Kafhauz

Kapitel VI

   

Die Freiheit trägt Lumpen – eine Geschichte über das Teilen.

Am Diens­tag explo­dier­te der Reak­tor in Tscher­no­byl. Vier Tage spä­ter, um 19.30 Uhr im Jour­nal Dzi­en­nik Tele­wi­zy­j­ny, erreich­te uns die­se Neu­ig­keit und den Tag dar­auf, am Sonn­tag, den 1. Mai, ging es zuerst in die Kir­che, dann Spa­zier­gang, danach Lugol­sche Jod­lö­sung schlu­cken, Klö­ße, Rou­la­den und raus auf den Platz. In den Nach­rich­ten hieß es, kei­ne Gefahr, die Radio­ak­ti­vi­tät sei auf dem Rück­zug – bestä­tigt durch die bes­ten Wis­sen­schaft­ler der Sowjet­uni­on. Raus aus den fei­nen Kla­mot­ten, rein in die Lum­pen – unse­re eigent­li­che Haut. Die Dicke, Rubo genannt, war auch schon wie­der da, hat­te zwei Zöp­fe mit roten Bän­dern zusam­men­ge­hal­ten, rote auf­ge­bla­se­ne Backen, ein creme­far­be­nes Kleid, wei­ße Strümp­fe und glän­zen­de rote Schu­he an. Sie stand neben ihrem roten Fahr­rad, in der Hand hielt sie eine graue Papier­tü­te vol­ler Bon­bons, kau­te und kau­te einen nach dem ande­ren und wir stan­den da und starr­ten sie an. „Was guckt ihr so? Kauft euch selbst“. Sie war kei­ne von uns, denn als sol­che hät­te sie für ihre blo­ße Erschei­nung die Backen voll bekom­men, aber als die Dicke kam sie jedes Mal unge­scho­ren davon, stieg auf den Jubi­lat ihres älte­ren Bru­ders und weg war sie – eine Unan­tast­bar­keit hat­te sie, wie ein wei­ter, frem­der Planet.

Unter uns haben wir geteilt. Und wenn nicht, dann warst du ver­däch­tig und konn­test dich nur müh­se­lig ins Ver­trau­en zurück­kau­fen. Ob wir gerecht geteilt haben, wuss­te nur der Herr allein. Beim Tei­len konn­te man die Rang­ord­nung bestim­men und sehen, wer der Stärks­te ist – der Stärks­te bekommt das meis­te, der Schwächs­te die Res­te. Alles in allem war es halb so schlimm, der Letz­te zu sein, die Nach­hut sozu­sa­gen, weil der Anfüh­rer den Schwächs­ten unter die Arme griff und mit ihnen teil­te – vor­bild­lich und kon­se­quent – jedoch kei­nes­falls sei­ne eige­ne Beu­te. Er war nicht dumm und wuss­te, dass die Ket­te nur so stark war wie er selbst und das schwächs­te Glied, daher ord­ne­te er das Tei­len mit sich und sei­nem Stie­fel­knecht in erbar­mungs­vol­ler Ges­te sei­nem Rudel an. Wider­wort bedeu­te­te Ungunst in der Luft, Schwitz­kas­ten oder sogar Mes­ser im Ober­schen­kel – so wur­de die Rang­ord­nung bestimmt. Die Beu­te konn­te alles Mög­li­che sein. Gefun­de­nes Geld, irgend­was Ein­ge­steck­tes, etwas Ess­ba­res oder ein Ball, der gefun­den wur­de. Wir spiel­ten oft Fuß­ball, orga­ni­sier­ten Spie­le gegen ande­re Stadt­tei­le und Städ­te, rann­ten dem Leder hin­ter­her, atem­los dem Eden ganz nahe, kläf­fend wie Wel­pen mit Lücken im Gebiss und Dreck unter den Nägeln. Solan­ge das Leder roll­te, dreh­te sich die Welt. Der gefun­de­ne Ball wur­de geteilt und wir nann­ten ihn die Maria – viel­leicht weil er so schön war wie die Mut­ter Gottes.

Unse­re Inter­ak­ti­on beruh­te auf einer Art intui­tiv-tele­pa­thi­schen Ver­stän­di­gung, die man nur schwer­lich erklä­ren kann, weil sie ja intui­tiv und eigent­lich den Engeln vor­be­hal­ten war. Wir konn­ten aber auch wie gewöhn­li­che Men­schen kom­mu­ni­zie­ren, über fes­te Abspra­chen auf Schle­sisch – schnell hast du gemerkt, wes­sen Wort Gewicht hat­te und wer ein Schwät­zer war. Rot­haa­ri­ge oder Goro­le, die von außer­halb kamen, hat­ten es schwie­ri­ger mit uns. Sie wur­den von Grund auf miss­trau­isch beäugt – eine Art Aus­gren­zung auf­grund des Äuße­ren und der Spra­che – anschei­nend waren wir klei­ne Rassisten.

