Bielszowice

Kapitel II

     

Bielszowice. Wer die Stadt kennt, weiß, dass sie wogt wie das Meer

„Bielszowice“ ist eine Geschichte darüber, wie ich ein Foto auf dem Friedhof gemacht habe, wer mein Urgroßvater Paul war und wie eine runde Aluminiummedaille ihren Weg nach Deutschland fand. Sie ist eine Erzählung über meine Heimat, über die verstreichende Zeit und das Verlassen. „Bielszowice“ ist ein persönliches Porträt einer wogenden Stadt mit verträumten Erinnerungen aus dem Herzen Oberschlesiens.

Sau­er­kraut in einer grau­en Papier­tü­te für zehn Zlo­ty, zwei ein­ge­leg­te Salz­dill­gur­ken direkt aus einem blau­en Zwei­hun­dert-Liter-Plas­tik­fass für acht Zlo­ty, gerös­te­ter Puffreis: 15 Zlo­ty, das Donald Bubble Gum: 15 Zlo­ty. Im Lebens­mit­tel­ge­schäft auf der ul. Kościel­na (Kirch­stra­ße) gibt es alles, was sich mein acht­jäh­ri­ges Herz auf dem Weg von der Schu­le wün­schen kann. Oder eine Oran­gea­de in einer Plas­tik­tü­te für zehn Zlo­ty, Oran­gea­de mit Spru­del in einer Fla­sche für 16 Zlo­ty, Oran­gea­de Man­da­ryn­ka, die Delu­xe-Vari­an­te für 23 Zlo­ty. Ob im Pavil­lon, dem Deli­ka­tes­sen­la­den oder beim pri­va­ten Gemü­se­händ­ler. In die­ser Stra­ße bekommst du alles, auch Toma­ten­saft für vier­zig und Pep­si für‘n Fuf­fi. Im Laden dann meis­tens der glei­che Dia­log zwi­schen mir und der Ver­käu­fe­rin: „Eine Fla­sche Oran­gea­de, bit­te!“ – „Zum Mit­neh­men oder vor Ort?“ – „Ich trin­ke sie hier“ – „Ist aber Pfand­fla­sche. Bringst sie?“ – „Frei­lich!“.

Als ich den schnee­be­deck­ten Fried­hof von Biel­s­zowice foto­gra­fier­te, war ich schon älter. Die meis­ten Gebäu­de in der Kirch­stra­ße waren ver­schwun­den. Tat­säch­lich hieß die Stra­ße Pow­stańców Śląs­kich, nach den schle­si­schen Auf­stän­di­schen von 1919–21 benannt, doch wer hier gebo­ren wur­de, zog es vor, den alten Namen der ältes­ten Stra­ße von Biel­s­zowice zu ver­wen­den. Ich kam in die Stadt, in der ich gebo­ren wur­de, mit der Absicht, wie­der an den alten Geist mei­ner Hei­mat anzu­knüp­fen, an den Geist der Zeit, in der ich hier zuhau­se war. Ich stieg in einem beschei­de­nen Man­sar­den­zim­mer im Strzel­ni­ca Park Hotel ab und dach­te über Orte nach, die ich besu­chen könn­te. Frü­her gab es anstel­le des Hotels ein Café mit Art-Déco-Stüh­len auf der Ter­ras­se und an der Kühl­the­ke wur­den Kin­der und Erwach­se­ne von bun­ten Gelees mit Schlag­sah­ne ver­führt. Zu die­ser Zeit hat­te der Park vie­le Attrak­tio­nen anzu­bie­ten. An Win­ter­ta­gen wur­de sogar einen Ski­lift in Betrieb genom­men. Da es hier kei­ne wirk­li­chen Ber­ge gab, wur­de die Schlucht einer bereits geschlos­se­nen Sand­gru­be genutzt. Der Schle­si­er war mit gro­ßer Erfin­dungs­kraft geseg­net. Die­se Gabe mach­te in die­sem Fal­le aus einem Loch einen Berg! Folg­lich konn­te man hier auf Ski­ern, die man meis­tens aus Deutsch­land bekam, oder auf Bret­tern der Mar­ke Pol­sport abfah­ren und ver­ges­sen, wo man sich eigent­lich befand. In der Nähe der Ski­pis­te gab es eine Eis­bahn mit Schlitt­schuh­ver­leih, wo man auch ein Glas Tee mit einer Zitro­nen­schei­be bekam, und direkt dane­ben eine Rodel­bahn. Hier herrsch­te reger, geschäf­tigs­ter Hoch­be­trieb. Schon aus der Fer­ne erreich­te dich die Fröh­lich­keit des Glei­tens, die Lau­te der krei­schen­den Kin­der und ihrer Eltern. An Win­ter­aben­den ging ich in Eile und mit gro­ßer Unge­duld hier­her, folg­te dem her­an­na­hen­den Trei­ben, zog den Schlit­ten, um mich so schnell wie mög­lich in die Gesel­lig­keit unter­zu­mi­schen und in die wun­der­ba­re und fröh­li­che Men­ge ein­zu­tau­chen. Die Däm­me­rung kam früh. Auf kur­ze fros­ti­ge Tage folg­ten kal­te lan­ge Näch­te. Des­halb blei­ben die Erin­ne­run­gen an die­sen Ort vom schim­mern­den und glän­zen­den Schnee und dem gelb­li­chen Later­nen­schein umhüllt.

Und im Som­mer? Im gepfleg­ten, her­aus­ge­putz­ten Park befand sich ein Amphi­thea­ter mit einer Kon­zert­mu­schel. Dort fan­den regel­mä­ßig Kon­zer­te und Auf­füh­run­gen statt. Wäh­rend der zahl­rei­chen Fes­te und Jahr­märk­te konn­te man hier unter ande­rem Rudi Schu­berth und die Band Wały Jagiel­lońs­kie mit ihrem berühm­ten Super­hit Die Toch­ter des Fischers anhö­ren oder ein­fach mit Zucker­wat­te in der Hand zwi­schen Karus­sell und Schau­keln schlen­dernd den Rum­mel genie­ßen. Ich war damals Schü­ler an der Sport­schu­le 17. Unse­re Schu­le hat­te sogar ein eige­nes Hal­len­bad. Im Früh­ling eröff­ne­te das Frei­bad im Park, das frei­lich etwas grö­ßer war und über einen Sprung­turm ver­füg­te. An den ers­ten hei­ßen Tagen nach der Rück­kehr von der Schu­le brach­te ich mei­nen Ran­zen nach Hau­se und ging dann ins Park-Schwimm­bad, mich son­nen und schwim­men. Viel­leicht wür­de ich die Blon­de antref­fen. Für das Son­nen­bad nahm ich Son­nen­öl mit, um mei­nem jugend­li­chen Kör­per Glanz zu ver­lei­hen. Ich woll­te imponieren.

