Kafhauz
Kapitel VI
Am Dienstag explodierte der Reaktor in Tschernobyl. Vier Tage später, um 19.30 Uhr im Journal Dziennik Telewizyjny, erreichte uns diese Neuigkeit und den Tag darauf, am Sonntag, den 1. Mai, ging es zuerst in die Kirche, dann Spaziergang, danach Lugolsche Jodlösung schlucken, Klöße, Rouladen und raus auf den Platz. In den Nachrichten hieß es, keine Gefahr, die Radioaktivität sei auf dem Rückzug – bestätigt durch die besten Wissenschaftler der Sowjetunion. Raus aus den feinen Klamotten, rein in die Lumpen – unsere eigentliche Haut. Die Dicke, Rubo genannt, war auch schon wieder da, hatte zwei Zöpfe mit roten Bändern zusammengehalten, rote aufgeblasene Backen, ein cremefarbenes Kleid, weiße Strümpfe und glänzende rote Schuhe an. Sie stand neben ihrem roten Fahrrad, in der Hand hielt sie eine graue Papiertüte voller Bonbons, kaute und kaute einen nach dem anderen und wir standen da und starrten sie an. „Was guckt ihr so? Kauft euch selbst“. Sie war keine von uns, denn als solche hätte sie für ihre bloße Erscheinung die Backen voll bekommen, aber als die Dicke kam sie jedes Mal ungeschoren davon, stieg auf den Jubilat ihres älteren Bruders und weg war sie – eine Unantastbarkeit hatte sie, wie ein weiter, fremder Planet.
Unter uns haben wir geteilt. Und wenn nicht, dann warst du verdächtig und konntest dich nur mühselig ins Vertrauen zurückkaufen. Ob wir gerecht geteilt haben, wusste nur der Herr allein. Beim Teilen konnte man die Rangordnung bestimmen und sehen, wer der Stärkste ist – der Stärkste bekommt das meiste, der Schwächste die Reste. Alles in allem war es halb so schlimm, der Letzte zu sein, die Nachhut sozusagen, weil der Anführer den Schwächsten unter die Arme griff und mit ihnen teilte – vorbildlich und konsequent – jedoch keinesfalls seine eigene Beute. Er war nicht dumm und wusste, dass die Kette nur so stark war wie er selbst und das schwächste Glied, daher ordnete er das Teilen mit sich und seinem Stiefelknecht in erbarmungsvoller Geste seinem Rudel an. Widerwort bedeutete Ungunst in der Luft, Schwitzkasten oder sogar Messer im Oberschenkel – so wurde die Rangordnung bestimmt. Die Beute konnte alles Mögliche sein. Gefundenes Geld, irgendwas Eingestecktes, etwas Essbares oder ein Ball, der gefunden wurde. Wir spielten oft Fußball, organisierten Spiele gegen andere Stadtteile und Städte, rannten dem Leder hinterher, atemlos dem Eden ganz nahe, kläffend wie Welpen mit Lücken im Gebiss und Dreck unter den Nägeln. Solange das Leder rollte, drehte sich die Welt. Der gefundene Ball wurde geteilt und wir nannten ihn die Maria – vielleicht weil er so schön war wie die Mutter Gottes.
Unsere Interaktion beruhte auf einer Art intuitiv-telepathischen Verständigung, die man nur schwerlich erklären kann, weil sie ja intuitiv und eigentlich den Engeln vorbehalten war. Wir konnten aber auch wie gewöhnliche Menschen kommunizieren, über feste Absprachen auf Schlesisch – schnell hast du gemerkt, wessen Wort Gewicht hatte und wer ein Schwätzer war. Rothaarige oder Gorole, die von außerhalb kamen, hatten es schwieriger mit uns. Sie wurden von Grund auf misstrauisch beäugt – eine Art Ausgrenzung aufgrund des Äußeren und der Sprache – anscheinend waren wir kleine Rassisten.
Untereinander lernten wir, uns blind den Ball zuzuspielen, zu teilen – und wo unsere Grenzen lagen, lernten wir auch, spielerisch jeden Zaun und jede Mauer bewältigend, auf jeder Halde und jedem Gleis beheimatet, jede Abkürzung kennend und immer ahnend, wo es etwas umsonst gibt, wo Geld, wo Freude liegt, denn sie war die eigentliche Beute, die wir so selbstverständlich teilten wie die Luft, die wir atmeten. In der Dämmerung ging es nach Hause, mehr aus Pflichtbewusstsein als aus freiem Willen, denn daheim herrschten die Regeln der Anderen – dem einen saß der Kragen zu eng, dem anderen war es zu laut. Wir waren Kumpel und das bedeutete Teilen – oder aber du musstest einen Strahl haben, der über die Bushaltestelle reichte – je höher desto besser.
Manchmal machten wir blau. Von der Haltestelle neben der Kochłówka fuhren wir mit dem Bus los, machten uns auf den Bänken breit oder surften in der Mitte des Gelenkbusses auf dem rotierenden Teil, dann stiegen wir aus und gingen in den Videospielpalast aus Wellblech am Wendehammer in Chorzów. Ein Spiel am Flipper, ein zweites am Streetfighter, je zehn Złoty. Wenn einer kein Geld hatte, hat er zugesehen und auf Mitleid gehofft – aber jeder kam dran, denn wir kannten Erbarmen.