Unter­ein­an­der lern­ten wir, uns blind den Ball zuzu­spie­len, zu tei­len – und wo unse­re Gren­zen lagen, lern­ten wir auch, spie­le­risch jeden Zaun und jede Mau­er bewäl­ti­gend, auf jeder Hal­de und jedem Gleis behei­ma­tet, jede Abkür­zung ken­nend und immer ahnend, wo es etwas umsonst gibt, wo Geld, wo Freu­de liegt, denn sie war die eigent­li­che Beu­te, die wir so selbst­ver­ständ­lich teil­ten wie die Luft, die wir atme­ten. In der Däm­me­rung ging es nach Hau­se, mehr aus Pflicht­be­wusst­sein als aus frei­em Wil­len, denn daheim herrsch­ten die Regeln der Ande­ren – dem einen saß der Kra­gen zu eng, dem ande­ren war es zu laut. Wir waren Kum­pel und das bedeu­te­te Tei­len – oder aber du muss­test einen Strahl haben, der über die Bus­hal­te­stel­le reich­te – je höher des­to besser.

Manch­mal mach­ten wir blau. Von der Hal­te­stel­le neben der Kochłów­ka fuh­ren wir mit dem Bus los, mach­ten uns auf den Bän­ken breit oder surf­ten in der Mit­te des Gelenk­bus­ses auf dem rotie­ren­den Teil, dann stie­gen wir aus und gin­gen in den Video­spiel­pa­last aus Well­blech am Wen­de­ham­mer in Chor­zów. Ein Spiel am Flip­per, ein zwei­tes am Street­figh­ter, je zehn Zło­ty. Wenn einer kein Geld hat­te, hat er zuge­se­hen und auf Mit­leid gehofft – aber jeder kam dran, denn wir kann­ten Erbarmen.

Biel­s­zowice – der Nabel der Welt, umge­ben von Makos­zowy, Pawłów, Porem­ba, Nowy Bytom, Wirek und Zabor­ze, wo einst Janosch im Jahr 1931 zu Welt kam. Janosch sagt, dass sich alles, was er je schrieb, in sei­nen ers­ten drei Jah­ren hier in unse­rem Revier ereig­ne­te und dass hier Engel am Him­mel her­um­flie­gen und hier der Mit­tel­punkt der Welt sei – das mit dem Zen­trum der Erde wür­de jeder von uns blind unter­schrei­ben und einen Engel hat hier auch jeder schon mal gese­hen. Je älter wir wur­den, des­to grö­ßer wur­de unser Wir­kungs­kreis – es kamen erst Zabrze, dann Chor­zów und sogar Katow­ice hin­zu, mit Bus oder Bahn gut erreichbar.

Die Ori­en­tie­rung im Revier hat­test du über mar­kan­te Punk­te in der Stadt­land­schaft. Es waren Bun­ker, Plat­ten­bau­sied­lun­gen, För­der­tür­me oder der Hoch­ofen an der Kaf­hauz-Sied­lung, die man aus der Fer­ne sah, doch wir ori­en­tier­ten uns auch an den geo­gra­fi­schen Gege­ben­hei­ten wie Hal­den, Wäld­chen und Gewäs­sern, zu denen Flüs­se wie die Czer­niaw­ka und die eben erwähn­te Kochłów­ka zähl­ten, die aller­dings so ver­dreckt waren, dass kei­ner von uns sie je über­quert hat – eine unna­tür­li­che Gren­ze aus einem dick­flüs­si­gen, schäu­men­den, grau­en Gift – unvor­stell­bar, dass mein Vater als Kind in der Kochłów­ka unbe­denk­lich schwim­men konn­te, weil ihr Was­ser so rein war, dass er dort Stich­lin­ge sehen und fan­gen konn­te – so in etwa bis 1962. Der Dreck in den Gewäs­sern kam angeb­lich zusam­men mit der Pro­duk­ti­on und dem Raub­bau für die Sowjets, die schon beim Ein­marsch die ober­schle­si­schen Berg­leu­te zu Tau­sen­den depor­tier­ten und sich ihre Frau­en aus­lie­hen. Spä­ter leg­ten die Sowjets sogar eine Breit­spur­bahn zu sich nach Hau­se, um die Roh­stof­fe und den Stahl weg­zu­schaf­fen – die Ober­schle­si­er muss­ten nicht zum ers­ten mal und nicht zum letz­ten Mal tei­len, doch das ist eine ande­re Geschichte.