An Sams­ta­gen besuch­te ich oft die mor­gend­li­chen Thea­ter­auf­füh­run­gen für Kin­der im Haus der Kul­tur. Sonn­tags ging ich in die Kir­che und nach der Mes­se zu den Hand­ball­spie­len des Sport­klubs Ein­tracht Biel­s­zowice oder zum Fuß­ball­spiel im Sta­di­on an der Stra­ße der Ath­le­ten in der Nähe des Parks. Nach dem Spiel aßen wir zu Mit­tag. Die Fleisch­brü­he für den ers­ten Gang war schon fer­tig und der haus­ge­mach­te Nudel­teig trock­ne­te auf einem Tuch im son­ni­gen Gäs­te­zim­mer. Als Haupt­gang gab es schle­si­sche Knö­del mit Sau­er­kraut und Bra­ten. Dann ein Spa­zier­gang ins Eis­ca­fé. Wie­ner Sah­ne, Hei­del­bee­re, Rosi­nen und Wal­nuss­eis im zar­tem Waf­fel­hörn­chen oder Kuchen mit Schlag­sah­ne. Man konn­te auch in den Park rund um das Haus der Kul­tur gehen, um vor Ort die Ren­nen der Minia­tur­au­to­mo­bi­le zu sehen. Die­se Fahr­zeu­ge wur­den von Ver­bren­nungs­mo­to­ren ange­trie­ben und lie­fen, mit einem Stahl­seil am zen­tra­len Punkt befes­tigt, mit enor­men Lärm und Tem­po rund um die Strecke.

Im dama­li­gen Fern­se­hen lief pünkt­lich zum Wochen­en­de Der Frei­tag mit Pan­kra­cy und sei­nem lus­ti­gen Hund – beliebt vor allem bei Kin­dern, deren Eltern noch arbei­ten muss­ten. Außer­dem Pegaz, ein publi­zis­ti­sches Maga­zin am Abend. In der Früh Die Kra­ni­che zie­hen und ande­re Sowjet-Pro­duk­tio­nen, Do it yours­elf, die Sen­dung für Heim­wer­ker, Son­da, ein fes­seln­des Wis­sen­schafts­ma­ga­zin, Sho­gun oder Die Skla­vin Isau­ra, eine bra­si­lia­ni­sche Tele­no­ve­la, Fol­ge zehn­tau­send­sechs­hun­dert, Die Dor­nen­vö­gel, mit Richard Cham­ber­lain als Ralph de Bri­cass­art, Rück­kehr nach Eden, Die Hit­pa­ra­de im Zwei­ten oder die TV-Hit­lis­te mit Hits wie Die Affen­fa­brik von Lady Pank, Die Schön­heit ver­blasst in uns von Seweryn Kra­jew­skis oder Kom­bis Have a nice and sweet life. An mei­nem Geburts­tag, pünkt­lich zum Sie­ges­tag über Hit­ler­deutsch­land und den Faschis­mus, zeig­ten sie eine Mili­tär­pa­ra­de aus War­schau oder Mos­kau als Live­über­tra­gung. Und im Kino? Gleich neben unse­rem Wohn­block befand sich das Kino namens Freu­de. Wem drei Fern­seh­pro­gram­me nicht genüg­ten, der ging in die Freu­de. Dort spiel­ten sie Der Mann mit der Todes­kral­le mit Bruce Lee, Guests from the Gala­xy, eine kroa­tisch-tsche­cho­slo­wa­ki­sche Pro­duk­ti­on, Yel­low River Figh­ter, Das flie­gen­de Auge oder Spiel­bergs Pol­ter­geist und E.T.

Wir wohn­ten damals auf der ul. Rów­no­le­gła, also Par­al­lel­stra­ße. Die Woh­nung war hell, sau­ber und duf­te­te, wor­um sich mei­ne Eltern küm­mer­ten, wenn sie nicht gera­de bei der Arbeit oder im Gar­ten waren. Die Möbel waren staub­frei, die Böden gewachst und das Inne­re unse­rer M4-Vier­raum­woh­nung mit Blu­men geschmückt, die mal in einer Kris­tall- und mal in einer Por­zel­lan­va­se auf dem Tisch stan­den. Am liebs­ten ver­weil­te ich im Gäs­te­zim­mer. Man konn­te in einem Schau­kel­stuhl aus gefloch­te­nem Rat­tan wip­pend eine Ele­ni-Plat­te oder Wei­ne nicht, wenn ich gehe im Radio hören. An son­ni­gen Tagen dran­gen hel­le Licht­strah­len durch die Vor­hän­ge, füll­ten den Raum mit sei­de­nem Schein und ergos­sen sich über die glän­zen­de Möbel­wand, den blank polier­ten Tisch, den Ficus und den roten Divan, der dem Raum Wär­me und Gebor­gen­heit ver­lieh. Mei­ne Mut­ter arbei­te­te als Foto­gra­fin in einem Foto­be­trieb in Glei­witz und mein Vater war Berg­mann im Stein­koh­le­berg­werk neben­an und för­der­te direkt unter unse­rer M4. Die meis­ten Män­ner in der Stadt und in unse­rer Fami­lie waren Bergleute.

In den 1980er-Jah­ren hat­te Ruda Śląs­ka zehn Stadt­tei­le. Jeder Orts­teil hat­te eine ande­re Post­leit­zahl-Endung, von 1 bis 11. Biel­s­zowice war Ruda 11, Wirek 10, Nowy Bytom 9 und so wei­ter. Ruda 2 kam im Sys­tem ein­fach nicht vor. Eines Tages wer­de ich das Rät­sel lösen und her­aus­fin­den, was mit der Zwei geschah. Unse­ren Stadt­teil 11 sahen wir als eine eigen­stän­di­ge Stadt und nicht als irgend­ei­nen Bezirk an, eine Sicht­wei­se, die man auch im Ruhr­ge­biet antrifft, zum Bei­spiel bei den Men­schen aus Buer in Gel­sen­kir­chen oder den Wat­ten­schei­dern in Bochum. Damals hat­te Ruda 11 etwa 17.000 Ein­woh­ner und das dort ansäs­si­ge Berg­werk KWK Zabrze-Biel­s­zowice zähl­te 12.000 Beschäf­tig­te. Es scheint, dass fast alle Fami­li­en in unse­rer Stadt, wahr­schein­lich sogar alle, in irgend­ei­ner Wei­se mit dem Berg­werk ver­hei­ra­tet waren. Die Gru­be war unse­re Lebens­grund­la­ge, denn sie sicher­te unse­re Exis­tenz. Das Gru­ben­un­glück wie­der­um war für die Trä­nen ver­ant­wort­lich, die nach Unfäl­len ver­gos­sen wur­den. Das Berg­werk war der Grund für die Räu­mung von Häu­sern, die infol­ge von Berg­schä­den ein­zu­stür­zen droh­ten. Das Berg­werk sorg­te für uns und for­der­te von uns. Es orga­ni­sier­te Feri­en und bezahl­te Auf­ent­hal­te am Meer. Es dach­te an den Weih­nachts­mann und Geschen­ke für die Kin­der, lud Künst­ler ins Amphi­thea­ter ein, zahl­te Wit­wen und Kin­dern Ent­schä­di­gun­gen für ver­schüt­te­te Ehe­män­ner und Väter, betei­lig­te sich an den Bestat­tun­gen und lud die Berg­ar­bei­ter und ihre Fami­li­en unver­hoh­len zur Teil­nah­me am Sozia­len Akt ein, einer damals gän­gi­gen Art des unbe­zahl­ten Arbei­tens für den guten Zweck. In ihrer Frei­zeit ver­schö­ner­ten die Bewoh­ner die Stadt. Die Berg­leu­te bau­ten und ihre Frau­en schmück­ten die Sied­lun­gen, indem sie Blu­men vor den Häu­sern pflanzten.

