an­der­ge­sta­pel­ten Wohn­ein­hei­ten zu ver­brin­gen. Ges­tern wie heu­te wird Wohn­raum meist von denen geteilt, die gezwun­gen sind, ihn zu tei­len. Das Christ­li­che des Tei­lens scheint aktu­ell mehr eine mar­gi­na­le Stel­lung ein­zu­neh­men, denn Tei­len wird mehr und mehr als Zweck und Zwang begrif­fen, aus des­sen Ras­ter die­je­ni­gen her­aus­fal­len, die es sich leis­ten kön­nen, nicht zu tei­len. Um die­sen Gedan­ken abzu­schlie­ßen: Ich hof­fe, dass Broek und Bak­e­ma ihre Häu­ser mit ande­ren geteilt haben, viel­leicht besa­ßen sie sogar meh­re­re. Ich fra­ge mich, wie genau hiel­ten es die städ­ti­schen und poli­ti­schen Ent­schei­dungs­trä­ger, die Vor­stän­de der Zechen und Kom­bi­na­te des Ostens und Wes­tens mit dem Tei­len, wenn es um sie selbst ging. Ich wünsch­te mir, sie han­del­ten vor­bild­lich, doch über dem Gedan­ken an die wun­der­ba­re Archi­tek­tur der Nach­kriegs­mo­der­ne schwebt immer eine Note der mora­li­schen Unru­he – vor allem über ihrem Woh­nungs­bau. Nichts­des­to­trotz – man kann ihr aus heu­ti­ger Sicht nicht abspre­chen, ihren Dienst für eine gute Gesell­schaft ver­nach­läs­sigt zu haben, und was die Ent­frem­dung des Men­schen anbe­langt, so nimmt sie wei­ter expo­nen­ti­el­le Aus­ma­ße an, an die die man­gel­haf­te Wohn­raum­pla­nung der 1960er- und 70er-Jah­re nicht annä­hernd her­an­rei­chen kann, und aus die­sem Grund hat die­se Archi­tek­tur noch nicht aus­ge­dient, son­dern ist im Gegen­teil wich­ti­ger denn je.

Die Nach­kriegs­mo­der­ne ten­diert dazu, ein Mahn­mal gegen Faschis­mus und für ein Mit­ein­an­der der Kul­tu­ren zu wer­den – ein Mahn­mal für Viel­falt. Mei­ne Begeis­te­rung wur­de ihr zuteil, weil sie mir zeigt, dass über­all mei­ne Hei­mat sein kann, und so lud sie mich immer wie­der ein, ihre wah­re Grö­ße aufs Neue zu ent­de­cken. Ob als sakra­les Haus Got­tes, Hal­len­bad oder Sport­hal­le aus den fet­ten Koh­le­jah­ren von Marl oder aus den Auf­bruchs­jahr­zehn­ten des Ost­blocks nach 1953 – domi­nant und cou­ra­giert stand das, was sie her­vor­brach­te, für jene Grund­wer­te, die für eine gesun­de und zufrie­de­ne Gesell­schaft ste­hen könn­ten – gegen Ego­is­mus, für Gerech­tig­keit, für Soli­da­ri­tät und Frei­heit, gegen Ras­sis­mus, für Gesund­heit und Bil­dung, für eine Wirt­schaft im Dienst der Men­schen und nicht umge­kehrt, sozi­al, uto­pisch und offen für die Zukunft. Ihre Bau­ten waren und sind Sym­bol für die Bestän­dig­keit des Gro­ßen im Men­schen und als sol­ches soll­ten sie die Zei­ten überdauern.

Die Vor­aus­set­zung dafür ist, dass wir sie respek­tier­ten und vor dem Zer­fall und dem Abriss schüt­zen, denn der raue Beton ist wit­te­rungs­an­fäl­lig und zieht schnell die Ungunst sei­ner Betrach­ter nach sich.

