Bielszowice
Kapitel II
Sauerkraut in einer grauen Papiertüte für zehn Zloty, zwei eingelegte Salzdillgurken direkt aus einem blauen Zweihundert-Liter-Plastikfass für acht Zloty, gerösteter Puffreis: 15 Zloty, das Donald Bubble Gum: 15 Zloty. Im Lebensmittelgeschäft auf der ul. Kościelna (Kirchstraße) gibt es alles, was sich mein achtjähriges Herz auf dem Weg von der Schule wünschen kann. Oder eine Orangeade in einer Plastiktüte für zehn Zloty, Orangeade mit Sprudel in einer Flasche für 16 Zloty, Orangeade Mandarynka, die Deluxe-Variante für 23 Zloty. Ob im Pavillon, dem Delikatessenladen oder beim privaten Gemüsehändler. In dieser Straße bekommst du alles, auch Tomatensaft für vierzig und Pepsi für‘n Fuffi. Im Laden dann meistens der gleiche Dialog zwischen mir und der Verkäuferin: „Eine Flasche Orangeade, bitte!“ – „Zum Mitnehmen oder vor Ort?“ – „Ich trinke sie hier“ – „Ist aber Pfandflasche. Bringst sie?“ – „Freilich!“.
Als ich den schneebedeckten Friedhof von Bielszowice fotografierte, war ich schon älter. Die meisten Gebäude in der Kirchstraße waren verschwunden. Tatsächlich hieß die Straße Powstańców Śląskich, nach den schlesischen Aufständischen von 1919–21 benannt, doch wer hier geboren wurde, zog es vor, den alten Namen der ältesten Straße von Bielszowice zu verwenden. Ich kam in die Stadt, in der ich geboren wurde, mit der Absicht, wieder an den alten Geist meiner Heimat anzuknüpfen, an den Geist der Zeit, in der ich hier zuhause war. Ich stieg in einem bescheidenen Mansardenzimmer im Strzelnica Park Hotel ab und dachte über Orte nach, die ich besuchen könnte. Früher gab es anstelle des Hotels ein Café mit Art-Déco-Stühlen auf der Terrasse und an der Kühltheke wurden Kinder und Erwachsene von bunten Gelees mit Schlagsahne verführt. Zu dieser Zeit hatte der Park viele Attraktionen anzubieten. An Wintertagen wurde sogar einen Skilift in Betrieb genommen. Da es hier keine wirklichen Berge gab, wurde die Schlucht einer bereits geschlossenen Sandgrube genutzt. Der Schlesier war mit großer Erfindungskraft gesegnet. Diese Gabe machte in diesem Falle aus einem Loch einen Berg! Folglich konnte man hier auf Skiern, die man meistens aus Deutschland bekam, oder auf Brettern der Marke Polsport abfahren und vergessen, wo man sich eigentlich befand. In der Nähe der Skipiste gab es eine Eisbahn mit Schlittschuhverleih, wo man auch ein Glas Tee mit einer Zitronenscheibe bekam, und direkt daneben eine Rodelbahn. Hier herrschte reger, geschäftigster Hochbetrieb. Schon aus der Ferne erreichte dich die Fröhlichkeit des Gleitens, die Laute der kreischenden Kinder und ihrer Eltern. An Winterabenden ging ich in Eile und mit großer Ungeduld hierher, folgte dem herannahenden Treiben, zog den Schlitten, um mich so schnell wie möglich in die Geselligkeit unterzumischen und in die wunderbare und fröhliche Menge einzutauchen. Die Dämmerung kam früh. Auf kurze frostige Tage folgten kalte lange Nächte. Deshalb bleiben die Erinnerungen an diesen Ort vom schimmernden und glänzenden Schnee und dem gelblichen Laternenschein umhüllt.
Und im Sommer? Im gepflegten, herausgeputzten Park befand sich ein Amphitheater mit einer Konzertmuschel. Dort fanden regelmäßig Konzerte und Aufführungen statt. Während der zahlreichen Feste und Jahrmärkte konnte man hier unter anderem Rudi Schuberth und die Band Wały Jagiellońskie mit ihrem berühmten Superhit Die Tochter des Fischers anhören oder einfach mit Zuckerwatte in der Hand zwischen Karussell und Schaukeln schlendernd den Rummel genießen. Ich war damals Schüler an der Sportschule 17. Unsere Schule hatte sogar ein eigenes Hallenbad. Im Frühling eröffnete das Freibad im Park, das freilich etwas größer war und über einen Sprungturm verfügte. An den ersten heißen Tagen nach der Rückkehr von der Schule brachte ich meinen Ranzen nach Hause und ging dann ins Park-Schwimmbad, mich sonnen und schwimmen. Vielleicht würde ich die Blonde antreffen. Für das Sonnenbad nahm ich Sonnenöl mit, um meinem jugendlichen Körper Glanz zu verleihen. Ich wollte imponieren.
An Samstagen besuchte ich oft die morgendlichen Theateraufführungen für Kinder im Haus der Kultur. Sonntags ging ich in die Kirche und nach der Messe zu den Handballspielen des Sportklubs Eintracht Bielszowice oder zum Fußballspiel im Stadion an der Straße der Athleten in der Nähe des Parks. Nach dem Spiel aßen wir zu Mittag. Die Fleischbrühe für den ersten Gang war schon fertig und der hausgemachte Nudelteig trocknete auf einem Tuch im sonnigen Gästezimmer. Als Hauptgang gab es schlesische Knödel mit Sauerkraut und Braten. Dann ein Spaziergang ins Eiscafé. Wiener Sahne, Heidelbeere, Rosinen und Walnusseis im zartem Waffelhörnchen oder Kuchen mit Schlagsahne. Man konnte auch in den Park rund um das Haus der Kultur gehen, um vor Ort die Rennen der Miniaturautomobile zu sehen. Diese Fahrzeuge wurden von Verbrennungsmotoren angetrieben und liefen, mit einem Stahlseil am zentralen Punkt befestigt, mit enormen Lärm und Tempo rund um die Strecke.