Es gab Zei­ten, in denen Berg­leu­te im Park-Amphi­thea­ter die Sze­ne für dort auf­tre­ten­de Künst­ler rich­te­ten und Mikro­fo­ne auf­bau­ten. Das Berg­werk war immer und über­all. Es war ein Fix­punkt in einer sich stän­dig wan­deln­den Zeit. Sein Geruch ver­misch­te sich mit den duf­ten­den Lin­den in der Som­mer­hit­ze, mit dem Nebel, der im Herbst nach feuch­tem Laub und rau­chen­den Kachel­öfen roch, und im Win­ter mit dem atem­rau­ben­den Frost aus dem Osten und den Abga­sen eines schwer­be­la­de­nen Kamaz, der sich an einem belie­bi­gen Mon­tag­mor­gen oder mei­net­we­gen auch Mitt­woch­abend rußend die Koko­t­a­stra­ße hin­auf­quäl­te. Das Berg­werk war ein untrenn­ba­rer Teil der Stadt­land­schaft, und sein Atem war der per­ma­nent wahr­nehm­ba­re und all­ge­gen­wär­ti­ge Hall der arbei­ten­den För­der­bän­der, Schäch­te und Maschi­nen. Das Werk war und ist ein Metro­nom sei­ner Umge­bung. Es bestimmt den Rhyth­mus des Lebens und ist die Exis­tenz­grund­la­ge der Ein­woh­ner die­ser Stadt, aber oft auch Ursa­che ihres Todes. Auf dem Weg zur Schu­le lag es lin­ker­hand, wie eigent­lich auf allen mei­nen Wegen, sei es zu den Groß­el­tern, zum Obst­gar­ten und selbst zu Webers wun­der­ba­rer Kon­di­to­rei. Es war immer dort, wo es war. Nur auf dem Heim­weg hat­te ich es dann zu mei­ner rech­ten Seite.

Ein­mal, nach der Mor­gen­mes­se, foto­gra­fier­te ich das Berg­werk vom Kirch­turm auf der ande­ren Stra­ßen­sei­te. Der Mess­die­ner führ­te mich zur Turm­spit­ze über zahl­rei­che Lei­tern, ohne den Pfar­rer um Erlaub­nis gefragt zu haben. „Weil es so bes­ser ist“, sag­te er. Zum ers­ten Mal sah ich die Zeche aus der Vogel­per­spek­ti­ve. Die Ansicht erfüll­te mich mit Wohl­be­fin­den und ich mach­te ein Foto.

Seit Jah­ren ver­än­dert das Berg­werk dras­tisch das Pan­ora­ma unse­rer Stadt: Es reißt Wohn­häu­ser ab oder ver­an­kert ihre Fas­sa­den mit mäch­ti­gen Schrau­ben, um sie vor dem Ein­sturz zu bewah­ren. Es demon­tiert alte Gebäu­de und baut neue. Wohn­blö­cke ent­ste­hen auf beben­si­che­ren Plat­ten, damit sie dann als Gan­zes absa­cken können.

Das Berg­werk schüt­tet Ber­ge aus Taub­ge­stein auf, die soge­nann­ten Hal­den, ver­schmutzt Flüs­se und die Umwelt. Die­ses Berg­werk unter­gräbt die Stadt und ihre Umge­bung seit mehr als 120 Jah­ren und ist kei­nes­wegs das ers­te Berg­werk der Stadt. Sub­ter­ra­ne Ein­grif­fe wir­ken sich auf die geo­lo­gi­sche Struk­tur aus und ver­ur­sa­chen tek­to­ni­sche Ver­än­de­run­gen der Umge­bung. Spür­bar wie eine pul­sie­ren­de Aor­ta unter dem ärzt­li­chen Ste­tho­skop pocht und bebt hier die Erde. Kol­la­bie­ren­de Stol­len las­sen die Stadt absin­ken. Die Rau­b­öko­no­mie beschleu­nigt den Prozess.

All­jähr­lich infor­mie­ren loka­le Zei­tun­gen über ein­stür­zen­de Gebäu­de, absa­cken­de Stra­ßen und Senk­lö­cher, die in Ruda Śląs­ka nach hef­ti­gen Regen­fäl­len auf­rei­ßen. Hier ver­krampft die Erde und löst sich wie­der. Tei­che und Tüm­pel tau­chen aus dem Nichts auf und ver­sin­ken uner­war­tet. Wer sei­ne Stadt kennt, kann mit blo­ßem Auge erken­nen, wo sie gesun­ken ist und wo neue Höhen ent­stan­den sind. Wer sie kennt, weiß, dass die Stadt wogt wie das Meer.

Es ist Febru­ar 2010. Ich sit­ze im Hotel­zim­mer des Park­ho­tels und rich­te mei­nen Foto­ap­pa­rat ein. Ich bin gesund und wider­stands­fä­hig. In zwei Jah­ren wird mei­ne lie­be Toch­ter Mile­na gebo­ren, obwohl ich das in jenem Moment noch nicht weiß. Sie wird eine Erbin der Fami­li­en­ge­schich­te sein.

Vie­le Jah­re sind ver­gan­gen, seit ich Biel­s­zowice ver­las­sen habe. Jetzt bin ich gekom­men, um sie vor dem Alp­traum des Ver­ges­sens zu behü­ten, um die Erin­ne­rung zu bewah­ren, indem ich das, was war, in zwei­di­men­sio­na­le Foto­gra­fien gie­ße. Ich möch­te mei­ne Stadt sehen und spü­ren, am liebs­ten im alten Glanz, wie aus mei­ner bereits duns­ti­gen Erin­ne­rung ent­nom­men, doch ich weiß, dass ich zu lan­ge fort war, um jenen Geist der Ver­gan­gen­heit her­bei­zu­füh­ren. Wäh­rend mei­ner Abwe­sen­heit ist zu viel pas­siert. Die Uhr tick­te bestän­dig, wäh­rend ich weg war, und ich glau­be, ich habe in Reck­ling­hau­sen, mei­nem deut­schen Heim, einen süßen Traum geträumt. Jetzt geht es mir wie dem Hund aus dem sowje­ti­schen Film Wei­ßer Bim, Schwar­zes Ohr in der Regie von Sta­nisław Ros­to­cki aus dem Jahr 1977. Bim, ein treu­er Hund, der sein ver­schwun­de­nes Herr­chen sucht.

Bim bleibt allein und schafft es nicht, sehn­süch­tig auf die Rück­kehr sei­nes Herrn zu war­ten. Er macht sich auf die Suche nach ihm. „Was sitzt du denn hier so rum? Hast du dich ver­lau­fen? Sag, wo ist dein Heim?“, fra­gen die, die ihm begegnen.

Ja, ich bin jetzt hier in die­ser Stadt und ich füh­le mich irgend­wie zu Hau­se, doch ich kom­me nicht so rich­tig an. Viel­leicht hat sich zu viel ver­än­dert. Es ist ein kal­ter Win­ter­abend, ich ver­las­se das Hotel und ver­blei­be in mei­ner Hoff­nung, etwas zu fin­den. Ich spü­re die schle­si­sche Luft und erken­ne ver­trau­te Orte wie­der. Ich gehe und suche nach etwas. Ich weiß nicht, wohin ich gehen soll, also fah­re ich nach Hau­se. Nach Hau­se? Das war ein­mal. Ich ste­he vor dem Ein­gang des Wohn­blocks, in dem sich mei­ne Kind­heit abspiel­te. Vor dem Trep­pen­haus sind Gegen­sprech­an­la­gen instal­liert, die es hier wahr­schein­lich schon lan­ge gibt und mir die Mög­lich­keit des frei­en Zugangs zum Haus neh­men. Die Ein­gangs­tür ist geschlos­sen. Ich den­ke dar­an, wie oft mein Vater durch die Schwel­le die­ser Tür zur Nacht­schicht ins Berg­werk ging. Das Glück auf mei­nes Vaters hallt jetzt in mei­nem Kopf. Ein Glück auf, dem ein unbe­kann­ter Klang bei­wohn­te. Jetzt kann ich die unter­schwel­li­ge Wahr­heit die­ses Abschieds spü­ren. Die­se bei­den Wor­te sind ein schle­si­sches Gebet. Gott sei uns gnädig.