Als ich erfuhr, dass das Rat­haus saniert wird, woll­te ich drin­gend noch ein Foto machen. Ich hat­te nichts gegen ein Face­lif­ting, denn Sanie­run­gen erhal­ten den Zustand und sind in der Regel sinn­voll – die Zeit nag­te am Beton. Das Rat­haus steht unter Denk­mal­schutz, also alles gut, ruhig blei­ben, aber das alte Gesicht des Crei­ler Plat­zes soll­te als Erin­ne­rung die­nen, wie eine Post­kar­te, die man sei­nen Lie­ben aus dem Ost­see­ur­laub heim­schickt, weil es doch so schön war – nur für den Fall, dass der Visa­gist das Make­up zu stark auf­tra­gen wür­de und ich den Platz nicht wie­der­erken­nen könn­te. Es spielt für mich kei­ne Rol­le, ob in den Wei­ten des Vir­tu­el­len bereits tau­sen­de Bil­der vom Rat­haus gespei­chert waren, denn für mich war es wich­tig, dass die Fotos mei­ner Vor­stel­lung ent­spran­gen, und als ich den Platz foto­gra­fier­te, woll­te ich, dass sich das Motiv anfühlt, als hät­te ich es einer Post­kar­te ent­nom­men oder so ähn­lich zumindest.

Ein blo­ßes Doku­ment des Objekts in sei­ner Zwei­di­men­sio­na­li­tät war mir nicht genug, so such­te ich die geeig­ne­te Per­spek­ti­ve, war­te­te die Licht­stim­mung ab und ver­wan­del­te mei­ne urba­ne Land­schaft in das, was ich zum spä­te­ren Zeit­punkt sehen woll­te. Bevor ich abdrück­te, trat ich jedes­mal in Inter­ak­ti­on mit mei­ner Umwelt, fast kon­tem­pla­tiv, und set­ze ihr mei­nen per­sön­li­chen Spie­gel vor – dies­mal war­te­te ich, bis sich die Kon­stel­la­ti­on der sich auf dem Platz befin­den­den Men­schen der mei­ner Vor­stel­lung anglich, bevor ich aus­lös­te – wie die Bild­spra­che eines Post­kar­ten­mo­tivs mit dem Charme einer ver­gan­ge­nen Sehweise.

Am Leucht­tisch wird mir klar, dass ich von der rei­nen Doku­men­tar­fo­to­gra­fie abdrif­te­te, dem eige­nen ästhe­ti­schen Emp­fin­den zulie­be. In mei­nen Fotos war nichts zweck­ge­bun­den. Sie ent­stan­den in Bestim­mungs­frei­heit. Es gab kei­nen Redak­teur, der mir auf die Fin­ger schau­te, kei­nen Geld­ge­ber, der mei­ne Zeit­pla­nung dik­tier­te, kei­ne Mus­ter, die ich zwang­haft kopie­ren woll­te. Es gab kei­nen ande­ren Sinn für mei­ne Arbeit als den, den ich mir selbst erfand. Wenn ich ein Foto als Post­kar­te defi­nie­ren woll­te, die ich mir ima­gi­när aus der Ver­gan­gen­heit in die Zukunft sand­te, dann tat ich dies. Eigent­lich war ich sehr ein­sam in dem, was ich tat, und so wur­de der Takt­ge­ber mei­ne Zunei­gung zu einer schwer ergreif­ba­ren Bestän­dig­keit. Sie war der Doku­ment­ar­tist in mir, der ohne Pflicht­be­wusst­sein, jedoch mit Wert­schät­zung für das Foto­mo­tiv arbei­te­te. Ich foto­gra­fier­te das Rat­haus und die Uhr davor und Rechen­schaft leg­te ich aus­schließ­lich vor mir selbst ab und das mach­te mich und mei­ne Foto­gra­fie frei, aber äußerst einsam.

Hotel Sile­sia

Den Dino­sau­ri­er foto­gra­fier­te ich im glei­chen Jahr wie das Rat­haus von Marl. Von den Sieb­zi­gern bis in die Neun­zi­ger gehör­te das Gebäu­de zum Katow­i­cka-Stadt­pan­ora­ma so selbst­ver­ständ­lich dazu wie die Super­ein­heit der 762 Woh­nun­gen, die Spo­dek als Ver­an­stal­tungs­ort neben­an und die Luft zum Atmen – spä­ter wur­de das Gebäu­de für man­che ein Dorn im Auge, für ande­re Grund zur Nost­al­gie und zum Sehn­suchts­ob­jekt. Frü­her, als ich die grün­wei­ße Kera­mik-Fas­sa­de tags­über im Son­nen­schein ansah, erin­ner­te sie mich an die schup­pi­ge und glän­zen­de Haut eines Rep­tils. Mit­te der 2000er-Jah­re wur­de das Hotel geschlos­sen. Zwi­schen­zeit­lich dien­te es als Wer­be­flä­che und man konn­te zeit­wei­se eine rie­si­ge grün­wei­ße Kefir­fla­sche auf dem Gebäu­de sehen. Einst undenk­bar, war es doch eine gute Adres­se der Kate­go­rie LUX, ein luxu­riö­ses Eta­blis­se­ment, ein Sma­ragd mit hohem Stan­dard, vom Bau­mi­nis­te­ri­um aus­ge­zeich­net, das Gebäu­de und sein Pro­jektant Ing. Tade­usz Łobos. Wech­sel­stu­be für aus­län­di­sche Besu­cher. Unter den Hotel­gäs­ten auch die deut­sche Nationalelf.