Im damaligen Fernsehen lief pünktlich zum Wochenende Der Freitag mit Pankracy und seinem lustigen Hund – beliebt vor allem bei Kindern, deren Eltern noch arbeiten mussten. Außerdem Pegaz, ein publizistisches Magazin am Abend. In der Früh Die Kraniche ziehen und andere Sowjet-Produktionen, Do it yourself, die Sendung für Heimwerker, Sonda, ein fesselndes Wissenschaftsmagazin, Shogun oder Die Sklavin Isaura, eine brasilianische Telenovela, Folge zehntausendsechshundert, Die Dornenvögel, mit Richard Chamberlain als Ralph de Bricassart, Rückkehr nach Eden, Die Hitparade im Zweiten oder die TV-Hitliste mit Hits wie Die Affenfabrik von Lady Pank, Die Schönheit verblasst in uns von Seweryn Krajewskis oder Kombis Have a nice and sweet life. An meinem Geburtstag, pünktlich zum Siegestag über Hitlerdeutschland und den Faschismus, zeigten sie eine Militärparade aus Warschau oder Moskau als Liveübertragung. Und im Kino? Gleich neben unserem Wohnblock befand sich das Kino namens Freude. Wem drei Fernsehprogramme nicht genügten, der ging in die Freude. Dort spielten sie Der Mann mit der Todeskralle mit Bruce Lee, Guests from the Galaxy, eine kroatisch-tschechoslowakische Produktion, Yellow River Fighter, Das fliegende Auge oder Spielbergs Poltergeist und E.T.
Wir wohnten damals auf der ul. Równoległa, also Parallelstraße. Die Wohnung war hell, sauber und duftete, worum sich meine Eltern kümmerten, wenn sie nicht gerade bei der Arbeit oder im Garten waren. Die Möbel waren staubfrei, die Böden gewachst und das Innere unserer M4-Vierraumwohnung mit Blumen geschmückt, die mal in einer Kristall- und mal in einer Porzellanvase auf dem Tisch standen. Am liebsten verweilte ich im Gästezimmer. Man konnte in einem Schaukelstuhl aus geflochtenem Rattan wippend eine Eleni-Platte oder Weine nicht, wenn ich gehe im Radio hören. An sonnigen Tagen drangen helle Lichtstrahlen durch die Vorhänge, füllten den Raum mit seidenem Schein und ergossen sich über die glänzende Möbelwand, den blank polierten Tisch, den Ficus und den roten Divan, der dem Raum Wärme und Geborgenheit verlieh. Meine Mutter arbeitete als Fotografin in einem Fotobetrieb in Gleiwitz und mein Vater war Bergmann im Steinkohlebergwerk nebenan und förderte direkt unter unserer M4. Die meisten Männer in der Stadt und in unserer Familie waren Bergleute.
In den 1980er-Jahren hatte Ruda Śląska zehn Stadtteile. Jeder Ortsteil hatte eine andere Postleitzahl-Endung, von 1 bis 11. Bielszowice war Ruda 11, Wirek 10, Nowy Bytom 9 und so weiter. Ruda 2 kam im System einfach nicht vor. Eines Tages werde ich das Rätsel lösen und herausfinden, was mit der Zwei geschah. Unseren Stadtteil 11 sahen wir als eine eigenständige Stadt und nicht als irgendeinen Bezirk an, eine Sichtweise, die man auch im Ruhrgebiet antrifft, zum Beispiel bei den Menschen aus Buer in Gelsenkirchen oder den Wattenscheidern in Bochum. Damals hatte Ruda 11 etwa 17.000 Einwohner und das dort ansässige Bergwerk KWK Zabrze-Bielszowice zählte 12.000 Beschäftigte. Es scheint, dass fast alle Familien in unserer Stadt, wahrscheinlich sogar alle, in irgendeiner Weise mit dem Bergwerk verheiratet waren. Die Grube war unsere Lebensgrundlage, denn sie sicherte unsere Existenz. Das Grubenunglück wiederum war für die Tränen verantwortlich, die nach Unfällen vergossen wurden. Das Bergwerk war der Grund für die Räumung von Häusern, die infolge von Bergschäden einzustürzen drohten. Das Bergwerk sorgte für uns und forderte von uns. Es organisierte Ferien und bezahlte Aufenthalte am Meer. Es dachte an den Weihnachtsmann und Geschenke für die Kinder, lud Künstler ins Amphitheater ein, zahlte Witwen und Kindern Entschädigungen für verschüttete Ehemänner und Väter, beteiligte sich an den Bestattungen und lud die Bergarbeiter und ihre Familien unverhohlen zur Teilnahme am Sozialen Akt ein, einer damals gängigen Art des unbezahlten Arbeitens für den guten Zweck. In ihrer Freizeit verschönerten die Bewohner die Stadt. Die Bergleute bauten und ihre Frauen schmückten die Siedlungen, indem sie Blumen vor den Häusern pflanzten.