Ein Gefühl der Ein­sam­keit ergreift mich und gleich­zei­tig sehe ich kris­tall­klar. Wie ger­ne wür­de ich jetzt in den Duft des Trep­pen­hau­ses ein­tau­chen und das Aro­ma der frisch gewisch­ten Beton­trep­pe tief ein­at­men. Ange­lehnt an einem wär­men­den guss­ei­ser­nen Heiz­kör­per wür­de ich am liebs­ten den ölfar­bi­gen Duft der Lam­pe­rie, den Duft der trock­nen­den Beton­trep­pe, den Duft des Spül­mit­tels ein­at­men und für immer ein­be­hal­ten. Frü­her hät­te ich nicht den Bruch­teil einer Sekun­de an ein gewöhn­li­ches Trep­pen­haus gedacht. Doch das hat sich geän­dert. Es ist das Trep­pen­haus, durch das ich tag­ein, tag­aus in die Welt hin­aus­ging und unter­wegs all die Nach­barn, die mir begeg­ne­ten, mit einem freu­di­gen und auf­ge­schlos­se­nem „Guten Mor­gen!“ begrüß­te. Ein „Guten Mor­gen!“ für Frau Hul­in, für Frau Bolen­da, für die Kalem­bas, für Herrn Mro­zek. Mit Grü­ßen habe ich nicht gespart. Nur auf dem Rück­weg ver­gaß ich das Grüßen.

Der Ein­gang bleibt ver­schlos­sen. Ich lege mei­ne Hän­de auf die Glas­tür, um den Blick vor Licht­re­fle­xen abzu­schir­men und zu sehen, ob es ist, wie es war. Ich kann mei­ne Freun­de erken­nen und mich selbst, ich sehe, wie wir blin­de Kuh spie­len, wäh­rend wir auf den Pfar­rer und die Stern­sin­ger war­te­ten oder auf Herrn Hul­in, den Weihnachtsmann.

Ich sehe, wie ich vor Schmerz wei­ne, weil mein Dau­men zwi­schen die Schar­nie­re der schlie­ßen­den Woh­nungs­tür gera­ten ist. Ich sehe, wie ich im Haus­flur auf den Blät­tern der Blu­men kaue, um den Geruch der ers­ten gerauch­ten Ziga­ret­te zu über­la­gern. Doch die Klin­ken der Woh­nungs­tü­ren haben sich geän­dert – sie sind jetzt ein­sei­tig: von außen nur noch ein Knauf, kein Ein­gang mehr. Ich bin neu­gie­rig, wie der Kel­ler riecht. Der Kel­ler mit der lan­gen Trep­pe, aus dem ich Kar­tof­feln hol­te oder mein Fahr­rad, doch ich zie­he den Schwanz ein und gebe auf. Statt­des­sen schnüff­le ich in der Umge­bung und an der Fas­sa­de des Gebäu­des. In der Däm­me­rung und im Licht der Stra­ßen­la­ter­nen spal­ten sich die Erin­ne­rung und die Gegen­wart, die bis jetzt untrenn­bar waren, und ich muss die Ver­än­de­rung ein­ge­ste­hen. Die Blu­men­käs­ten sind ver­schwun­den. In jedem zwei­ten Fens­ter sehe ich eine Satel­li­ten­schüs­sel und Wän­de aus Poly­sty­rol. Wo frü­her ein Vol­ley­ball­feld war, gibt es jetzt einen Park­platz vol­ler par­ken­der Autos. Wo einst ein Spiel­platz mit Schau­keln, Sand­kas­ten und einer Rut­sche aus einem För­der­band von den Nach­barn errich­tet wur­de, ste­hen jetzt ihre BMWs. Ein Teil der Rasen­flä­che ist jetzt auch Park­platz. Das Heiz­ge­bäu­de mit dem Koks und dem ewi­gen Teer­fass davor und dem Schorn­stein, auf den ich über die ein­ge­mau­er­ten Eisen­stä­be hin­auf­stieg, um die Sied­lung von oben zu sehen, sind nicht mehr da, aber es gibt noch die Klopf­sz­tan­ga.

Ich fra­ge mich, was mei­ne Freun­de und Schul­ka­me­ra­den jetzt machen. Wo ist Gur­ke, Linek, Czmok, Kalem­ba, Dziuba, Śrub­ka, wo ist die Blon­de und Jus­ti­na? Ich schaue zum Fens­ter mei­nes Zim­mers hin­auf. Das Licht ist an. Dann gehe ich wie­der fort. Das Begeg­ne­te hat eine neue Gestalt bekom­men, es ist eine Bot­schaft und mein Inners­tes ver­mu­tet, wel­chen Inhalt sie trägt. Ich gehe wei­ter, ohne zu wis­sen, wohin. Etwas führt mich an der Hand. Ich bin am Fried­hof ange­langt. Ich suche nach dem ein­zi­gen Grab, an das ich mich erin­nern kann. Das Grab mei­nes Urgroß­va­ters Paweł Pali­ca, aus den alten Doku­men­ten als Paul Johann Palitza bekannt, nach dem ich mei­nen zwei­ten Vor­na­men erhielt. Ich fin­de sei­ne Ruhe­stät­te. Neben­an liegt Tan­te Ste­fa begra­ben. Ich moch­te sie sehr. Ihre Toch­ter arbei­tet wahr­schein­lich über Tage bei der Ver­la­dung und ihr Mann ver­mut­lich in der Sie­be­rei und Koh­len­wä­sche, aber genau weiß ich es nicht.

Ich höre das Berg­werk, ich sehe die arbei­ten­den För­der­tur­me, die sich dre­hen­den Räder mit den klei­nen rubi­n­ar­ti­gen Lich­tern oben­drauf. Bevor ich hier­her kam, bedeck­te jemand die Toten mit einer Schnee­de­cke. Ich erken­ne die­se Hand­schrift. Ich zie­he das Sta­tiv und den Foto­ap­pa­rat. Ich mache das Foto und besänf­ti­ge mein Ver­lan­gen, die Erin­ne­rung zu behü­ten. Wenig spä­ter gehe ich in die Maxy­mi­li­an-Chro­bok-Stra­ße in der Nähe der Hal­de, wo ich als Kind mei­ne Groß­el­tern besuch­te. Ich wand­le zwi­schen den Häu­sern der ehe­ma­li­gen Lenin­gra­der Stra­ße umher, so wie ich es frü­her getan habe, nur dass es jetzt dun­kel ist. Ich kom­me dem Berg­werk ganz nahe. Ich möch­te den Geräu­schen der Gru­be lau­schen. Ich ste­he an der Haus­fas­sa­de, atme den kal­ten Luft­zug und den Ruß der schle­si­schen Indus­trie tief ein. Vom Nor­den erreicht mich das Kläf­fen der Hun­de. Ich bin jetzt zu Hau­se, doch ich gehe zurück zum Hotel.