Außer den bei­den Flüs­sen hat­ten wir noch einen klei­nen Bach im Feucht­ge­biet am Schul­weg. Das Gewäs­ser war von Feucht­wie­sen und Feld­wei­den umge­ben, deren Melo­die klang wie die Polo­nai­se von Fré­dé­ric Cho­pin. Das Rinn­sal war nicht ganz so melo­disch wie das Ambi­en­te sei­ner Umge­bung. Zuerst hast du dei­nen Tor­nis­ter rüber gewor­fen, dann wag­test du den Sprung. Er war zwar ein­fach zu über­sprin­gen, aber sein Ufer war sehr glit­schig. Kei­ne Gren­ze, wür­de man mei­nen, doch droh­te dabei die lebens­lan­ge Schan­de, denn das Rinn­sal stank erbärm­lich und führ­te Köt­tel, Prä­ser­va­ti­ve und Abwas­ser. Die Prä­ser­va­ti­ve, her­aus­ge­holt über ein Stock gehängt, dien­ten eini­gen von uns zur Mäd­chen­jagd – das Pro­ze­de­re war ein getarn­ter roman­ti­scher Annä­he­rungs­ver­such. Das war wirk­lich fies, aber Kon­do­me waren lus­tig und des­halb hoch­be­gehrt bei uns. Noch bes­ser waren unbe­nutz­te, die man bes­tens als Luft­bal­lon­er­satz ver­wen­den konn­te. Es war schwer, an sie ran­zu­kom­men, denn man müss­te sie ent­we­der mop­sen oder man benö­tig­te die Berech­ti­gung eines Eltern­tei­les für ihre Abho­lung, die man der stäm­mi­gen Ver­käu­fe­rin im Kiosk gegen­über der Kir­che zu zei­gen hat­te – das Gan­ze war ein hoch­ris­kan­tes Unter­fan­gen, in Anbe­tracht der Zeit und des Brei­ten­grads. Da nur einer von uns über sol­che glaub­wür­di­gen Berech­ti­gungs­fäl­schun­gen ver­füg­te, er aber sel­ten mit uns unter­wegs sein durf­te, schick­ten wir eines Tages unse­ren jun­gen Stie­fel­knecht zum Kiosk. Wir gaben ihm Geld und erklär­ten, was er zu sagen hat: „Wie­der­ho­le, Klei­ner, eine Packung Prä­ser­va­ti­ve, bit­te.“ Er wehr­te sich mit allem, was ihm als Waf­fe zur Ver­fü­gung stand, und als wir ihm einen Schubs gaben, spuck­te er uns wild­ge­wor­den an, denn er spür­te die Gefahr, in die er sich bege­ben soll­te, doch dem Anfüh­rer konn­te er den Spaß nicht abschla­gen, war er doch sein loya­ler Freund. „Und wenn sie dich fragt, für wen du das brauchst, dann sagst du, dass dich der Probst schickt – ver­stan­den?“ Als der Klei­ne am Kiosk stand und plötz­lich sei­ne Bei­ne unterm Arm nahm und so schnell rann­te, dass es staub­te, roll­ten wir uns ab vor Lachen bis in den Bauch­schmerz hin­ein, aber aus siche­rer Distanz – wir teil­ten jeden Spaß, wie es sich gehört.

In der Hosen­ta­sche hat­test du Zünd­höl­zer und ein Mes­ser mit. Mit dem Mes­ser konn­te man aller­lei anstel­len, Frö­sche sezie­ren, dro­hen und Wurf­spie­le abhal­ten, in denen wir unse­re Wurf­tech­ni­ken ver­gli­chen. Mit den Zünd­höl­zern mach­ten wir eine Feu­er­ka an, um Plas­tik­ge­gen­stän­de zu schmel­zen oder Aero­sol­do­sen, die wir im Hasiok, also in der Abfall­ton­ne gefun­den haben, knal­len zu las­sen – du wirfst die Behäl­ter ins Feu­er und suchst das Wei­te und dann knallt es. Im Che­mie­la­den hol­ten wir Sal­pe­ter, misch­ten Zucker bei, füll­ten Dreh­ver­schlüs­se von Fla­schen mit dem Gemisch, deckel­ten sie, klei­nes Loch als Antriebs­dü­se, Zünd­höl­zer raus, Zün­dung, los – ab geht die Post. Die Geschos­se set­zen in rasen­der Geschwin­dig­keit Ener­gie frei – als che­mi­sche Reak­ti­on, wie klei­ne, wild umher­flie­gen­de Rake­ten, und bescher­ten uns auf die­se Wei­se ein Erleb­nis nicht nur für Augen und Ohren. Nach ihrem tur­bu­len­ten krei­schen­den Flug brann­ten sie tie­fe Löcher in den Asphalt, wäh­rend sie nach­glüh­ten. Bei die­sem Spaß muss­ten wir vor unse­ren eige­nen Geschos­sen auf der Hut sein, denn eine Kol­li­si­on konn­te dich schnell ein Auge kosten.