Bielszowice – der Nabel der Welt, umgeben von Makoszowy, Pawłów, Poremba, Nowy Bytom, Wirek und Zaborze, wo einst Janosch im Jahr 1931 zu Welt kam. Janosch sagt, dass sich alles, was er je schrieb, in seinen ersten drei Jahren hier in unserem Revier ereignete und dass hier Engel am Himmel herumfliegen und hier der Mittelpunkt der Welt sei – das mit dem Zentrum der Erde würde jeder von uns blind unterschreiben und einen Engel hat hier auch jeder schon mal gesehen. Je älter wir wurden, desto größer wurde unser Wirkungskreis – es kamen erst Zabrze, dann Chorzów und sogar Katowice hinzu, mit Bus oder Bahn gut erreichbar.
Die Orientierung im Revier hattest du über markante Punkte in der Stadtlandschaft. Es waren Bunker, Plattenbausiedlungen, Fördertürme oder der Hochofen an der Kafhauz-Siedlung, die man aus der Ferne sah, doch wir orientierten uns auch an den geografischen Gegebenheiten wie Halden, Wäldchen und Gewässern, zu denen Flüsse wie die Czerniawka und die eben erwähnte Kochłówka zählten, die allerdings so verdreckt waren, dass keiner von uns sie je überquert hat – eine unnatürliche Grenze aus einem dickflüssigen, schäumenden, grauen Gift – unvorstellbar, dass mein Vater als Kind in der Kochłówka unbedenklich schwimmen konnte, weil ihr Wasser so rein war, dass er dort Stichlinge sehen und fangen konnte – so in etwa bis 1962. Der Dreck in den Gewässern kam angeblich zusammen mit der Produktion und dem Raubbau für die Sowjets, die schon beim Einmarsch die oberschlesischen Bergleute zu Tausenden deportierten und sich ihre Frauen ausliehen. Später legten die Sowjets sogar eine Breitspurbahn zu sich nach Hause, um die Rohstoffe und den Stahl wegzuschaffen – die Oberschlesier mussten nicht zum ersten mal und nicht zum letzten Mal teilen, doch das ist eine andere Geschichte.
Außer den beiden Flüssen hatten wir noch einen kleinen Bach im Feuchtgebiet am Schulweg. Das Gewässer war von Feuchtwiesen und Feldweiden umgeben, deren Melodie klang wie die Polonaise von Frédéric Chopin. Das Rinnsal war nicht ganz so melodisch wie das Ambiente seiner Umgebung. Zuerst hast du deinen Tornister rüber geworfen, dann wagtest du den Sprung. Er war zwar einfach zu überspringen, aber sein Ufer war sehr glitschig. Keine Grenze, würde man meinen, doch drohte dabei die lebenslange Schande, denn das Rinnsal stank erbärmlich und führte Köttel, Präservative und Abwasser. Die Präservative, herausgeholt über ein Stock gehängt, dienten einigen von uns zur Mädchenjagd – das Prozedere war ein getarnter romantischer Annäherungsversuch. Das war wirklich fies, aber Kondome waren lustig und deshalb hochbegehrt bei uns. Noch besser waren unbenutzte, die man bestens als Luftballonersatz verwenden konnte. Es war schwer, an sie ranzukommen, denn man müsste sie entweder mopsen oder man benötigte die Berechtigung eines Elternteiles für ihre Abholung, die man der stämmigen Verkäuferin im Kiosk gegenüber der Kirche zu zeigen hatte – das Ganze war ein hochriskantes Unterfangen, in Anbetracht der Zeit und des Breitengrads. Da nur einer von uns über solche glaubwürdigen Berechtigungsfälschungen verfügte, er aber selten mit uns unterwegs sein durfte, schickten wir eines Tages unseren jungen Stiefelknecht zum Kiosk. Wir gaben ihm Geld und erklärten, was er zu sagen hat: „Wiederhole, Kleiner, eine Packung Präservative, bitte.“ Er wehrte sich mit allem, was ihm als Waffe zur Verfügung stand, und als wir ihm einen Schubs gaben, spuckte er uns wildgeworden an, denn er spürte die Gefahr, in die er sich begeben sollte, doch dem Anführer konnte er den Spaß nicht abschlagen, war er doch sein loyaler Freund. „Und wenn sie dich fragt, für wen du das brauchst, dann sagst du, dass dich der Probst schickt – verstanden?“ Als der Kleine am Kiosk stand und plötzlich seine Beine unterm Arm nahm und so schnell rannte, dass es staubte, rollten wir uns ab vor Lachen bis in den Bauchschmerz hinein, aber aus sicherer Distanz – wir teilten jeden Spaß, wie es sich gehört.