Das Bild, das ich an jenem Abend auf dem Fried­hof auf­ge­nom­men habe, wer­de ich noch öfter in die Hand neh­men. Ich wer­de es anse­hen und mich fra­gen, war­um es mei­nem Emp­fin­den so nahe­kommt und mei­ne foto­gra­fi­schen Absich­ten so tref­fend reflek­tiert. Das Bild hat ein ein­fa­ches Sche­ma. Im Vor­der­grund ein Fried­hof und schnee­be­deck­te Grä­ber in der Däm­me­rung, die Grä­ber mei­ner Vor­fah­ren. Im Hin­ter­grund die Ver­wal­tungs­ge­bäu­de mit Fens­tern, in denen Licht brennt, reprä­sen­ta­tiv für die Kon­ti­nui­tät des Lebens in der Stadt. Im Plan dahin­ter Schacht­ge­rüs­te mit den sich dre­hen­den För­der­rä­dern – sie sind die hie­si­ge Müh­le und das Brot und der Herz­schlag. Die Win­ter­däm­me­rung bringt See­len­frie­den, wenn es Abend wird und eine Bot­schaft, die das Ende her­an­na­hen sieht.

Die Däm­me­rung erin­nert dar­an, dass die Müh­le nur läuft, solan­ge der Mül­ler Getrei­de hat und es sich aus­zahlt, den schwe­ren Müh­len­stein zu win­den. Irgend­wann wer­den die klei­nen Rubin­lich­ter am Turm erlö­schen. Neun Jah­re spä­ter habe ich mit dem Foto­ap­pa­rat den Abschied der letz­ten Stein­koh­len­ze­che Deutsch­lands fest­ge­hal­ten. „Schicht im Schacht“, heißt es hier und das Foto ver­mit­telt eine ähn­li­che Stim­mung der Dämmerung.

Wie schon erwähnt, mein 1905 gebo­re­ner Urgroß­va­ter Paul Johann Palitza sen., dem ich mei­nen zwei­ten Vor­na­men ver­dan­ke, ist auf die­sem Fried­hof begra­ben und neben ihm sei­ne Fami­lie, Freun­de, Nach­barn, Bekann­ten und ande­re Men­schen aus Biel­s­zowice. Er war der Sohn von Franz Palitza und Mari­an­ne Not­zon und hat­te noch zwei Brü­der – Edmund und Alfons. Edmund hat­te wie­der­um zwei Töch­ter – Moni­ka und Maria, und Alfons und sei­ne Frau Mal­ka hat­ten Toch­ter Elke und Sohn Erwin, der einst Direk­tor des Berg­werks in Biel­s­zowice war. Schon als jun­ger Mann kehr­te Paul sen. Ober­schle­si­en den Rücken. Er woll­te nicht mit Kor­fan­ty in den Auf­stand zie­hen, so ver­ließ er Biel­s­zowice und ging zunächst über Stet­tin oder Ber­lin in den Ruhr­pott. Das Ruhr­ge­biet war von Nach­kriegs­wir­ren gebeu­telt und der Wie­der­auf­bau ver­lief schlep­pend, also eher schlecht als recht, daher ging mein Urgroß­va­ter wei­ter bis nach Frank­reich. Dort mach­te er mit mei­ner Urgroß­mutter Wan­da aus dem Hau­se Bosa­cka Bekannt­schaft und sie ver­lieb­ten sich. Ihr Vater war Adal­bert Bosia­cki oder Boza­cki, die Ein­trä­ge in den Doku­men­ten sind so tur­bu­lent wie die Zei­ten selbst, und um eines klar­zu­stel­len, Paul sen. war kei­nes­wegs ein Ver­rä­ter, weil er nicht an den Auf­stän­den von 1919–21 an der Sei­te von Wojciech Kor­fan­ty kämpf­te. Er hat­te sei­ne Über­zeu­gun­gen und Ansich­ten. Er lieb­te das Licht der Son­ne und die Frei­heit, wie es nur Berg­leu­te lie­ben konn­ten, und er ver­moch­te sein Brot dort zu besor­gen, wo es nicht nötig war, dafür mit dem Leben zu bezah­len. Das Leben dank­te ihm prompt und er wur­de Wand­as Ehe­mann und Vater von vier Kindern.

Wand­as Eltern, Jose­phi­ne aus dem Hau­se Kwapich und Adal­bert Palitza, hat­ten vie­le Kin­der, die ich nicht alle auf­zäh­len kann. Einer ihrer Söh­ne, Johann Bosia­cki, hei­ra­te­te eine gewis­se Alexis und zog nach dem Zwei­ten Welt­krieg nach Paris. Vor dem Krieg arbei­te­te er zunächst im Berg­bau im Ruhr­ge­biet, dann wur­de er zur Wehr­macht ein­be­ru­fen, glück­li­cher­wei­se nur als Über­set­zer. Außer ihm hat­ten sie noch eine Toch­ter, Loka Bosia­cka, die im nord­fran­zö­si­schen Lil­le blieb und einen gewis­sen Schmidt hei­ra­te­te, Syl­wes­ter Bosia­cki in Reck­ling­hau­sen, Han­na Bosia­cka in Dort­mund-Men­ge­de, Fran­cis­zek Bosia­cki und noch wei­te­re Geschwis­ter, deren Namen ich nicht kenne.

Wand­as Mut­ter Jose­phi­ne hielt sich dau­er­haft in Loth­rin­gen auf und ver­starb dort. Vater Adal­bert, der vor sei­ner Abrei­se nach Frank­reich in jun­gen Jah­ren in Dort­mund Bier mit einem Pfer­de­fuhr­werk aus­ge­lie­fert hat­te, kam 1954, nach­dem sei­ne Ehe­frau ver­starb, end­gül­tig von Loth­rin­gen nach Biel­s­zowice. Er war damals etwa acht­zig Jah­re alt und woll­te den Ruhe­stand mit sei­ner üppi­gen fran­zö­si­schen und deut­schen Ren­te genie­ßen, doch die Ämter in Polen durch­kreuz­ten sei­ne Plä­ne, indem sie sei­ne Ren­te, die in der har­ten Wäh­rung der Deut­schen Mark und des fran­zö­si­schen Fran­ken über­sen­det wur­de, ein­be­hiel­ten und zu einem nied­ri­gen Wech­sel­kurs in pol­ni­schen Zlo­ty aus­zahl­ten. Etwa ein Jahr nach sei­ner Ankunft in Ober­schle­si­en starb er, die pol­ni­schen Behör­den als Die­be und Gau­ner beschimp­fend und verfluchend.

Sei­ne Toch­ter und mei­ne Urgroß­mutter, Oma Wan­da, wur­de im Ruhr­ge­biet in Dort­mund-Dorst­feld gebo­ren und leb­te in der Bis­marck­stra­ße. Danach ging sie mit ihren Eltern nach Frank­reich, eben­falls in ein Indus­trie- und Berg­bau­ge­biet. Sie leb­ten und arbei­te­ten in Escau­da­in, Loth­rin­gen. 1929 kamen Oma und ihr Mann Paul John Palitza, bereits ver­mählt, nach Ober­schle­si­en und lie­ßen sich in Biel­s­zowice erneut im Koh­le­re­vier nieder.