Es gab Zeiten, in denen Bergleute im Park-Amphitheater die Szene für dort auftretende Künstler richteten und Mikrofone aufbauten. Das Bergwerk war immer und überall. Es war ein Fixpunkt in einer sich ständig wandelnden Zeit. Sein Geruch vermischte sich mit den duftenden Linden in der Sommerhitze, mit dem Nebel, der im Herbst nach feuchtem Laub und rauchenden Kachelöfen roch, und im Winter mit dem atemraubenden Frost aus dem Osten und den Abgasen eines schwerbeladenen Kamaz, der sich an einem beliebigen Montagmorgen oder meinetwegen auch Mittwochabend rußend die Kokotastraße hinaufquälte. Das Bergwerk war ein untrennbarer Teil der Stadtlandschaft, und sein Atem war der permanent wahrnehmbare und allgegenwärtige Hall der arbeitenden Förderbänder, Schächte und Maschinen. Das Werk war und ist ein Metronom seiner Umgebung. Es bestimmt den Rhythmus des Lebens und ist die Existenzgrundlage der Einwohner dieser Stadt, aber oft auch Ursache ihres Todes. Auf dem Weg zur Schule lag es linkerhand, wie eigentlich auf allen meinen Wegen, sei es zu den Großeltern, zum Obstgarten und selbst zu Webers wunderbarer Konditorei. Es war immer dort, wo es war. Nur auf dem Heimweg hatte ich es dann zu meiner rechten Seite.
Einmal, nach der Morgenmesse, fotografierte ich das Bergwerk vom Kirchturm auf der anderen Straßenseite. Der Messdiener führte mich zur Turmspitze über zahlreiche Leitern, ohne den Pfarrer um Erlaubnis gefragt zu haben. „Weil es so besser ist“, sagte er. Zum ersten Mal sah ich die Zeche aus der Vogelperspektive. Die Ansicht erfüllte mich mit Wohlbefinden und ich machte ein Foto.
Seit Jahren verändert das Bergwerk drastisch das Panorama unserer Stadt: Es reißt Wohnhäuser ab oder verankert ihre Fassaden mit mächtigen Schrauben, um sie vor dem Einsturz zu bewahren. Es demontiert alte Gebäude und baut neue. Wohnblöcke entstehen auf bebensicheren Platten, damit sie dann als Ganzes absacken können.
Das Bergwerk schüttet Berge aus Taubgestein auf, die sogenannten Halden, verschmutzt Flüsse und die Umwelt. Dieses Bergwerk untergräbt die Stadt und ihre Umgebung seit mehr als 120 Jahren und ist keineswegs das erste Bergwerk der Stadt. Subterrane Eingriffe wirken sich auf die geologische Struktur aus und verursachen tektonische Veränderungen der Umgebung. Spürbar wie eine pulsierende Aorta unter dem ärztlichen Stethoskop pocht und bebt hier die Erde. Kollabierende Stollen lassen die Stadt absinken. Die Raubökonomie beschleunigt den Prozess.
Alljährlich informieren lokale Zeitungen über einstürzende Gebäude, absackende Straßen und Senklöcher, die in Ruda Śląska nach heftigen Regenfällen aufreißen. Hier verkrampft die Erde und löst sich wieder. Teiche und Tümpel tauchen aus dem Nichts auf und versinken unerwartet. Wer seine Stadt kennt, kann mit bloßem Auge erkennen, wo sie gesunken ist und wo neue Höhen entstanden sind. Wer sie kennt, weiß, dass die Stadt wogt wie das Meer.
Es ist Februar 2010. Ich sitze im Hotelzimmer des Parkhotels und richte meinen Fotoapparat ein. Ich bin gesund und widerstandsfähig. In zwei Jahren wird meine liebe Tochter Milena geboren, obwohl ich das in jenem Moment noch nicht weiß. Sie wird eine Erbin der Familiengeschichte sein.
Viele Jahre sind vergangen, seit ich Bielszowice verlassen habe. Jetzt bin ich gekommen, um sie vor dem Alptraum des Vergessens zu behüten, um die Erinnerung zu bewahren, indem ich das, was war, in zweidimensionale Fotografien gieße. Ich möchte meine Stadt sehen und spüren, am liebsten im alten Glanz, wie aus meiner bereits dunstigen Erinnerung entnommen, doch ich weiß, dass ich zu lange fort war, um jenen Geist der Vergangenheit herbeizuführen. Während meiner Abwesenheit ist zu viel passiert. Die Uhr tickte beständig, während ich weg war, und ich glaube, ich habe in Recklinghausen, meinem deutschen Heim, einen süßen Traum geträumt. Jetzt geht es mir wie dem Hund aus dem sowjetischen Film Weißer Bim, Schwarzes Ohr in der Regie von Stanisław Rostocki aus dem Jahr 1977. Bim, ein treuer Hund, der sein verschwundenes Herrchen sucht.
Bim bleibt allein und schafft es nicht, sehnsüchtig auf die Rückkehr seines Herrn zu warten. Er macht sich auf die Suche nach ihm. „Was sitzt du denn hier so rum? Hast du dich verlaufen? Sag, wo ist dein Heim?“, fragen die, die ihm begegnen.
Ja, ich bin jetzt hier in dieser Stadt und ich fühle mich irgendwie zu Hause, doch ich komme nicht so richtig an. Vielleicht hat sich zu viel verändert. Es ist ein kalter Winterabend, ich verlasse das Hotel und verbleibe in meiner Hoffnung, etwas zu finden. Ich spüre die schlesische Luft und erkenne vertraute Orte wieder. Ich gehe und suche nach etwas. Ich weiß nicht, wohin ich gehen soll, also fahre ich nach Hause. Nach Hause? Das war einmal. Ich stehe vor dem Eingang des Wohnblocks, in dem sich meine Kindheit abspielte. Vor dem Treppenhaus sind Gegensprechanlagen installiert, die es hier wahrscheinlich schon lange gibt und mir die Möglichkeit des freien Zugangs zum Haus nehmen. Die Eingangstür ist geschlossen. Ich denke daran, wie oft mein Vater durch die Schwelle dieser Tür zur Nachtschicht ins Bergwerk ging. Das Glück auf meines Vaters hallt jetzt in meinem Kopf. Ein Glück auf, dem ein unbekannter Klang beiwohnte. Jetzt kann ich die unterschwellige Wahrheit dieses Abschieds spüren. Diese beiden Worte sind ein schlesisches Gebet. Gott sei uns gnädig.