An der Rezep­ti­on drei Chro­no­me­ter – Nowy Jork, Wars­za­wa, Tokio. In der ers­ten Eta­ge ein Kos­me­tik­sa­lon und ein Fri­seur der atem­be­rau­ben­den Dau­er­wel­len. Außer­dem ein Pewex – Waren gegen grün­wei­ße Dol­lar, und angeb­lich ein Klub mit Strip­tease, ein Cafe, drei Kon­fe­renz­sä­le, eine Antik- und Kunst­ga­le­rie, ein Restau­rant. Hier stie­gen die Grö­ßen der Film­bran­che, Sport­ler, Poli­ti­ker und Busi­ness­leu­te ab. Ich fand her­aus, dass hier bereits Krzy­sz­tof Pen­der­ecki, Kazi­mierz Kutz, die Enke­lin Kor­fan­tys, der Nob­list Josif Brod­ski, Czesław Miłosz, Jer­zy Mak­sy­m­i­uk, Kwaś­niew­ski, Charles Azna­vour und Andrzej Waj­da und nicht zu ver­ges­sen und zu guter Letzt Ronald, mein alter Freund aus Szom­bier­ki, beher­bergt wur­den. Der Dino­sau­ri­er beher­berg­te Pro­mi­nenz und nicht nur die, denn – nicht zu ver­ges­sen – er war der sozia­lis­ti­schen Idee ent­sprun­gen und dem­entspre­chend war auch sei­ne Einstellung.

Im neu­en Mill­en­ni­um kamen die Gäs­te sel­te­ner. Das Gebäu­de wur­de maro­de und sei­ne Ver­wal­ter kon­kur­renz­mü­de. Die Men­schen tratsch­ten. Man­che sag­ten, dass der Eigen­tü­mer, das Orbis Polish Tra­vel Office, absicht­lich Miss­wirt­schaft betrei­ben wür­de, um das Grund­stück inmit­ten von Kat­to­witz zu ver­kau­fen, ande­re bedau­er­ten, dass man nach der Schlie­ßung des Hotel­ca­fé nir­gends mehr einen so guten Käse­ku­chen bekom­men wür­de, nie mehr – mein Gott! Der Dino­sau­ri­er vege­tier­te und wur­de mehr­mals samt Grund­stück an ver­schie­de­ne Gesell­schaf­ten wei­ter­ge­reicht – an jedem Tratsch war anschei­nend etwas Wah­res dran. Sowas pas­siert über die Köp­fe hin­weg, wäh­rend man an den guten Käse­ku­chen denkt. Wäh­rend­des­sen mach­ten Jour­na­lis­ten und Blog­ger Schlagzeilen:

„Sile­sia wird abge­ris­sen! Wann hört es auf, das Zen­trum zu verschandeln?“

Oder: „Moloch wird abge­ris­sen. Das Sym­bol der Ver­gan­gen­heit löst sich auf. Ein Luxus­sym­bol in der Zeit der Volks­re­pu­blik – Sile­sia ver­schwin­det Stück für Stück“. 

Oder hier: „Es gab mal ein Hotel. Dies ist die bit­ter­sü­ße Geschich­te eines grü­nen Unge­heu­ers namens ‚Schle­si­en‘“.

Man­che schüt­tel­ten den Kopf, ande­re nick­ten zustim­mend und wenn es vor­bei ist, kommt das Bedau­ern, oh, was war das schön damals.