Was die Augen angeht – unse­re waren flink und der Blick scharf. Eines Tages fan­den wir einen erheb­li­chen Geld­be­trag auf dem Rasen, schö­ne neue geroll­te Geld­schei­ne mit einem Gum­mi­band zusam­men­ge­fasst, etwa ein durch­schnitt­li­ches Monats­ein­kom­men, und dann ging es los: „Ich habe es zuerst gese­hen“, rief der eine, wor­auf der ande­re ant­wor­te­te, dass er es aber auf­ge­ho­ben hat und des­halb das Geld ihm gehö­re und so wei­ter. Der Anfüh­rer schritt irgend­wann ein und sag­te, dass es sein Geld sei, denn er hat­te es ges­tern hier ver­lo­ren. Es war die abso­lu­te Wahr­heit, wur­de sie doch als sol­che ver­kauft und außer­dem über­zeu­gend vom Stie­fel­knecht bestä­tigt. Was soll­ten wir mit soviel Geld anfan­gen? Der Anfüh­rer wuss­te es, denn er konn­te rachować, also rech­nen. Umge­rech­net hat­ten wir zwei­tau­send Schuss an der The­ke frei. Für gera­de mal die Hälf­te davon ver­brach­ten wir einen gan­zen Schul­tag und zwei Nach­mit­ta­ge an der Schieß­bu­de. Wir bal­ler­ten, was das Zeug hält, und räum­ten trotz mani­pu­lier­ter Visie­re sämt­li­che Plas­tik­blu­men, Lut­scher, Schlüs­sel­an­hän­ger, Pfau­en­fe­dern und sogar, ob man’s glaubt oder nicht, hand­si­gnier­te Modern Tal­king-Fotos ab, pack­ten sie in Tüten und teil­ten die Beu­te spä­ter an der Klopf­sz­tan­ga unter­ein­an­der auf – wir wuss­ten, wie der Hase läuft und was von Wert war. Der Anfüh­rer woll­te von all dem Zeug nichts haben, aber dafür von der zwei­ten Hälf­te der Koh­le. Er kauf­te eine präch­ti­ge Kris­tall­schüs­sel auf der ul. Kościel­na, pack­te Zitrus­früch­te und Wein­trau­ben hin­ein, kauf­te rote Nel­ken steck­te sie in die Vase und schenk­te das Gan­ze sei­ner Mut­ter. Nach sei­nem maß­los barm­her­zi­gen Ver­tei­lungs­akt war immer noch Schot­ter in den kaput­ten galo­ty, also Hosen, da.

Im einem Gedicht des Pfar­rers Jan Twar­dow­ski heißt es: „Dzie­ku­ję Ci że spra­wi­ed­li­wość Two­ja jest nierów­nością“, was soviel heißt wie: „Ich dan­ke Dir, Gott, dass Dei­ne Gerech­tig­keit eine unglei­che ist“.

Nach Jah­ren mei­ner Abwe­sen­heit in unse­rem Revier kehr­te ich zurück, such­te die Ver­gan­gen­heit und auch das Gefühl der alten Frei­heit. Die Zeit in West­fa­len hat­te mich sie ver­ges­sen las­sen und ich glau­be, ich woll­te noch­mal spü­ren, wie sich ihre Herr­lich­keit anfühlt – ich mei­ne nicht die­se Frei­heit, die aufs Papier gebracht als Sonn­tags­re­de in einer präch­ti­gen Kir­che oder im Bun­des­tag taugt. Ich mei­ne nicht jene, die mit dem Libe­ra­lis­mus des Kapi­tals durch­ein­an­der­ge­bracht wird und aus Selbst­schutz posaunt – Frei­heit ist nicht gleich Wohl­stand! Ich mei­ne die ech­te Frei­heit, die klei­ne Gro­ße. Ich frag­te mich, mit wem ich sie tei­len wür­de, wenn ich sie erst ein­mal gefun­den habe, hat­ten die meis­ten sie doch längst ver­ges­sen – ein­ge­spannt in die soge­nann­te Lebens­be­wäl­ti­gung, hin­gen wir doch eigent­lich alle wie die Esel an der Karot­te für die­ses häss­li­che eine Wort, Lebens­be­wäl­ti­gung – klingt für mich wie die End­lö­sung und hat wenig mit Leben zu tun. Die Zeit in unse­rem Revier stand nicht still, wäh­rend ich weg war, und auch hier waren die meis­ten als Maul­tier im Gespann unter­wegs. Ich merk­te deut­lich die Ver­än­de­run­gen und auch die Fas­sa­den­sprü­che schie­nen sich mit der Zeit radi­ka­li­siert zu haben. Die eins­ti­gen Schmie­re­rei­en, durch Kin­der mit Krei­de auf­ge­bracht, wie Darek ist ein Dieb, Hit­ler kaputt oder Iwo­na ist eine Kuh wan­del­ten sich und wur­den deut­lich rau­er. Sie rich­ten sich immer öfter gegen die Exe­ku­ti­ve des Staa­tes und gegen die unnach­voll­zieh­ba­ren Ent­schei­dun­gen der Legis­la­ti­ve, deren war­me Leder­ses­sel weit ent­fernt vom ober­schle­si­schen All­tag sind – es heißt heu­te Fick die Poli­zei oder PIS ist Kac­zynskis stin­ken­de Hure.