Ein Gefühl der Einsamkeit ergreift mich und gleichzeitig sehe ich kristallklar. Wie gerne würde ich jetzt in den Duft des Treppenhauses eintauchen und das Aroma der frisch gewischten Betontreppe tief einatmen. Angelehnt an einem wärmenden gusseisernen Heizkörper würde ich am liebsten den ölfarbigen Duft der Lamperie, den Duft der trocknenden Betontreppe, den Duft des Spülmittels einatmen und für immer einbehalten. Früher hätte ich nicht den Bruchteil einer Sekunde an ein gewöhnliches Treppenhaus gedacht. Doch das hat sich geändert. Es ist das Treppenhaus, durch das ich tagein, tagaus in die Welt hinausging und unterwegs all die Nachbarn, die mir begegneten, mit einem freudigen und aufgeschlossenem „Guten Morgen!“ begrüßte. Ein „Guten Morgen!“ für Frau Hulin, für Frau Bolenda, für die Kalembas, für Herrn Mrozek. Mit Grüßen habe ich nicht gespart. Nur auf dem Rückweg vergaß ich das Grüßen.
Der Eingang bleibt verschlossen. Ich lege meine Hände auf die Glastür, um den Blick vor Lichtreflexen abzuschirmen und zu sehen, ob es ist, wie es war. Ich kann meine Freunde erkennen und mich selbst, ich sehe, wie wir blinde Kuh spielen, während wir auf den Pfarrer und die Sternsinger warteten oder auf Herrn Hulin, den Weihnachtsmann.
Ich sehe, wie ich vor Schmerz weine, weil mein Daumen zwischen die Scharniere der schließenden Wohnungstür geraten ist. Ich sehe, wie ich im Hausflur auf den Blättern der Blumen kaue, um den Geruch der ersten gerauchten Zigarette zu überlagern. Doch die Klinken der Wohnungstüren haben sich geändert – sie sind jetzt einseitig: von außen nur noch ein Knauf, kein Eingang mehr. Ich bin neugierig, wie der Keller riecht. Der Keller mit der langen Treppe, aus dem ich Kartoffeln holte oder mein Fahrrad, doch ich ziehe den Schwanz ein und gebe auf. Stattdessen schnüffle ich in der Umgebung und an der Fassade des Gebäudes. In der Dämmerung und im Licht der Straßenlaternen spalten sich die Erinnerung und die Gegenwart, die bis jetzt untrennbar waren, und ich muss die Veränderung eingestehen. Die Blumenkästen sind verschwunden. In jedem zweiten Fenster sehe ich eine Satellitenschüssel und Wände aus Polystyrol. Wo früher ein Volleyballfeld war, gibt es jetzt einen Parkplatz voller parkender Autos. Wo einst ein Spielplatz mit Schaukeln, Sandkasten und einer Rutsche aus einem Förderband von den Nachbarn errichtet wurde, stehen jetzt ihre BMWs. Ein Teil der Rasenfläche ist jetzt auch Parkplatz. Das Heizgebäude mit dem Koks und dem ewigen Teerfass davor und dem Schornstein, auf den ich über die eingemauerten Eisenstäbe hinaufstieg, um die Siedlung von oben zu sehen, sind nicht mehr da, aber es gibt noch die Klopfsztanga.
Ich frage mich, was meine Freunde und Schulkameraden jetzt machen. Wo ist Gurke, Linek, Czmok, Kalemba, Dziuba, Śrubka, wo ist die Blonde und Justina? Ich schaue zum Fenster meines Zimmers hinauf. Das Licht ist an. Dann gehe ich wieder fort. Das Begegnete hat eine neue Gestalt bekommen, es ist eine Botschaft und mein Innerstes vermutet, welchen Inhalt sie trägt. Ich gehe weiter, ohne zu wissen, wohin. Etwas führt mich an der Hand. Ich bin am Friedhof angelangt. Ich suche nach dem einzigen Grab, an das ich mich erinnern kann. Das Grab meines Urgroßvaters Paweł Palica, aus den alten Dokumenten als Paul Johann Palitza bekannt, nach dem ich meinen zweiten Vornamen erhielt. Ich finde seine Ruhestätte. Nebenan liegt Tante Stefa begraben. Ich mochte sie sehr. Ihre Tochter arbeitet wahrscheinlich über Tage bei der Verladung und ihr Mann vermutlich in der Sieberei und Kohlenwäsche, aber genau weiß ich es nicht.
Ich höre das Bergwerk, ich sehe die arbeitenden Förderturme, die sich drehenden Räder mit den kleinen rubinartigen Lichtern obendrauf. Bevor ich hierher kam, bedeckte jemand die Toten mit einer Schneedecke. Ich erkenne diese Handschrift. Ich ziehe das Stativ und den Fotoapparat. Ich mache das Foto und besänftige mein Verlangen, die Erinnerung zu behüten. Wenig später gehe ich in die Maxymilian-Chrobok-Straße in der Nähe der Halde, wo ich als Kind meine Großeltern besuchte. Ich wandle zwischen den Häusern der ehemaligen Leningrader Straße umher, so wie ich es früher getan habe, nur dass es jetzt dunkel ist. Ich komme dem Bergwerk ganz nahe. Ich möchte den Geräuschen der Grube lauschen. Ich stehe an der Hausfassade, atme den kalten Luftzug und den Ruß der schlesischen Industrie tief ein. Vom Norden erreicht mich das Kläffen der Hunde. Ich bin jetzt zu Hause, doch ich gehe zurück zum Hotel.