Als ich nach Jahr­zehn­ten mei­ner Abwe­sen­heit eines Herbst­abends das Sile­sia sehe, schaue ich einem ster­ben­den Dino­sau­ri­er in die Augen. Sein Innen­le­ben war seit drei­zehn Jah­ren ver­stummt – kein Besu­cher und kein Käse­ku­chen mehr, doch die Fas­sa­de stand auf­recht. Zum Schluss wur­de sein Inne­res ver­scher­belt, denn es soll von Wert gewe­sen sein. Ein bedau­erns­wer­tes Ende. Ich foto­gra­fier­te ihn. Ich dach­te dar­an, was sein Pro­jektant, sei­ne Assis­ten­ten und die vie­len Künst­ler und Hand­wer­ker, die einst an sei­ner Fer­ti­gung arbei­te­ten, über die gan­ze Sache den­ken wür­den, und war­um Men­schen einer Epo­che in par­tei­li­cher, fei­er­li­cher Manier und posau­nend das rote Band zur Eröff­nung durch­schnei­den und wie­der­um ande­re nach nur einem hal­ben Men­schen­le­ben es mit Bag­gern im Namen des Fort­schritts und Wachs­tums nie­der­rei­ßen. Den Archi­tek­ten kön­nen wir dazu nicht mehr befra­gen. Viel­leicht ist es bes­ser so, denn was soll­te er schon sagen?

Viel­leicht: „Ist nicht schlimm, Mar­tin, den Lon­do­ner Crys­tal Palace von Pax­t­on im vik­to­ria­ni­schen Bau­stil hat­te es weit­aus schlim­mer getrof­fen, es war das Feu­er, das wüte­te, und ganz zu schwei­gen von Mino­ru Yama­sa­kis post­mo­der­nem World Trade Cen­ter, den bär­ti­ge Fana­ti­ker auf dem Gewis­sen haben. Wenigs­tens haben wir es geschafft, das Mobi­li­ar zu ver­scher­beln, und es ist nie­man­dem auch nur ein Haar gekrümmt wor­den. Bleib ma‘ locker!“

„Sile­sia wird abge­ris­sen! Wann hört es auf, das Zen­trum zu verschandeln?“

Oder: „Moloch wird abge­ris­sen. Das Sym­bol der Ver­gan­gen­heit löst sich auf. Ein Luxus­sym­bol in der Zeit der Volks­re­pu­blik – Sile­sia ver­schwin­det Stück für Stück“. 

Oder hier: „Es gab mal ein Hotel. Dies ist die bit­ter­sü­ße Geschich­te eines grü­nen Unge­heu­ers namens ‚Schle­si­en‘“.

Man­che schüt­tel­ten den Kopf, ande­re nick­ten zustim­mend und wenn es vor­bei ist, kommt das Bedau­ern, oh, was war das schön damals.

Als ich nach Jahr­zehn­ten mei­ner Abwe­sen­heit eines Herbst­abends das Sile­sia sehe, schaue ich einem ster­ben­den Dino­sau­ri­er in die Augen. Sein Innen­le­ben war seit drei­zehn Jah­ren ver­stummt – kein Besu­cher und kein Käse­ku­chen mehr, doch die Fas­sa­de stand auf­recht. Zum Schluss wur­de sein Inne­res ver­scher­belt, denn es soll von Wert gewe­sen sein. Ein bedau­erns­wer­tes Ende. Ich foto­gra­fier­te ihn. Ich dach­te dar­an, was sein Pro­jektant, sei­ne Assis­ten­ten und die vie­len Künst­ler und Hand­wer­ker, die einst an sei­ner Fer­ti­gung arbei­te­ten, über die gan­ze Sache den­ken wür­den, und war­um Men­schen einer Epo­che in par­tei­li­cher, fei­er­li­cher Manier und posau­nend das rote Band zur Eröff­nung durch­schnei­den und wie­der­um ande­re nach nur einem hal­ben Men­schen­le­ben es mit Bag­gern im Namen des Fort­schritts und Wachs­tums nie­der­rei­ßen. Den Archi­tek­ten kön­nen wir dazu nicht mehr befra­gen. Viel­leicht ist es bes­ser so, denn was soll­te er schon sagen?

Viel­leicht: „Ist nicht schlimm, Mar­tin, den Lon­do­ner Crys­tal Palace von Pax­t­on im vik­to­ria­ni­schen Bau­stil hat­te es weit­aus schlim­mer getrof­fen, es war das Feu­er, das wüte­te, und ganz zu schwei­gen von Mino­ru Yama­sa­kis post­mo­der­nem World Trade Cen­ter, den bär­ti­ge Fana­ti­ker auf dem Gewis­sen haben. Wenigs­tens haben wir es geschafft, das Mobi­li­ar zu ver­scher­beln, und es ist nie­man­dem auch nur ein Haar gekrümmt wor­den. Bleib ma‘ locker!“