Oma Wan­da lern­te Pol­nisch und Schle­sisch. In den 1950er-Jah­ren leb­te sie mit ihren bei­den Söh­nen, Her­bert und Hel­mut Fran­cis­zek, und Toch­ter Ire­na, mei­ner Groß­mutter, die sie in der Sta­li­no­gra­der Stra­ße gebar (spä­ter wur­de der Name der Stra­ße in Dąbrow­szc­z­aków geän­dert und noch spä­ter in Pater Nied­ziela; wer weiß, wie die Stra­ße frü­her hieß und wie sie in den nächs­ten ein oder zwei Jah­ren hei­ßen wird). Ihr ältes­ter Sohn Paul Palitza jun., 1928 in Frank­reich gebo­ren, leb­te nicht mehr bei ihnen. 1944, als die Sowjet­ar­mee in Schle­si­en ein­mar­schier­te, war er 16 Jah­re alt und mach­te sich zu Fuß auf den Weg ins Ruhr­ge­biet. Er fand eine Blei­be bei sei­ner Tan­te Ger­trud in Lünen bei Dort­mund. Nach dem Zwei­ten Welt­krieg wuss­te sei­ne Mut­ter Wan­da lan­ge Zeit nicht, ob er noch am Leben war. Erst Jah­re spä­ter erhielt sie einen Brief aus Deutsch­land, dass es ihrem Sohn gut gehe. In Lünen arbei­te­te er auf der Zeche und grün­de­te eine Fami­lie. In den 1970er- und 1980er-Jah­ren besuch­te er sei­ne Mut­ter in Biel­s­zowice. Ich erin­ne­re mich gut an sei­ne Besu­che. In den 1980er-Jah­ren kehr­te Oma Wan­da nach vie­len Jah­ren nach Deutsch­land zurück.

Ich den­ke, ich könn­te noch eini­ge Sei­ten mit der Lebens­ge­schich­te von Paul sen. und Oma Wan­da fül­len, eben­so mit dem Schick­sal von Opa Bern­hard, der Berg­mann war, sei­nem Bru­der, der in Ausch­witz sein Leben ließ, oder sei­nen Schwes­tern, die Non­nen in einem Pra­ger Klos­ter waren.

Mir ist klar, dass ich den Leser mit vie­len Namen und Orten aus der Ver­gan­gen­heit mei­ner Fami­lie kon­fron­tie­re. Fakt ist, dass das Erwähn­te nur einen Bruch­teil der Fami­li­en­ge­schich­te der Jan­c­zeks oder Jan­c­zyks, Pali­cas oder Palitz­as, Bosackis oder Boza­ckis aus­macht und es ledig­lich ein Trop­fen im Oze­an der Geschich­ten ande­rer ober­schle­si­scher Fami­li­en ist. Ich zitie­re die­se Namen und Kurz­ge­schich­ten nur mar­gi­nal am Ran­de mei­ner Foto­gra­fie, sie zei­gen jedoch, wie dyna­misch und tur­bu­lent die Geschich­te Ober­schle­si­ens war und wie weit sie in die Gegen­wart hin­ein­strahlt. Das schwar­ze Gold war von Aris­to­kra­ten, Magna­ten und Dik­ta­to­ren begehrt. Es wur­de gebraucht, um Macht oder Ideo­lo­gie zu eta­blie­ren. Men­schen gin­gen der Spur des Gol­des nach, für Brot und ein schein­bar bes­se­res Leben, immer einen klei­nen Schritt vom Wohl­stand ent­fernt. Sie taten das, was schon die Pio­nie­re und Ein­wan­de­rer in den Ver­ei­nig­ten Staa­ten vor ihnen taten; was heu­te Refu­gees aus Afri­ka und Geflüch­te­te aus dem Nahen Osten tun. Die Men­schen fol­gen ihren Träu­men und einem ver­meint­lich bes­se­ren Leben, oft in einer Zeit grau­sa­mer Kriegs­wir­ren. Sie ver­las­sen ihre gelieb­ten Orte, um Tage des Frie­dens und des Glücks zu erle­ben. Auf ihren Wan­de­run­gen und Durch­que­run­gen neh­men sie außer­ge­wöhn­li­che Ent­beh­run­gen auf sich und erle­ben all­zu oft Demü­ti­gun­gen durch Ansässige.

Fort­wäh­rend zwan­gen poli­ti­sche Ver­än­de­run­gen die Ober­schle­si­er zur Anpas­sung und Migra­ti­on. Unter­des­sen ent­wi­ckel­ten sie einen über­durch­schnitt­li­chen Ein­falls­reich­tum, Über­le­bens­kraft und einen gesun­den Sinn für Humor, was ihnen zwei­fel­los zum Über­le­ben ver­half. Die ober­schle­si­sche Küche und Spra­che zeu­gen von der Fle­xi­bi­li­tät der Schle­si­er, die im Lau­fe der Zeit über­le­bens­wich­tig wur­de und eine eigen­stän­di­ge Kul­tur her­vor­brach­te. Inter­es­san­te Bei­spie­le las­sen sich in der schlich­ten, aber krea­ti­ven Kom­bi­na­ti­on von Lebens­mit­tel­zu­ta­ten in Gerich­ten fest­ma­chen, wie wod­zion­ka, eine Sup­pe aus Was­ser und Brot, pan­cz­kraut, eine Mischung aus Kar­tof­fel­pü­ree und Sau­er­kraut, mocz­ka, eine Sup­pe aus Tro­cken­früch­ten oder sie­mi­e­niot­ka, einer Säm­ling-Sup­pe aus Hanf­sa­men. Spu­ren ande­rer Spra­chen bekräf­ti­gen die­se Elas­ti­zi­tät und sind im Schle­si­schen „ibe­r­deut­lich“ hör­bar. Ein­ge­reis­te Arbei­ter beein­fluss­ten hier das gespro­che­ne Wort so stark, dass man den Ein­druck einer eigen­stän­di­gen Spra­che erhält. Port­manyj für Port­mo­nee, antryj für Ein­gang, byfyj für Anrich­te, dej pozór! für „gib acht!“, na wjyrchu für oben­auf, nawar­zyć tyju für „Tee zube­rei­ten“, aplu­zi­na für Apfel­si­ne – im Schle­sisch kann man sowohl Begrif­fe aus dem Alt­pol­ni­schen, Tsche­chi­schen, als auch deut­sche und fran­zö­si­sche Anne­xio­nen erkennen.

Um auf Urgroß­va­ter Paul zurück­zu­kom­men: Ich erin­ne­re mich an eine Geschich­te über ihn, die ein wenig Licht auf die Ver­gan­gen­heit und das Leben in Biel­s­zowice vor mei­ner Geburt wirft. Unab­hän­gig von der Här­te, die das Leben den Men­schen abver­lang­te, und los­ge­löst von den poli­ti­schen Stim­mun­gen hat­ten die Schle­si­er ver­stan­den, sich zu ver­gnü­gen. Sie ver­sam­mel­ten sich auf Plät­zen, Hin­ter­hö­fen, in Stu­ben, Schän­ken und unter Alta­nen. Sie tanz­ten und lausch­ten den Lie­dern der Musi­kan­ten und den Geschich­ten der umher­zie­hen­den Lum­pen. Sie spiel­ten Akkor­de­on, Gei­ge und Skat. Das sind kei­ne Mythen. Paul sen. hat­te nur noch eine Hand, denn er hat­te die ande­re unglück­li­cher­wei­se bei einem Unfall im Berg­werk ver­lo­ren, doch es mach­te ihm nichts aus, mit einer Hand Skat in Skan­dys Gara­ge zu spie­len. Skan­dy hat­te ein Holz­bein, denn das ech­te war unter Tage oder Gott weiß wo geblie­ben. Manch­mal kamen Wil­li und Paulek und angeb­lich einer ohne Auge mit einem Akkor­de­on. Sie spiel­ten, tran­ken bis in die Nacht und trenn­ten sich oft in Zwie­tracht nach hef­ti­gem Mei­nungs­aus­tausch, doch am Mor­gen auf dem Bür­ger­steig wink­ten sie sich schon von wei­tem grü­ßend zu, um im bes­ten Ein­ver­neh­men eine neue Par­tie zu arrangieren.