Für vie­le sind die Zei­ten schroff, ist die Kluft zwi­schen Wohl­stand und Armut min­des­tens so schwer über­wind­bar wie die Czer­niaw­ka, und die Wür­de derer, die es den­noch ver­su­chen, ein schwe­res Brot. Sie wer­den von der Gemein­schaft miss­ach­tet und gebrand­markt, also gehen sie zu ihrer Kla­ge­mau­er aus rotem Back­stein und krit­zeln ihren Hass dar­auf. Fas­sa­den und Mau­ern geben ihnen eine Stim­me, um Lie­be, Wut und Frust öffent­lich zu machen – jeder Mensch ist ein Künst­ler, nicht weni­ger als Edward Munch oder Bank­sy, doch nicht jeder bekommt eine Chan­ce, sei­ne Kunst zu pflegen.

Als ich wie­der­kam, woll­te ich die klei­ne Gro­ße wie­der­se­hen. Wo könn­te sie sein, viel­leicht auf den Fami­lo­ki, dort, wo sie frü­her her­um­lief – in den alten, geschichts­träch­ti­gen, schle­si­schen Arbei­ter­sied­lun­gen, oder war sie eher auf der Hal­de in Biel­s­zowice oder in Makos­zowy, wo sie wie die wun­der­schö­ne Mari­an­ne von Delacroix, jetzt aber als müde Revo­lu­ti­on mit ent­blöß­tem Busen, bar­fü­ßig und ent­kräf­tet, mit einer Spray­do­se über das Taub­ge­stein stol­per­te? Ich begab mich dort­hin, wo einst unser Revier ende­te, weil dort ande­re Jungs ihren Scha­ber­nack trie­ben – zum Kaf­hauz in Fryn­ci­ta – einer klas­si­schen Arbei­ter­sied­lung, deren ers­te Häu­ser bereits 1880 für die Beschäf­tig­ten der Frie­dens­hüt­te im heu­ti­gen Nowy Bytom erbaut wur­den, einer Zeit, als die Preu­ßen regier­ten und die Adels­fa­mi­li­en die Indus­tria­li­sie­rung vorantrieben.

Übri­gens soll­te man erwäh­nen, dass die groß­in­dus­tri­el­len Adels­fa­mi­li­en in Ober­schle­si­en sich äußerst kari­ta­tiv und groß­zü­gig zeig­ten. Sie han­del­ten stets in christ­li­cher Über­zeu­gung, erbau­ten Wai­sen­häu­ser und Arbei­ter­sied­lun­gen. Sieht man genau­er hin, war ihr kari­ta­ti­ves Auf­tre­ten mehr ein tak­tisch durch­dach­ter Schach­zug ihrer Selbst­be­haup­tung, als dass er der Gut­her­zig­keit ent­sprang – weiß man doch im All­ge­mei­nen, dass die Ket­te nur so stark ist wie ihr schwächs­tes Glied. Sie erbau­ten das, was wir heu­te als zivi­li­sa­to­ri­sche Wei­ter­ent­wick­lun­gen bezeich­nen wür­den, lie­ßen Zechen und Hüt­ten aus dem Boden sprie­ßen und brüs­te­ten sich mit ihren Erfol­gen, wäh­rend sie in pracht­vol­len Spie­gel­sa­lons neben Pal­men den Hum­mer und die Ana­nas­se ver­zehr­ten – doch soll­te man stets bei­de Sei­ten einer Medail­le betrach­ten. Zeit­gleich teil­te sich die zehn­köp­fi­ge Arbei­ter­fa­mi­lie einen Salz­he­ring zum Abend­brot, zwei Räu­me und das Klo mit zehn wei­te­ren, ohne die Wan­zen zu erwäh­nen. Eigent­lich waren sie es, die die Indus­trie und den kul­tu­rel­len Reich­tum im geschichts­träch­ti­gen Ober­schle­si­en bil­de­ten und aus­mach­ten, doch der Adel hat­te sie nicht auf der Rech­nung und schrieb sich selbst in die Geschichts­bü­cher als Schöp­fer die­ser Kul­tur hin­ein, ohne je einen Back­stein in der Hand gehal­ten zu haben.