Oder er wür­de sagen: „Herr Jan­c­zek, ver­ste­hen Sie nicht? Die Zeit ist ein Unge­heu­er, das sich selbst in den Schwanz beißt. Sie nimmt sich das, was sie her­vor­ge­bracht hat, auf ihre Wei­se und lässt sich von kei­nem sagen, wie sie es zu machen hat, ob als reli­giö­ser Fana­ti­ker, Spe­ku­lant, Inves­tor oder in ihrem natür­li­chen Zustand, als Entro­pie, als Moo­se, Flech­ten und die wüten­den Ele­men­te. Die Zeit kippt jede Ord­nung. Was dach­ten Sie denn? – Sie Idiot!“

Viel­leicht wür­de er aber auch sagen: „Geschmack ist erlern­bar“, und dass wir unser Erbe pfle­gen soll­ten, da es uns Bestän­dig­keit, Sta­bi­li­tät und Weis­heit brin­gen kann, alles Din­ge, die wir als rasan­te Gesell­schaft jetzt drin­gen­der denn je brau­chen, um uns selbst nicht aus den Augen zu ver­lie­ren. Er wür­de sagen: „Wir müs­sen unse­re Väter bes­ser ver­ste­hen, denn sie sind in uns und wir in ihnen“, und dass wir den­ken soll­ten, bevor wir handeln.

Ich hat­te es eilig und es ist spät gewor­den. Mein Sta­tiv hat­te ich nicht mit, also lehn­te ich den Appa­rat seit­lich an eine Later­ne und kon­ser­vier­te den archi­tek­to­ni­schen Kada­ver mehr schlecht als recht auf mei­ne Wei­se. Wahr­schein­lich wür­de Łobos sagen, ich sol­le sorg­fäl­ti­ger arbei­ten und über­haupt alle Archi­tek­ten wür­den das Glei­che sagen. Arbei­te sorg­fäl­ti­ger und hör auf dei­nen Vater, pje­ro­na, zum Don­ner­wet­ter! „Aber ich hab doch so schlech­te Objektive“.

Der letz­te Bus fuhr ohne mich und ich muss­te zu Fuß in mei­ne Unter­kunft wegen der Pal­me, die ich zwang­haft ver­such­te, ins Bild zu bekom­men, wäh­rend der Bus nicht auf mich war­te­te – Pal­men beka­men mei­ne Auf­merk­sam­keit, denn sie waren Sym­bo­le für Sehn­sucht, und die Koh­le unter mei­nen Füßen war aus ihnen her­vor­ge­gan­gen. Am nächs­ten Tag hat­te mein Vater Geburts­tag, daher woll­te ich Ober­schle­si­en schnellst­mög­lich ver­las­sen und ins Ruhr­ge­biet zurückkehren.

Eini­ge Mona­te danach ver­ließ der Dino­sau­ri­er end­gül­tig und unum­kehr­bar die Kat­to­wit­zer Stadt­land­schaft. Er war ein ver­trau­ter Zeit­ge­nos­se im urba­nen Raum, in dem zuneh­mend die Glas­fas­sa­de domi­nier­te. Jetzt sah ich ihn nur noch auf mei­nen Leucht­tisch, spür­te sei­nen Geist und über­leg­te, wie­so ich ihn nicht …

Nach­trag zur Erkenntnis

Die Ver­gäng­lich­keit war also mein Ansporn, weil sie unum­kehr­bar das Ver­trau­te ver­schlang. Das Gefühl von Irrever­si­bi­li­tät lös­te einen Greif­re­flex aus und ich bewahr­te das Ver­trau­te und das, was mich beschäf­tig­te, vor dem Ver­ges­sen, indem ich auf den Aus­lö­ser drück­te. Ich mut­maß­te über den Grund dafür und such­te in mei­ner Migra­ti­ons­ge­schich­te. Ich muss­te tief in mich bli­cken und lan­ge mei­ne Foto­gra­fien anschau­en, bis ich erkann­te, dass sich dahin­ter weni­ger Ängs­te ver­bar­gen, viel­mehr die Lebens­lust und Zunei­gung zu Men­schen und zu dem, was sie erschu­fen – Gefüh­le lie­gen eben oft sehr eng bei­ein­an­der, sind mit­ein­an­der ver­wo­ben und nicht immer klar trenn­bar. Ich foto­gra­fier­te aus Wert­schät­zung der geis­ti­gen Errun­gen­schaf­ten, der klei­nen wie der gro­ßen, und mich inter­es­sier­te der Wan­del, der sie betraf. Es war der Aus­druck mei­ner Hin­nei­gung zur Welt der Lie­be, die man in die Wie­ge gelegt bekom­men hat­te, zusam­men mit der Gabe der Beob­ach­tung. Mei­ne Migra­ti­on und die Ver­lust­angst waren gute Lücken­bü­ßer in mei­ner Selbst­ana­ly­se, waren sicher­lich nicht unbe­tei­ligt, doch wür­de ich gewiss auch ohne Migra­ti­ons­ge­schich­te im Nacken das Rat­haus und den grün­wei­ßen Dino­sau­ri­er bestau­nen, ob mit oder ohne Foto­ap­pa­rat, weil ich ein Ästhet bin und hin­ter einer blo­ßen alten Fas­sa­de das Wesent­li­che suche, das sich im Geist offen­bar­te, auf den zwei­ten Blick.