Spä­ter zog die Fami­lie mei­ner Urgroß­el­tern von der Sta­li­no­gra­der Stra­ße in die Lenin­gra­der Stra­ße, weil das Haus in der Sta­li­no­gra­der auf­grund von Berg­schä­den ein­zu­stür­zen droh­te und abge­ris­sen wur­de. Heu­te heißt die Stra­ße ul. Mak­sy­m­i­lia­na Chro­bo­ka. Mak­sy­m­i­li­an Chro­bok wur­de 1911 im west­fä­li­schen Bot­trop gebo­ren. Kurz nach der Volks­ab­stim­mung ver­ließ er das Ruhr­ge­biet in Rich­tung Ober­schle­si­en. Im Jahr 1968 wur­de er Direk­tor des Berg­werks. In den sieb­zi­ger Jah­ren setz­te er sich inten­siv für eine posi­ti­ve Ent­wick­lung in Ruda Śląs­ka ein. Sei­nem sozia­len Enga­ge­ment ver­dankt die Stadt den schö­nen Park mit der heu­te fast ver­ges­se­nen Ski­pis­te, Eis­lauf­bahn, Rodel­bahn und dem Schwimm­bad. Viel­leicht ist es ihm und den im Sozia­len Akt Arbei­ten­den geschul­det, dass die Stadt im Früh­ling blüh­te und sich bunt färb­te. Seit­dem sind vie­le Jah­re ver­gan­gen. Was von der alten Zeit bleibt, ist ein Stra­ßen­na­me, ich aber habe das, was für mich übrig blieb, ins Bild gefasst – bedeckt mit einer Schnee­de­cke das Grab mei­nes Urgroß­va­ters, den ich nicht kannte.

Fort­wäh­rend zwan­gen poli­ti­sche Ver­än­de­run­gen die Ober­schle­si­er zur Anpas­sung und Migra­ti­on. Unter­des­sen ent­wi­ckel­ten sie einen über­durch­schnitt­li­chen Ein­falls­reich­tum, Über­le­bens­kraft und einen gesun­den Sinn für Humor, was ihnen zwei­fel­los zum Über­le­ben ver­half. Die ober­schle­si­sche Küche und Spra­che zeu­gen von der Fle­xi­bi­li­tät der Schle­si­er, die im Lau­fe der Zeit über­le­bens­wich­tig wur­de und eine eigen­stän­di­ge Kul­tur her­vor­brach­te. Inter­es­san­te Bei­spie­le las­sen sich in der schlich­ten, aber krea­ti­ven Kom­bi­na­ti­on von Lebens­mit­tel­zu­ta­ten in Gerich­ten fest­ma­chen, wie wod­zion­ka, eine Sup­pe aus Was­ser und Brot, pan­cz­kraut, eine Mischung aus Kar­tof­fel­pü­ree und Sau­er­kraut, mocz­ka, eine Sup­pe aus Tro­cken­früch­ten oder sie­mi­e­niot­ka, einer Säm­ling-Sup­pe aus Hanf­sa­men. Spu­ren ande­rer Spra­chen bekräf­ti­gen die­se Elas­ti­zi­tät und sind im Schle­si­schen „ibe­r­deut­lich“ hör­bar. Ein­ge­reis­te Arbei­ter beein­fluss­ten hier das gespro­che­ne Wort so stark, dass man den Ein­druck einer eigen­stän­di­gen Spra­che erhält. Port­manyj für Port­mo­nee, antryj für Ein­gang, byfyj für Anrich­te, dej pozór! für „gib acht!“, na wjyrchu für oben­auf, nawar­zyć tyju für „Tee zube­rei­ten“, aplu­zi­na für Apfel­si­ne – im Schle­sisch kann man sowohl Begrif­fe aus dem Alt­pol­ni­schen, Tsche­chi­schen, als auch deut­sche und fran­zö­si­sche Anne­xio­nen erkennen.

Um auf Urgroß­va­ter Paul zurück­zu­kom­men: Ich erin­ne­re mich an eine Geschich­te über ihn, die ein wenig Licht auf die Ver­gan­gen­heit und das Leben in Biel­s­zowice vor mei­ner Geburt wirft. Unab­hän­gig von der Här­te, die das Leben den Men­schen abver­lang­te, und los­ge­löst von den poli­ti­schen Stim­mun­gen hat­ten die Schle­si­er ver­stan­den, sich zu ver­gnü­gen. Sie ver­sam­mel­ten sich auf Plät­zen, Hin­ter­hö­fen, in Stu­ben, Schän­ken und unter Alta­nen. Sie tanz­ten und lausch­ten den Lie­dern der Musi­kan­ten und den Geschich­ten der umher­zie­hen­den Lum­pen. Sie spiel­ten Akkor­de­on, Gei­ge und Skat. Das sind kei­ne Mythen. Paul sen. hat­te nur noch eine Hand, denn er hat­te die ande­re unglück­li­cher­wei­se bei einem Unfall im Berg­werk ver­lo­ren, doch es mach­te ihm nichts aus, mit einer Hand Skat in Skan­dys Gara­ge zu spie­len. Skan­dy hat­te ein Holz­bein, denn das ech­te war unter Tage oder Gott weiß wo geblie­ben. Manch­mal kamen Wil­li und Paulek und angeb­lich einer ohne Auge mit einem Akkor­de­on. Sie spiel­ten, tran­ken bis in die Nacht und trenn­ten sich oft in Zwie­tracht nach hef­ti­gem Mei­nungs­aus­tausch, doch am Mor­gen auf dem Bür­ger­steig wink­ten sie sich schon von wei­tem grü­ßend zu, um im bes­ten Ein­ver­neh­men eine neue Par­tie zu arrangieren.

Spä­ter zog die Fami­lie mei­ner Urgroß­el­tern von der Sta­li­no­gra­der Stra­ße in die Lenin­gra­der Stra­ße, weil das Haus in der Sta­li­no­gra­der auf­grund von Berg­schä­den ein­zu­stür­zen droh­te und abge­ris­sen wur­de. Heu­te heißt die Stra­ße ul. Mak­sy­m­i­lia­na Chro­bo­ka. Mak­sy­m­i­li­an Chro­bok wur­de 1911 im west­fä­li­schen Bot­trop gebo­ren. Kurz nach der Volks­ab­stim­mung ver­ließ er das Ruhr­ge­biet in Rich­tung Ober­schle­si­en. Im Jahr 1968 wur­de er Direk­tor des Berg­werks. In den sieb­zi­ger Jah­ren setz­te er sich inten­siv für eine posi­ti­ve Ent­wick­lung in Ruda Śląs­ka ein. Sei­nem sozia­len Enga­ge­ment ver­dankt die Stadt den schö­nen Park mit der heu­te fast ver­ges­se­nen Ski­pis­te, Eis­lauf­bahn, Rodel­bahn und dem Schwimm­bad. Viel­leicht ist es ihm und den im Sozia­len Akt Arbei­ten­den geschul­det, dass die Stadt im Früh­ling blüh­te und sich bunt färb­te. Seit­dem sind vie­le Jah­re ver­gan­gen. Was von der alten Zeit bleibt, ist ein Stra­ßen­na­me, ich aber habe das, was für mich übrig blieb, ins Bild gefasst – bedeckt mit einer Schnee­de­cke das Grab mei­nes Urgroß­va­ters, den ich nicht kannte.