Das Bild, das ich an jenem Abend auf dem Friedhof aufgenommen habe, werde ich noch öfter in die Hand nehmen. Ich werde es ansehen und mich fragen, warum es meinem Empfinden so nahekommt und meine fotografischen Absichten so treffend reflektiert. Das Bild hat ein einfaches Schema. Im Vordergrund ein Friedhof und schneebedeckte Gräber in der Dämmerung, die Gräber meiner Vorfahren. Im Hintergrund die Verwaltungsgebäude mit Fenstern, in denen Licht brennt, repräsentativ für die Kontinuität des Lebens in der Stadt. Im Plan dahinter Schachtgerüste mit den sich drehenden Förderrädern – sie sind die hiesige Mühle und das Brot und der Herzschlag. Die Winterdämmerung bringt Seelenfrieden, wenn es Abend wird und eine Botschaft, die das Ende herannahen sieht.
Die Dämmerung erinnert daran, dass die Mühle nur läuft, solange der Müller Getreide hat und es sich auszahlt, den schweren Mühlenstein zu winden. Irgendwann werden die kleinen Rubinlichter am Turm erlöschen. Neun Jahre später habe ich mit dem Fotoapparat den Abschied der letzten Steinkohlenzeche Deutschlands festgehalten. „Schicht im Schacht“, heißt es hier und das Foto vermittelt eine ähnliche Stimmung der Dämmerung.
Wie schon erwähnt, mein 1905 geborener Urgroßvater Paul Johann Palitza sen., dem ich meinen zweiten Vornamen verdanke, ist auf diesem Friedhof begraben und neben ihm seine Familie, Freunde, Nachbarn, Bekannten und andere Menschen aus Bielszowice. Er war der Sohn von Franz Palitza und Marianne Notzon und hatte noch zwei Brüder – Edmund und Alfons. Edmund hatte wiederum zwei Töchter – Monika und Maria, und Alfons und seine Frau Malka hatten Tochter Elke und Sohn Erwin, der einst Direktor des Bergwerks in Bielszowice war. Schon als junger Mann kehrte Paul sen. Oberschlesien den Rücken. Er wollte nicht mit Korfanty in den Aufstand ziehen, so verließ er Bielszowice und ging zunächst über Stettin oder Berlin in den Ruhrpott. Das Ruhrgebiet war von Nachkriegswirren gebeutelt und der Wiederaufbau verlief schleppend, also eher schlecht als recht, daher ging mein Urgroßvater weiter bis nach Frankreich. Dort machte er mit meiner Urgroßmutter Wanda aus dem Hause Bosacka Bekanntschaft und sie verliebten sich. Ihr Vater war Adalbert Bosiacki oder Bozacki, die Einträge in den Dokumenten sind so turbulent wie die Zeiten selbst, und um eines klarzustellen, Paul sen. war keineswegs ein Verräter, weil er nicht an den Aufständen von 1919–21 an der Seite von Wojciech Korfanty kämpfte. Er hatte seine Überzeugungen und Ansichten. Er liebte das Licht der Sonne und die Freiheit, wie es nur Bergleute lieben konnten, und er vermochte sein Brot dort zu besorgen, wo es nicht nötig war, dafür mit dem Leben zu bezahlen. Das Leben dankte ihm prompt und er wurde Wandas Ehemann und Vater von vier Kindern.
Wandas Eltern, Josephine aus dem Hause Kwapich und Adalbert Palitza, hatten viele Kinder, die ich nicht alle aufzählen kann. Einer ihrer Söhne, Johann Bosiacki, heiratete eine gewisse Alexis und zog nach dem Zweiten Weltkrieg nach Paris. Vor dem Krieg arbeitete er zunächst im Bergbau im Ruhrgebiet, dann wurde er zur Wehrmacht einberufen, glücklicherweise nur als Übersetzer. Außer ihm hatten sie noch eine Tochter, Loka Bosiacka, die im nordfranzösischen Lille blieb und einen gewissen Schmidt heiratete, Sylwester Bosiacki in Recklinghausen, Hanna Bosiacka in Dortmund-Mengede, Franciszek Bosiacki und noch weitere Geschwister, deren Namen ich nicht kenne.
Wandas Mutter Josephine hielt sich dauerhaft in Lothringen auf und verstarb dort. Vater Adalbert, der vor seiner Abreise nach Frankreich in jungen Jahren in Dortmund Bier mit einem Pferdefuhrwerk ausgeliefert hatte, kam 1954, nachdem seine Ehefrau verstarb, endgültig von Lothringen nach Bielszowice. Er war damals etwa achtzig Jahre alt und wollte den Ruhestand mit seiner üppigen französischen und deutschen Rente genießen, doch die Ämter in Polen durchkreuzten seine Pläne, indem sie seine Rente, die in der harten Währung der Deutschen Mark und des französischen Franken übersendet wurde, einbehielten und zu einem niedrigen Wechselkurs in polnischen Zloty auszahlten. Etwa ein Jahr nach seiner Ankunft in Oberschlesien starb er, die polnischen Behörden als Diebe und Gauner beschimpfend und verfluchend.
Seine Tochter und meine Urgroßmutter, Oma Wanda, wurde im Ruhrgebiet in Dortmund-Dorstfeld geboren und lebte in der Bismarckstraße. Danach ging sie mit ihren Eltern nach Frankreich, ebenfalls in ein Industrie- und Bergbaugebiet. Sie lebten und arbeiteten in Escaudain, Lothringen. 1929 kamen Oma und ihr Mann Paul John Palitza, bereits vermählt, nach Oberschlesien und ließen sich in Bielszowice erneut im Kohlerevier nieder.