Nach­wort – Bestän­dig­keit ist nicht greifbar

Ich woll­te auf mei­nen Fotos die Zeit fest­hal­ten, die A40 – Lebens­ader einer Regi­on, den Sport als ihr Herz­schlag, der dem Wan­del trotzt, den Duis­bur­ger Rhein als den Lauf der Zeit selbst. Ich foto­gra­fier­te die Hei­li­ge Bar­ba­ra im Glau­ben an den Glau­ben, den Men­schen in sich tra­gen und der sie trägt. Ich begab mich zu den Orten der Arbeit, die ihrem Zweck ent­weiht waren und fand dort Splash, Pal­men und Cha­mä­le­ons vor.

Mei­ne Spu­ren­su­che hat ein Ende gefun­den, die Angst vor der Ver­gäng­lich­keit, die ich anfangs ver­spür­te, hat sich mit jedem Foto, das ich mach­te, mehr und mehr in Mut gewan­delt. Gegen­wär­tig bli­cke ich der Zukunft direkt ent­ge­gen. Die Nost­al­gie ist fort und ver­ges­sen, die Sehn­sucht ans Ende der Welt geschickt zu den Pal­men, dem Meer und der Bri­se – Din­ge, denen ich lan­ge abschwor in aske­ti­scher Selbst­dis­zi­plin. Ich bin wie­der offen. Ich habe foto­gra­fiert, um das Ver­trau­te und die Bestän­dig­keit zu finden.

Die Foto­gra­fie war mein Detek­tor, nicht mehr als ein Werk­zeug, das eigent­lich belie­big aus­tausch­bar ist. Ich habe das Ver­trau­te und die Bestän­dig­keit in der Außen­welt gesucht, aber in mir gefun­den. Die Bestän­dig­keit war so bestän­dig wie eine Sei­fen­bla­se. Weil sich die Zeit nicht fest­hal­ten ließ, zer­platz­te sie immer wie­der wie ein Traum beim Auf­wa­chen. Des­we­gen beschlie­ße ich, auf­zu­bre­chen und eins mit der Welt zu wer­den, um mich um ihre Ach­se zu dre­hen, statt sie beharr­lich anzu­star­ren – die Welt, die sich im Auf­bruch befin­det, wird mir von nun an zuteil wer­den – viel­leicht fol­ge ich dem Rat mei­ner Toch­ter und fah­re nach Funa­fu­ti, wo die Infra­struk­tur so win­zig ist wie die Quan­ten­me­cha­nik von Atomen.

Tuva­lu klingt wie das Gegen­stück zu mei­nen gedank­li­chen Que­run­gen – viel­leicht das letz­te feh­len­de Puz­zle­teil, ein Gedan­ke, der mich woan­ders hin­führt – ich fin­de den Rat­schlag nicht schlecht – das wird mich jetzt beschäftigen.

Doch ich habe bereits mei­nen Sinn gefun­den und es ist einer­lei, wo ich hin­ge­hen wer­de. Ich fand das Essen­zi­el­le des Lebens, weil ich mei­ner inne­ren Stim­me folg­te wie den Spu­ren im Schnee, bevor sie schmol­zen. Zuerst ging ich dort­hin, wo ich her­kam, nach Hau­se, weil in mir die Sehn­sucht glüh­te wie der Koks im Koks­ofen – nach Jah­ren immer noch nicht erlo­schen. Das führ­te mich zum Fried­hof mei­ner Ahnen und zu mei­nem Urgroß­va­ter Paul, der mich an sei­nem Grab zurecht­ge­wie­sen hat – wohin wir gehen und dass Abschied und Los­las­sen wich­tig sei­en. Er sag­te zu mir, wenn ich weiß, woher ich kom­me und wohin es geht, dann ken­ne ich den Sinn, und dann noch: „Jero­na! Mar­cin … idź już na Hono­lu­lu kro­wy paść i nie ner­wuj“ – ped­zioł mi. Also: „Don­ner­wet­ter, Mar­tin … geh nach Hono­lu­lu, Kühe mel­ken, und geh mir nicht auf die Ner­ven” – hat er mir gesagt.