Doch wei­ter im Text: Als ich einen Tag zuvor in der Schän­ke in Biel­s­zowice war, riet mir der Typ mit dem super Auto ab, dort­hin zu gehen, und ich merk­te, dass er trotz sei­ner gro­ßen Sta­tur ein ängst­li­cher Mann sein muss­te, ganz anders als sein etwas älte­rer Schicht­kum­pel – denn der Dicke, wenn ich ihn rich­tig ein­schätz­te, war eher so einer, der Angst hat, dass sein Auto­lack eine Schram­me abbe­kommt, wenn er am Kaf­hauz parkt, ein Kon­su­ment eben, einer der sonn­tags im Hyper­markt oder Mol spa­zie­ren geht, um den neus­ten Schrei zu stu­die­ren. Weil sol­che Typen sich nie­mals zum Kaf­hauz bega­ben, war die Wahr­schein­lich­keit hoch, dass dort noch die Frei­heit anzu­tref­fen war.

Dort ange­kom­men, konn­te ich schon beim Anblick der lan­gen Fami­lok-Fas­sa­den mit den bun­ten Fens­ter­rah­men durch­at­men und ich muss­te wie­der an Janosch den­ken. Über­haupt beglei­ten mich sei­ne Geschich­ten stets, sei es die Geschich­te über einen gewis­sen Kotyr­ba, der in unse­rer Czer­niaw­ka, in die wir nie frei­wil­lig ein­ge­taucht wären, noch weit vor unse­rer Zeit mit einem Kopf­schuss von deut­schen Sol­da­ten nie­der­ge­streckt wur­de, als er Kar­bid nach Biel­s­zowice schmug­geln woll­te und der geschmug­gel­te Brenn­stoff mit sei­nem Blut ver­mengt das Was­ser bro­deln ließ wie einen Vul­kan, oder eben jetzt beim Anblick der Fas­sa­de, die mich an sei­ne Erzäh­lung über die roten schle­si­schen Fens­ter erin­ner­te. Die Stadt­land­schaft flüs­tert mir stän­dig etwas zu und ich glei­che das Geflüs­ter mit den Geschich­ten ab, die ich von mei­nem Vater oder aus Büchern ken­ne. Jetzt, beim Anblick der bun­ten Fens­ter­rah­men, dach­te ich dar­an, dass die Men­schen anschei­nend die Far­be, die sie hat­ten, mit ihren Nach­barn teil­ten, und dass die Fens­ter, die ich jetzt im Objek­tiv zu ver­ei­nen such­te, eigent­lich ein Sche­ma der hie­si­gen Freund­schaf­ten erga­ben. Könn­te man anhand der Far­be erah­nen, wer mit wem die Pfer­de stahl? Janoschs Schil­de­rung aus sei­nem Buch Cho­lo­nek oder der lie­be Gott aus Lehm ließ mich genau das ver­mu­ten. Dort beschreibt er, wie ein gewis­ser Jan­kow­ski die Far­be, die er im Über­fluss hat­te, mit denen teil­te, denen er freund­schaft­lich gesinnt war, und wer wie­der­um außen vor blieb.

Die bun­te Fas­sa­de war ein schö­nes Motiv, denn sie war das bild­li­che Syn­onym der auto­no­men Frei­heit, die in der Kaf­hauz-Sied­lung seit fast 150 Jah­ren wohn­te und im stän­di­gen Kon­trast zur Unter­drü­ckung der arbei­ten­den Klas­sen stand und des­halb über sich hin­aus­wach­sen konn­te. Die Fas­sa­de ließ mich erah­nen, was hin­ter ihr steck­te, wie bunt die Frei­heit war und dass man­che hier noch teil­ten wie einst – gerecht, aber ungleich. Um das halb­wegs begrei­fen zu kön­nen, musst du hier gewach­sen sein – dach­te ich noch, aber mei­nen Gedan­ken­gang brach ich ab, als sich ein mas­kier­ter Jun­ge mit Kapu­ze am Hügel zeig­te und für mein Trei­ben zu inter­es­sie­ren schien.