Oma Wanda lernte Polnisch und Schlesisch. In den 1950er-Jahren lebte sie mit ihren beiden Söhnen, Herbert und Helmut Franciszek, und Tochter Irena, meiner Großmutter, die sie in der Stalinograder Straße gebar (später wurde der Name der Straße in Dąbrowszczaków geändert und noch später in Pater Niedziela; wer weiß, wie die Straße früher hieß und wie sie in den nächsten ein oder zwei Jahren heißen wird). Ihr ältester Sohn Paul Palitza jun., 1928 in Frankreich geboren, lebte nicht mehr bei ihnen. 1944, als die Sowjetarmee in Schlesien einmarschierte, war er 16 Jahre alt und machte sich zu Fuß auf den Weg ins Ruhrgebiet. Er fand eine Bleibe bei seiner Tante Gertrud in Lünen bei Dortmund. Nach dem Zweiten Weltkrieg wusste seine Mutter Wanda lange Zeit nicht, ob er noch am Leben war. Erst Jahre später erhielt sie einen Brief aus Deutschland, dass es ihrem Sohn gut gehe. In Lünen arbeitete er auf der Zeche und gründete eine Familie. In den 1970er- und 1980er-Jahren besuchte er seine Mutter in Bielszowice. Ich erinnere mich gut an seine Besuche. In den 1980er-Jahren kehrte Oma Wanda nach vielen Jahren nach Deutschland zurück.
Ich denke, ich könnte noch einige Seiten mit der Lebensgeschichte von Paul sen. und Oma Wanda füllen, ebenso mit dem Schicksal von Opa Bernhard, der Bergmann war, seinem Bruder, der in Auschwitz sein Leben ließ, oder seinen Schwestern, die Nonnen in einem Prager Kloster waren.
Mir ist klar, dass ich den Leser mit vielen Namen und Orten aus der Vergangenheit meiner Familie konfrontiere. Fakt ist, dass das Erwähnte nur einen Bruchteil der Familiengeschichte der Janczeks oder Janczyks, Palicas oder Palitzas, Bosackis oder Bozackis ausmacht und es lediglich ein Tropfen im Ozean der Geschichten anderer oberschlesischer Familien ist. Ich zitiere diese Namen und Kurzgeschichten nur marginal am Rande meiner Fotografie, sie zeigen jedoch, wie dynamisch und turbulent die Geschichte Oberschlesiens war und wie weit sie in die Gegenwart hineinstrahlt. Das schwarze Gold war von Aristokraten, Magnaten und Diktatoren begehrt. Es wurde gebraucht, um Macht oder Ideologie zu etablieren. Menschen gingen der Spur des Goldes nach, für Brot und ein scheinbar besseres Leben, immer einen kleinen Schritt vom Wohlstand entfernt. Sie taten das, was schon die Pioniere und Einwanderer in den Vereinigten Staaten vor ihnen taten; was heute Refugees aus Afrika und Geflüchtete aus dem Nahen Osten tun. Die Menschen folgen ihren Träumen und einem vermeintlich besseren Leben, oft in einer Zeit grausamer Kriegswirren. Sie verlassen ihre geliebten Orte, um Tage des Friedens und des Glücks zu erleben. Auf ihren Wanderungen und Durchquerungen nehmen sie außergewöhnliche Entbehrungen auf sich und erleben allzu oft Demütigungen durch Ansässige.
Fortwährend zwangen politische Veränderungen die Oberschlesier zur Anpassung und Migration. Unterdessen entwickelten sie einen überdurchschnittlichen Einfallsreichtum, Überlebenskraft und einen gesunden Sinn für Humor, was ihnen zweifellos zum Überleben verhalf. Die oberschlesische Küche und Sprache zeugen von der Flexibilität der Schlesier, die im Laufe der Zeit überlebenswichtig wurde und eine eigenständige Kultur hervorbrachte. Interessante Beispiele lassen sich in der schlichten, aber kreativen Kombination von Lebensmittelzutaten in Gerichten festmachen, wie wodzionka, eine Suppe aus Wasser und Brot, panczkraut, eine Mischung aus Kartoffelpüree und Sauerkraut, moczka, eine Suppe aus Trockenfrüchten oder siemieniotka, einer Sämling-Suppe aus Hanfsamen. Spuren anderer Sprachen bekräftigen diese Elastizität und sind im Schlesischen „iberdeutlich“ hörbar. Eingereiste Arbeiter beeinflussten hier das gesprochene Wort so stark, dass man den Eindruck einer eigenständigen Sprache erhält. Portmanyj für Portmonee, antryj für Eingang, byfyj für Anrichte, dej pozór! für „gib acht!“, na wjyrchu für obenauf, nawarzyć tyju für „Tee zubereiten“, apluzina für Apfelsine – im Schlesisch kann man sowohl Begriffe aus dem Altpolnischen, Tschechischen, als auch deutsche und französische Annexionen erkennen.
Um auf Urgroßvater Paul zurückzukommen: Ich erinnere mich an eine Geschichte über ihn, die ein wenig Licht auf die Vergangenheit und das Leben in Bielszowice vor meiner Geburt wirft. Unabhängig von der Härte, die das Leben den Menschen abverlangte, und losgelöst von den politischen Stimmungen hatten die Schlesier verstanden, sich zu vergnügen. Sie versammelten sich auf Plätzen, Hinterhöfen, in Stuben, Schänken und unter Altanen. Sie tanzten und lauschten den Liedern der Musikanten und den Geschichten der umherziehenden Lumpen. Sie spielten Akkordeon, Geige und Skat. Das sind keine Mythen. Paul sen. hatte nur noch eine Hand, denn er hatte die andere unglücklicherweise bei einem Unfall im Bergwerk verloren, doch es machte ihm nichts aus, mit einer Hand Skat in Skandys Garage zu spielen. Skandy hatte ein Holzbein, denn das echte war unter Tage oder Gott weiß wo geblieben. Manchmal kamen Willi und Paulek und angeblich einer ohne Auge mit einem Akkordeon. Sie spielten, tranken bis in die Nacht und trennten sich oft in Zwietracht nach heftigem Meinungsaustausch, doch am Morgen auf dem Bürgersteig winkten sie sich schon von weitem grüßend zu, um im besten Einvernehmen eine neue Partie zu arrangieren.