Als ich damals zuhau­se in Biel­s­zowice ange­kom­men war und er mich zurecht­wies, fand ich zwar kein Heim mehr, aber vol­ler Erleich­te­rung die glü­hen­den Koks­öfen aus mei­ner Erin­ne­rung wie­der. Sie waren so prä­sent wie sie nur hät­ten sein kön­nen, wirk­li­cher als jede Rea­li­tät, mehr wie einem Traum ent­nom­men. Als ich eini­ge Jah­re spä­ter das Rat­haus von Marl foto­gra­fier­te, wuss­te ich bereits, dass das Glü­hen, das mich beschäf­tig­te, über­all auf­find­bar war, grenz­über­schrei­tend, wenn man woll­te, wenn man es ver­stand, hin­ter die Fas­sa­den zu bli­cken und in der Form der Din­ge zu lesen und die Zeit und den Zeit­fluss verstand.

Das, was sich hin­ter dem Koks­ofen ver­barg, war der simp­le Gedan­ke, dass sich irgend­wo, irgend­wann jemand dar­um küm­mer­te, dass es ande­ren Men­schen warm war, wäh­rend sie auf den Bus war­te­ten – ein Gedan­ke, der in mir über­dau­er­te, denn er war warm und mensch­lich. Das war das, was sich ent­ge­gen allem Anschein sowohl hin­ter den schrof­fen Fas­sa­den des Bru­ta­lis­mus ver­barg als auch dem lee­ren Blick des grün­wei­ßen Dino­sau­ri­ers in Kat­to­witz bei­wohn­te, tau­send Kilo­me­ter wei­ter in einer Parallelwelt.

Tache­les gespro­chen – es geht um das geis­ti­ge Erbe sowohl im Klei­nen eines Koks­ofens wie im gro­ßen Maß­stab einer visio­nä­ren Stadt­land­schaft – es geht um den Geist, sei­ne Tran­szen­denz und das Licht, das er aus­strahlt, und sein Wesen, das glei­cher­ma­ßen in der äuße­ren Welt wie im Spie­gel in einem selbst leuch­tet. Ich erblick­te es, indem ich das such­te, was Söh­ne von Vätern erben kön­nen, wenn sie ihnen auf­merk­sam gegen­über­tre­ten und hor­chend beob­ach­ten – nicht unbe­dingt gehor­chend. Ich konn­te es sehen, weil ich mich für den Pro­zess der fort­schrei­ten­den Zeit inter­es­sier­te und für das geis­ti­ge Erbe.

Ich schlie­ße ab. Ich habe mei­ne Fotos und schaue auf sie wie auf Spu­ren im Schnee – weni­ge Minu­ten Belich­tungs­zeit auf ins­ge­samt 252 Fotos – gewiss, dass sie frü­her oder spä­ter schmel­zen wer­den, wenn es wär­mer wird. Jetzt bin ich im Kla­ren über die End­lich­keit ihrer Moti­ve, ihrer selbst und mei­ner. Ich habe lan­ge nach hin­ten geschaut, um Luft zu holen für den Blick in die Zukunft. Jetzt, wo ich abschlie­ße, kann und will ich vor­wärts bli­cken und mah­nend fest­stel­len, dass Men­schen ihr Erbe zu pfle­gen haben, weil sie auf die­se Wei­se ihren Nach­fah­ren Bestän­dig­keit, Sta­bi­li­tät und Weis­heit schen­ken, Wer­te, die sie zukünf­tig drin­gend brau­chen wer­den, damit sie sich nicht aus den Augen ver­lie­ren, wenn es drauf ankommt. Die Mar­ler haben rich­tig gehan­delt. Unter­des­sen kön­nen sie, wenn es nötig sei, ihre gemein­sa­men Wur­zeln wie­der­fin­den und auf sie zurück­bli­cken, weil sie auf die Grö­ße ihrer Vor­fah­ren ver­trau­en kön­nen – wie ich am Grab eines Urgroß­va­ters. Wenn das nicht mehr geht, dann gibt es noch den Glau­ben, des­sen gren­zen­lo­se Grö­ße von vie­len unter­schätzt wird, von denen, die auch die Kraft der Erin­ne­rung unter­schät­zen. Ich kann mich glück­lich schät­zen, erkannt zu haben, dass eine Hei­mat kei­ne Gren­zen braucht, weil man sie in sich trägt als Glau­be an sie. Hei­mat kann über­all sein – in Kat­to­witz, Marl oder auf Funa­fu­ti, wenn man bereit ist, hin­ter die Fas­sa­den zu bli­cken, um das Wesent­li­che zu ent­de­cken. Für die­se Erkennt­nis muss­te ich mich auf eine Suche bege­ben, im Glau­ben, dass ich das fin­de, was mir fehl­te. Wie ein her­ren­lo­ser Hund in Loya­li­tät und Zunei­gung zur Welt kom­plet­tier­te ich mei­ne Fotos zu einer Serie, die kei­ne war. Wie hoff­nungs­los sind die, die ihre Hei­mat in Abschot­tung und Abgren­zung suchen.