Von der Erhe­bung aus konn­te er fast die gesam­te Ost­sei­te der Sied­lung über­schau­en und hat­te somit einen guten Über­blick über die inzwi­schen schar­ti­ge Sied­lung. Um her­aus­zu­fin­den, was das Objekt sei­nes Inter­es­ses war, näher­te ich mich dem Hügel, auf dem er stand, wäh­rend ich bemerk­te, dass am nahen Hori­zont hin­ter sei­nem Rücken, wo die Bahn­glei­se waren, noch eini­ge wei­te­re Jungs in Sport­ho­sen her­um­streun­ten. Sie lie­fen zwi­schen den Häu­sern und den Wag­gons eines Güter­zu­ges, der kein sicht­ba­res Ende hat­te, umher und schrien sich gegen­sei­tig irgend­was zu, doch aus der Fer­ne waren ihre Lau­te nur undeut­lich zu ver­neh­men. Hechelnd und schnau­fend durch­quer­ten sie die Schnee­land­schaft wie ein Wolfs­ru­del bei der Jagd, und als ich immer auf­merk­sa­mer wur­de, merk­te ich, dass das Gesche­hen wei­te­re Zuschau­er hat­te, Beob­ach­ter, die sich hin­ter den Gar­di­nen der roten und grü­nen Fens­ter verbargen.

Ich ging auf den mas­kier­ten Jun­gen zu, stell­te mich am Hügel zu ihm und begrüß­te ihn mit einem „Cześć“. Er erwi­der­te undeut­lich, wäh­rend er wei­ter­hin ange­spannt die Lage beob­ach­te­te. Ich merk­te, dass er kei­ne vier­zehn war, auf jeden Fall noch jung, viel­leicht elf oder höchs­tens drei­zehn. Wir kamen etwas ins Gespräch, indem ich ihn vor­sich­tig aus­frag­te, was er hier eigent­lich mache, ob er von hier sei und war­um der Güter­zug immer wie­der anfährt und kurz danach wie­der hält. Er sag­te, dass sie gera­de dabei sind, den Güter­zug anzu­hal­ten, aber das konn­te ich auch selbst erken­nen – wie konn­ten sie einen gan­zen Zug stop­pen? Eigent­lich muss­te ich alles, was ich wis­sen woll­te, mehr oder min­der aus ihm her­aus­pres­sen und so gab ich mir die Ant­wor­ten selbst, wäh­rend ich das Vor­ge­hen neben ihm ste­hend beob­ach­te­te. Ich hol­te mei­ne Ziga­ret­ten her­vor, steck­te mir eine an und merk­te, dass er mich zum ers­ten Mal rich­tig wahr­ge­nom­men hat­te, denn er blick­te mir direkt in die Augen. Er frag­te nach einer und ich erwi­der­te, ob er Feu­er bräuch­te, doch anschei­nend woll­te er jetzt nicht rau­chen. Dafür nahm er noch eine zwei­te Ziga­ret­te für einen Freund, wie er sag­te, und steck­te sie in sei­ne Jacken­ta­sche – „dla kolegi“.