Später zog die Familie meiner Urgroßeltern von der Stalinograder Straße in die Leningrader Straße, weil das Haus in der Stalinograder aufgrund von Bergschäden einzustürzen drohte und abgerissen wurde. Heute heißt die Straße ul. Maksymiliana Chroboka. Maksymilian Chrobok wurde 1911 im westfälischen Bottrop geboren. Kurz nach der Volksabstimmung verließ er das Ruhrgebiet in Richtung Oberschlesien. Im Jahr 1968 wurde er Direktor des Bergwerks. In den siebziger Jahren setzte er sich intensiv für eine positive Entwicklung in Ruda Śląska ein. Seinem sozialen Engagement verdankt die Stadt den schönen Park mit der heute fast vergessenen Skipiste, Eislaufbahn, Rodelbahn und dem Schwimmbad. Vielleicht ist es ihm und den im Sozialen Akt Arbeitenden geschuldet, dass die Stadt im Frühling blühte und sich bunt färbte. Seitdem sind viele Jahre vergangen. Was von der alten Zeit bleibt, ist ein Straßenname, ich aber habe das, was für mich übrig blieb, ins Bild gefasst – bedeckt mit einer Schneedecke das Grab meines Urgroßvaters, den ich nicht kannte.
Fortwährend zwangen politische Veränderungen die Oberschlesier zur Anpassung und Migration. Unterdessen entwickelten sie einen überdurchschnittlichen Einfallsreichtum, Überlebenskraft und einen gesunden Sinn für Humor, was ihnen zweifellos zum Überleben verhalf. Die oberschlesische Küche und Sprache zeugen von der Flexibilität der Schlesier, die im Laufe der Zeit überlebenswichtig wurde und eine eigenständige Kultur hervorbrachte. Interessante Beispiele lassen sich in der schlichten, aber kreativen Kombination von Lebensmittelzutaten in Gerichten festmachen, wie wodzionka, eine Suppe aus Wasser und Brot, panczkraut, eine Mischung aus Kartoffelpüree und Sauerkraut, moczka, eine Suppe aus Trockenfrüchten oder siemieniotka, einer Sämling-Suppe aus Hanfsamen. Spuren anderer Sprachen bekräftigen diese Elastizität und sind im Schlesischen „iberdeutlich“ hörbar. Eingereiste Arbeiter beeinflussten hier das gesprochene Wort so stark, dass man den Eindruck einer eigenständigen Sprache erhält. Portmanyj für Portmonee, antryj für Eingang, byfyj für Anrichte, dej pozór! für „gib acht!“, na wjyrchu für obenauf, nawarzyć tyju für „Tee zubereiten“, apluzina für Apfelsine – im Schlesisch kann man sowohl Begriffe aus dem Altpolnischen, Tschechischen, als auch deutsche und französische Annexionen erkennen.
Um auf Urgroßvater Paul zurückzukommen: Ich erinnere mich an eine Geschichte über ihn, die ein wenig Licht auf die Vergangenheit und das Leben in Bielszowice vor meiner Geburt wirft. Unabhängig von der Härte, die das Leben den Menschen abverlangte, und losgelöst von den politischen Stimmungen hatten die Schlesier verstanden, sich zu vergnügen. Sie versammelten sich auf Plätzen, Hinterhöfen, in Stuben, Schänken und unter Altanen. Sie tanzten und lauschten den Liedern der Musikanten und den Geschichten der umherziehenden Lumpen. Sie spielten Akkordeon, Geige und Skat. Das sind keine Mythen. Paul sen. hatte nur noch eine Hand, denn er hatte die andere unglücklicherweise bei einem Unfall im Bergwerk verloren, doch es machte ihm nichts aus, mit einer Hand Skat in Skandys Garage zu spielen. Skandy hatte ein Holzbein, denn das echte war unter Tage oder Gott weiß wo geblieben. Manchmal kamen Willi und Paulek und angeblich einer ohne Auge mit einem Akkordeon. Sie spielten, tranken bis in die Nacht und trennten sich oft in Zwietracht nach heftigem Meinungsaustausch, doch am Morgen auf dem Bürgersteig winkten sie sich schon von weitem grüßend zu, um im besten Einvernehmen eine neue Partie zu arrangieren.
Später zog die Familie meiner Urgroßeltern von der Stalinograder Straße in die Leningrader Straße, weil das Haus in der Stalinograder aufgrund von Bergschäden einzustürzen drohte und abgerissen wurde. Heute heißt die Straße ul. Maksymiliana Chroboka. Maksymilian Chrobok wurde 1911 im westfälischen Bottrop geboren. Kurz nach der Volksabstimmung verließ er das Ruhrgebiet in Richtung Oberschlesien. Im Jahr 1968 wurde er Direktor des Bergwerks. In den siebziger Jahren setzte er sich intensiv für eine positive Entwicklung in Ruda Śląska ein. Seinem sozialen Engagement verdankt die Stadt den schönen Park mit der heute fast vergessenen Skipiste, Eislaufbahn, Rodelbahn und dem Schwimmbad. Vielleicht ist es ihm und den im Sozialen Akt Arbeitenden geschuldet, dass die Stadt im Frühling blühte und sich bunt färbte. Seitdem sind viele Jahre vergangen. Was von der alten Zeit bleibt, ist ein Straßenname, ich aber habe das, was für mich übrig blieb, ins Bild gefasst – bedeckt mit einer Schneedecke das Grab meines Urgroßvaters, den ich nicht kannte.