Jetzt zie­he ich ein Resü­mee, eine beflü­geln­de Beich­te, dem Ein­druck nahe, nicht wirk­lich klü­ger gewor­den zu sein, aber eine Licht­ge­stalt im Nebel erkannt zu haben. Es freut mich sehr, dass die Hand­schrift, die mei­ne Fotos tra­gen, nicht von Ver­lust geprägt ist, denn mei­ne Fotos stel­len sich über das trau­ri­ge Gefühl von Nost­al­gie. Ich ver­ste­he jetzt, dass mei­ne Moti­va­ti­on die ver­ge­hen­de Zeit an sich war, jene Meta­ebe­ne, die Men­schen zu Hand­lun­gen aller Arten bewegt.

Für die­ses simp­le Erken­nen dach­te ich über die Zeit nach bis hin zur Sinn­lo­sig­keit: Was wür­de die Welt ohne die Zeit sein? Undenk­bar. Wie soll­te sie aus­se­hen? Cho­pin wür­de ewig spie­len, Adolf wür­de ewig brül­len, ich wür­de nie auf­hö­ren zu schrei­ben? Mein Aus­lö­ser wür­de nie schlie­ßen. Ohne sie gäbe es uns nicht. Unse­re Müt­ter wür­den uns nicht gebä­ren, und wenn doch, so wür­de der Schmerz nie ver­ge­hen, wir wür­den Cho­pin und van Gogh nicht zu wür­di­gen wis­sen und es gebe unend­lich vie­le Zeit­ebe­nen, die ein­zeln für sich exis­tie­ren oder auch nicht, denn sie wür­den nicht mehr Zeit­ebe­nen hei­ßen kön­nen, weil es die Zeit ja nicht gäbe. Bestehen­de Ord­nun­gen wür­den ewig andau­ern oder ewig zer­fal­len. Ad absur­dum – den Urknall hät­te es nie gege­ben, Rolex gäbe es auch nicht. Natur­wis­sen­schaft­ler wür­den fort­wäh­rend über mei­ne gedank­li­chen Ansät­ze schmun­zeln. Ich weiß, so könn­ten höchs­tens das Para­dies und die Ewig­keit aus­se­hen, aber nicht unse­re pro­fa­ne Welt mit dem, was sie uns bie­tet. In die­ser Welt kann nur der Geist ewig über­dau­ern. Nur der Geist besitzt die Eigen­schaft, in Din­ge zu schlüp­fen und ande­re For­men anzu­neh­men. Nur der Geist kann ewig leben. Von Vätern an Söh­ne wei­ter­ge­reicht, von Söh­nen in Schrift und Form gebracht und in der Zeit fest­ge­hal­ten, ist der Geist das eigen­ar­tigs­te Wesen, das mir je begeg­ne­te – in der Archi­tek­tur, Lite­ra­tur, Musik, in der Kul­tur­land­schaft und am Ende der Welt in Reck­ling­hau­sen oder Her­ne. Der Geist ist der Kos­mos, der sich selbst zu ver­ste­hen ver­sucht. Wenn etwa Ein­stein oder Haw­kins oder mei­ne Groß­mutter über den Kos­mos grü­bel­ten, so war das, als wür­de der Kos­mos über sich selbst nach­den­ken, denn wir sind das Uni­ver­sum und das Uni­ver­sum ist in uns. Denn wir sind durch ihn und mit ihm und in ihm, im Namen des Vaters und des Soh­nes und des Geis­tes, jetzt und in Ewigkeit.