Ich begriff, dass sich hier etwas anbahn­te. Immer wenn der mit Koh­le bela­de­ne Güter­zug ver­such­te los­zu­fah­ren, spran­gen die Jungs auf ihn und bevor er Fahrt auf­neh­men konn­te, stopp­ten sie den gesam­ten Zug, indem sie am Hand­brems­rad der Wag­gons dreh­ten, dann lie­fen sie zu den Sei­ten­klap­pen, lös­ten die Rie­gel und jedes Mal rie­sel­te Stein­koh­le aus den Öff­nun­gen auf das schnee­be­deck­te Gleis. Dar­auf­hin stieg ein Maschi­nist oder der Lok­füh­rer aus der Lok, ver­sperr­te die Öff­nun­gen, lös­te die Brem­sen und begab sich wie­der ins Füh­rer­haus, wor­auf er erneut ver­such­te, den Zug in Bewe­gung zu set­zen, jedoch ver­ge­bens. Bevor der Zug Fahrt auf­neh­men konn­te, wie­der­hol­ten die Jungs das Ver­fah­ren und brems­ten die Wag­gons ab. Wie­der spran­gen sie zwi­schen den Güter­wa­gons umher, rie­fen sich gegen­sei­tig Kom­man­dos zu – „geh nach hin­ten“ oder „ich lauf hier lang“, als wür­den sie ein Fuß­ball­spiel bestrei­ten, und wie­der dreh­ten sie an der Brem­se, lös­ten einen Rie­gel und die Koh­le rie­sel­te auf die Glei­se und so wei­ter und so fort. Der Maschi­nist wur­de immer wüten­der und man konn­ten sei­ne Schreie und Flü­che in der gan­zen Sied­lung hören. Als sich irgend­wann zwei Poli­zei­trans­por­ter näher­ten, „dwie suki“, wie der ver­mumm­te Jun­ge sie nann­te, der eine von der Ost­sei­te und der ande­re an den Glei­sen ent­lang, pfiff der Ver­mumm­te laut und blitz­schnell waren zwei hecheln­de Kum­pels neben uns, um die Lage in Augen­schein zu neh­men. Es schien so, als stän­de jetzt einer der Anfüh­rer bei uns, ein schlan­ker Kahl­ge­scho­re­ner in einer grau­en Sport­ho­se, des­sen Hand blu­te­te, was auf dem wei­ßen Schnee Tropf­spu­ren hin­ter­ließ. Mit der blu­ten­den Hand wisch­te er sei­ne Nase und sein schmäch­ti­ges hel­les Gesicht war jetzt auch mit Blut ver­schmiert. Zu dritt hock­ten sie nie­der und bespra­chen im feins­ten Schle­sisch das wei­te­re Vor­ge­hen. Als er kurz sei­nen Blick in mei­ne Rich­tung hoch­rich­te­te, bemerk­te er, dass ich ihn foto­gra­fie­ren woll­te, wor­auf­hin er mich bat, mei­nen Foto­ap­pa­rat ein­zu­ste­cken. „Zcho­wej tyn apa­rat bo ci ciu­l­na!“ Er droh­te mir ruhig und aus­ge­gli­chen und schau­te mich dabei unmiss­ver­ständ­lich an. Ich woll­te ihm sagen, dass ich eigent­lich einer von ihnen sei und auch etwas gegen die Poli­zei hät­te und über­haupt wäre mir der Jus­tiz­ap­pa­rat zuwi­der und dass ich frü­her … doch im rasan­ten Tem­po des Gesche­hens war es unrat­sam, mit dem Miss­ver­ständ­nis auf­zu­räu­men. Wäh­rend er die Schnür­sen­kel sei­ner abge­latsch­ten Schu­he nach­zog, nahm der Jun­ge bei­de Ziga­ret­ten aus sei­ner Jacken­ta­sche und gab sie ihm und dann lie­fen sie gemein­sam zu den Glei­sen zurück, wäh­rend ich noch eine Wei­le vom Hügel aus beob­ach­te­te, was vor sich ging.  Das Trei­ben nahm noch ein­mal Fahrt auf, das ging bis in die Däm­me­rung hin­ein. Jetzt waren etwa ein Dut­zend Poli­zis­ten und ihre Hun­de mit von der Par­tie. Es war immer noch die glei­che Stop & Go-Geschich­te, nur dass jetzt anstatt des Flu­chens immer wie­der Schreie und Warn­schüs­se der Poli­zei ver­nehm­bar waren. Als die Däm­me­rung ein­setz­te und irgend­wann der Zug, der schon am Mor­gen an der Ver­la­dung der Zeche Pokój in Ruda Śląs­ka-Wirek abge­fer­tigt wur­de, abfuhr und außer mir nie­mand mehr weit und breit zu sehen war, weil die Däm­me­rung im Kaf­hauz ein­kehr­te, kamen zu mei­ner Über­ra­schung nach und nach alte Leu­te aus den Häu­sern. Sie zogen klei­nen Wägel­chen durch den Schnee und sam­mel­ten die Koh­le von den Glei­sen auf, mit der sie den Kaf­lok w cimrze, also den Kachel­ofen im Zim­mer, behei­zen woll­ten. Es war dun­kel und sehr kalt gewor­den und ich konn­te mei­ne Fin­ger nicht mehr bewe­gen.  Das Tei­len ist ein facet­ten­rei­ches Ereig­nis, des­sen Kunst man lebens­lang stu­die­ren kann. Je weni­ger du besitzt, je lei­ser du vor­gehst, des­to schö­ner ist dein Werk. Das Tei­len ist eine Kunst, die unauf­fäl­lig ser­viert am bes­ten schmeckt, ver­schlei­ert als wei­ter­ge­reich­te Ziga­ret­te oder lie­gen­ge­las­se­ne Koh­le bleibt sie eine Ehren­sa­che und ein Akt der Selbst­lo­sig­keit. Etwa ein hal­bes Jahr nach dem Vor­fall, als ich in aller Früh auf der Durch­rei­se am Kaf­hauz kurz anhielt, begeg­ne­te ich einem Jun­gen, der viel­leicht zwölf, aber nicht älter als vier­zehn war und der sein Kanin­chen am Band aus­führ­te. Der Win­ter war hier inzwi­schen pas­sé und die war­men Son­nen­strah­len am Kaf­hauz wärm­ten mir jetzt den Rücken nach lan­ger nächt­li­cher Auto­fahrt. Ich frag­te den Jun­gen, ob es sein Kanin­chen ist und wir unter­hiel­ten uns eine Wei­le. Der Blick des Jun­gen war mir selt­sam vertraut.