Ich kannte meinen Urgroßvater nicht, denn er starb 1960, lange bevor ich geboren wurde. Was ich über ihn weiß, habe ich aus den Geschichten am Familientisch aufgeschnappt. Als ich nach Bielszowice kam, fand ich das Grab meines Urgroßvaters. Ich habe hier so gut wie niemanden, zu dem ich gehen könnte. Ich betrachte die Außenwelt und stelle fest, dass dieses Leben und der Geist, den ich suche, nicht mehr existiert, er ist nur noch Erinnerung. Pauls jüngster Sohn, Helmut, ist noch am Leben und es ist mir ein Trost, aber mit zunehmendem Alter erweist sich der Zugang zu ihm als schwierig. Opa Bernat, Oma Irenka, Oma Wanda, Onkel Richat, Herbert, Edek, Tanten und Cousinen, sie verließen unsere Stadt. In den 1980er-Jahren gingen wir und viele andere Oberschlesier nach Deutschland. Meine Eltern, meine Schwester und ich machten den Schritt im Sommer des Jahres 1987, in den Sommerferien. Von Schicksalshand geleitet, ließen wir uns hinter dem wärmenden Ofen hervorlocken und tauschten ihn gegen einen blechernen Heizkörper. Etwas zog uns vom Revier ins Revier. Genau wie unsere Vorfahren gingen wir, nicht wissend, dass wir nun die Spuren unseres vermeintlich harten, aber warmen Lebens verwischten, genossen wir jetzt doch die Spielzeuge des kapitalistischen Westens, ohne zurückzuschauen. Freundschaftliche Bindungen zerbrachen und die familiären Geflechte wurden immer dünner, bevor sie ganz verschwanden. Dies war der Preis, mit dem niemand rechnete. Mehr als 30 Jahre später fiel mir auf, dass mein Neffe auf der Brust eine runde Aluminiummedaille mit der eingeprägten Zahl 4540 trägt. Jeder Bergmann des Bergwerks in Bielszowice trug eine solche Medaille mit einer Nummer zur Identifizierung. Er hängte sie um den Hals bei Arbeitsbeginn und nach der Schicht warf er sie als Zeichen seiner Rückkehr in eine Schachtel. Erst dann war seine Schicht offiziell beendet. Wenn das Medaillon nicht eintraf, bedeutete dies, dass der Bergmann nicht zurückkam. Es wurde alarmiert, die Suche nach ihm begann. Die Medaillen hatten für jede Schicht eine andere Form: quadratisch für die Nachtschicht, rund für die Frühschicht und dreieckig für die Nachmittagsschicht.
Mein Vater vergaß seine Medaille in die Schachtel zu legen, als er seine letzte Seilfahrt mit dem rasenden Stahlkorb an die sonnige Erdoberfläche antrat und die Schicht beendete, doch niemand merkte es, niemand schlug Alarm. Das Medaillon hing um seinen Hals, als wir mit dem elfenbeinfarbenen Fiat die Volksrepublik Polen verließen und über den Grenzübergang Helmstedt-Marienborn den Eisernen Vorhang von der DDR nach Deutschland überquerten. Eine kleine Aluminiummedaille aus dem Bergwerk Bielszowice landete so im Ruhrgebiet, und der siebzehnjährige Lukas trennt sich niemals von ihr. Wenn er gefragt wird, erzählt er seinen Freunden und Bekannten in Recklinghausen, Dortmund oder Wanne-Eickel die Geschichte, die sich hinter der 4540 verbirgt.
Wir werden Wurzeln schlagen, aber langsam, denn das Klima ist kühl. Von Zeit zu Zeit komme ich nach Bielszowice zurück, und da ich niemanden zu besuchen weiß, wandere ich umher. Etwas führt mich auf den Friedhof, wie einen Hund, wie den Hund im dritten Teil des sogenannten Schlesischen Triptychon mit dem Titel Perlen eines Rosenkranzes. Kazimerz Kutz drehte den Film in Anlehnung an den Roman Dieses Haus ist weg von Albin Siekierski. In der letzten Szene sucht der treue Hund sein Herrchen auf dem Friedhof, den verstorbenen Karol Habryka, der ein verdienstvoller Bergmann war. Der Hund irrt umher und findet das Grab während des feierlichen Begräbnisses. Er legt sich neben die Blumenkränze auf das Grab. Zwischen den Trauernden steht auch der Enkel Habrykas, scheinbar ein Mittler zwischen den Generationen der Familiengeschichte. Der Zufall wollte, dass die Szene im Jahr 1978 auf dem Friedhof in Bielszowice gedreht wurde – dem Ort, den ich wieder und wieder aufsuche. Ich komme hierher wie ein Enkel und wie ein treuer Hund. Der Geschmack meiner Geschichte ähnelt dem Geschmack der Geschichte, die im Film von Herrn Kutz gezeigt wird. Es ist ein Vorgeschmack auf das Dahinscheiden und den Aufbruch in die Zukunft.
Am Mittag des nächsten Tages, nachdem ich das Foto am Friedhof gemacht habe, gehe ich in die Schänke am Bergwerk. Es herrscht reger Betrieb und mancher Bergmann trägt noch Kohlestaub um die Augen herum. Ich finde Anschluss und unterhalte mich mit zwei Bergleuten, die ihre Schicht eben beendet haben. Wir trinken Bier, erzählen unsere Lebensgeschichten und tauschen Meinungen aus. Einer von ihnen fragt mich, welches Auto ich fahre. „Toyota Corolla“, antworte ich. „Ist schon dreihunderttausend gelaufen!“ „Schau mal“, sagt er zu mir. „Ich habe ein besseres Auto als du, doch ich bin hier daheim.“