Ich kann­te mei­nen Urgroß­va­ter nicht, denn er starb 1960, lan­ge bevor ich gebo­ren wur­de. Was ich über ihn weiß, habe ich aus den Geschich­ten am Fami­li­en­tisch auf­ge­schnappt. Als ich nach Biel­s­zowice kam, fand ich das Grab mei­nes Urgroß­va­ters. Ich habe hier so gut wie nie­man­den, zu dem ich gehen könn­te. Ich betrach­te die Außen­welt und stel­le fest, dass die­ses Leben und der Geist, den ich suche, nicht mehr exis­tiert, er ist nur noch Erin­ne­rung. Pauls jüngs­ter Sohn, Hel­mut, ist noch am Leben und es ist mir ein Trost, aber mit zuneh­men­dem Alter erweist sich der Zugang zu ihm als schwie­rig. Opa Ber­nat, Oma Ire­n­ka, Oma Wan­da, Onkel Rich­at, Her­bert, Edek, Tan­ten und Cou­si­nen, sie ver­lie­ßen unse­re Stadt. In den 1980er-Jah­ren gin­gen wir und vie­le ande­re Ober­schle­si­er nach Deutsch­land. Mei­ne Eltern, mei­ne Schwes­ter und ich mach­ten den Schritt im Som­mer des Jah­res 1987, in den Som­mer­fe­ri­en. Von Schick­sals­hand gelei­tet, lie­ßen wir uns hin­ter dem wär­men­den Ofen her­vor­lo­cken und tausch­ten ihn gegen einen ble­cher­nen Heiz­kör­per. Etwas zog uns vom Revier ins Revier. Genau wie unse­re Vor­fah­ren gin­gen wir, nicht wis­send, dass wir nun die Spu­ren unse­res ver­meint­lich har­ten, aber war­men Lebens ver­wisch­ten, genos­sen wir jetzt doch die Spiel­zeu­ge des kapi­ta­lis­ti­schen Wes­tens, ohne zurück­zu­schau­en. Freund­schaft­li­che Bin­dun­gen zer­bra­chen und die fami­liä­ren Geflech­te wur­den immer dün­ner, bevor sie ganz ver­schwan­den. Dies war der Preis, mit dem nie­mand rech­ne­te. Mehr als 30 Jah­re spä­ter fiel mir auf, dass mein Nef­fe auf der Brust eine run­de Alu­mi­ni­um­me­dail­le mit der ein­ge­präg­ten Zahl 4540 trägt. Jeder Berg­mann des Berg­werks in Biel­s­zowice trug eine sol­che Medail­le mit einer Num­mer zur Iden­ti­fi­zie­rung. Er häng­te sie um den Hals bei Arbeits­be­ginn und nach der Schicht warf er sie als Zei­chen sei­ner Rück­kehr in eine Schach­tel. Erst dann war sei­ne Schicht offi­zi­ell been­det. Wenn das Medail­lon nicht ein­traf, bedeu­te­te dies, dass der Berg­mann nicht zurück­kam. Es wur­de alar­miert, die Suche nach ihm begann. Die Medail­len hat­ten für jede Schicht eine ande­re Form: qua­dra­tisch für die Nacht­schicht, rund für die Früh­schicht und drei­eckig für die Nachmittagsschicht.

Mein Vater ver­gaß sei­ne Medail­le in die Schach­tel zu legen, als er sei­ne letz­te Seil­fahrt mit dem rasen­den Stahl­korb an die son­ni­ge Erd­ober­flä­che antrat und die Schicht been­de­te, doch nie­mand merk­te es, nie­mand schlug Alarm. Das Medail­lon hing um sei­nen Hals, als wir mit dem elfen­bein­far­be­nen Fiat die Volks­re­pu­blik Polen ver­lie­ßen und über den Grenz­über­gang Helm­stedt-Mari­en­born den Eiser­nen Vor­hang von der DDR nach Deutsch­land über­quer­ten. Eine klei­ne Alu­mi­ni­um­me­dail­le aus dem Berg­werk Biel­s­zowice lan­de­te so im Ruhr­ge­biet, und der sieb­zehn­jäh­ri­ge Lukas trennt sich nie­mals von ihr. Wenn er gefragt wird, erzählt er sei­nen Freun­den und Bekann­ten in Reck­ling­hau­sen, Dort­mund oder Wan­ne-Eickel die Geschich­te, die sich hin­ter der 4540 verbirgt.

Wir wer­den Wur­zeln schla­gen, aber lang­sam, denn das Kli­ma ist kühl. Von Zeit zu Zeit kom­me ich nach Biel­s­zowice zurück, und da ich nie­man­den zu besu­chen weiß, wan­de­re ich umher. Etwas führt mich auf den Fried­hof, wie einen Hund, wie den Hund im drit­ten Teil des soge­nann­ten Schle­si­schen Tri­pty­chon mit dem Titel Per­len eines Rosen­kran­zes. Kazim­erz Kutz dreh­te den Film in Anleh­nung an den Roman Die­ses Haus ist weg von Albin Sie­kier­ski. In der letz­ten Sze­ne sucht der treue Hund sein Herr­chen auf dem Fried­hof, den ver­stor­be­nen Karol Hab­ry­ka, der ein ver­dienst­vol­ler Berg­mann war. Der Hund irrt umher und fin­det das Grab wäh­rend des fei­er­li­chen Begräb­nis­ses. Er legt sich neben die Blu­men­krän­ze auf das Grab. Zwi­schen den Trau­ern­den steht auch der Enkel Hab­ry­kas, schein­bar ein Mitt­ler zwi­schen den Gene­ra­tio­nen der Fami­li­en­ge­schich­te. Der Zufall woll­te, dass die Sze­ne im Jahr 1978 auf dem Fried­hof in Biel­s­zowice gedreht wur­de – dem Ort, den ich wie­der und wie­der auf­su­che. Ich kom­me hier­her wie ein Enkel und wie ein treu­er Hund. Der Geschmack mei­ner Geschich­te ähnelt dem Geschmack der Geschich­te, die im Film von Herrn Kutz gezeigt wird. Es ist ein Vor­ge­schmack auf das Dahin­schei­den und den Auf­bruch in die Zukunft.

Am Mit­tag des nächs­ten Tages, nach­dem ich das Foto am Fried­hof gemacht habe, gehe ich in die Schän­ke am Berg­werk. Es herrscht reger Betrieb und man­cher Berg­mann trägt noch Koh­le­staub um die Augen her­um. Ich fin­de Anschluss und unter­hal­te mich mit zwei Berg­leu­ten, die ihre Schicht eben been­det haben. Wir trin­ken Bier, erzäh­len unse­re Lebens­ge­schich­ten und tau­schen Mei­nun­gen aus. Einer von ihnen fragt mich, wel­ches Auto ich fah­re. „Toyo­ta Corol­la“, ant­wor­te ich. „Ist schon drei­hun­dert­tau­send gelau­fen!“ „Schau mal“, sagt er zu mir. „Ich habe ein bes­se­res Auto als du, doch ich bin hier daheim.“