In der Hosentasche hattest du Zündhölzer und ein Messer mit. Mit dem Messer konnte man allerlei anstellen, Frösche sezieren, drohen und Wurfspiele abhalten, in denen wir unsere Wurftechniken verglichen. Mit den Zündhölzern machten wir eine Feuerka an, um Plastikgegenstände zu schmelzen oder Aerosoldosen, die wir im Hasiok, also in der Abfalltonne gefunden haben, knallen zu lassen – du wirfst die Behälter ins Feuer und suchst das Weite und dann knallt es. Im Chemieladen holten wir Salpeter, mischten Zucker bei, füllten Drehverschlüsse von Flaschen mit dem Gemisch, deckelten sie, kleines Loch als Antriebsdüse, Zündhölzer raus, Zündung, los – ab geht die Post. Die Geschosse setzen in rasender Geschwindigkeit Energie frei – als chemische Reaktion, wie kleine, wild umherfliegende Raketen, und bescherten uns auf diese Weise ein Erlebnis nicht nur für Augen und Ohren. Nach ihrem turbulenten kreischenden Flug brannten sie tiefe Löcher in den Asphalt, während sie nachglühten. Bei diesem Spaß mussten wir vor unseren eigenen Geschossen auf der Hut sein, denn eine Kollision konnte dich schnell ein Auge kosten.
Was die Augen angeht – unsere waren flink und der Blick scharf. Eines Tages fanden wir einen erheblichen Geldbetrag auf dem Rasen, schöne neue gerollte Geldscheine mit einem Gummiband zusammengefasst, etwa ein durchschnittliches Monatseinkommen, und dann ging es los: „Ich habe es zuerst gesehen“, rief der eine, worauf der andere antwortete, dass er es aber aufgehoben hat und deshalb das Geld ihm gehöre und so weiter. Der Anführer schritt irgendwann ein und sagte, dass es sein Geld sei, denn er hatte es gestern hier verloren. Es war die absolute Wahrheit, wurde sie doch als solche verkauft und außerdem überzeugend vom Stiefelknecht bestätigt. Was sollten wir mit soviel Geld anfangen? Der Anführer wusste es, denn er konnte rachować, also rechnen. Umgerechnet hatten wir zweitausend Schuss an der Theke frei. Für gerade mal die Hälfte davon verbrachten wir einen ganzen Schultag und zwei Nachmittage an der Schießbude. Wir ballerten, was das Zeug hält, und räumten trotz manipulierter Visiere sämtliche Plastikblumen, Lutscher, Schlüsselanhänger, Pfauenfedern und sogar, ob man’s glaubt oder nicht, handsignierte Modern Talking-Fotos ab, packten sie in Tüten und teilten die Beute später an der Klopfsztanga untereinander auf – wir wussten, wie der Hase läuft und was von Wert war. Der Anführer wollte von all dem Zeug nichts haben, aber dafür von der zweiten Hälfte der Kohle. Er kaufte eine prächtige Kristallschüssel auf der ul. Kościelna, packte Zitrusfrüchte und Weintrauben hinein, kaufte rote Nelken steckte sie in die Vase und schenkte das Ganze seiner Mutter. Nach seinem maßlos barmherzigen Verteilungsakt war immer noch Schotter in den kaputten galoty, also Hosen, da.
Im einem Gedicht des Pfarrers Jan Twardowski heißt es: „Dziekuję Ci że sprawiedliwość Twoja jest nierównością“, was soviel heißt wie: „Ich danke Dir, Gott, dass Deine Gerechtigkeit eine ungleiche ist“.
Nach Jahren meiner Abwesenheit in unserem Revier kehrte ich zurück, suchte die Vergangenheit und auch das Gefühl der alten Freiheit. Die Zeit in Westfalen hatte mich sie vergessen lassen und ich glaube, ich wollte nochmal spüren, wie sich ihre Herrlichkeit anfühlt – ich meine nicht diese Freiheit, die aufs Papier gebracht als Sonntagsrede in einer prächtigen Kirche oder im Bundestag taugt. Ich meine nicht jene, die mit dem Liberalismus des Kapitals durcheinandergebracht wird und aus Selbstschutz posaunt – Freiheit ist nicht gleich Wohlstand! Ich meine die echte Freiheit, die kleine Große. Ich fragte mich, mit wem ich sie teilen würde, wenn ich sie erst einmal gefunden habe, hatten die meisten sie doch längst vergessen – eingespannt in die sogenannte Lebensbewältigung, hingen wir doch eigentlich alle wie die Esel an der Karotte für dieses hässliche eine Wort, Lebensbewältigung – klingt für mich wie die Endlösung und hat wenig mit Leben zu tun. Die Zeit in unserem Revier stand nicht still, während ich weg war, und auch hier waren die meisten als Maultier im Gespann unterwegs. Ich merkte deutlich die Veränderungen und auch die Fassadensprüche schienen sich mit der Zeit radikalisiert zu haben. Die einstigen Schmierereien, durch Kinder mit Kreide aufgebracht, wie Darek ist ein Dieb, Hitler kaputt oder Iwona ist eine Kuh wandelten sich und wurden deutlich rauer. Sie richten sich immer öfter gegen die Exekutive des Staates und gegen die unnachvollziehbaren Entscheidungen der Legislative, deren warme Ledersessel weit entfernt vom oberschlesischen Alltag sind – es heißt heute Fick die Polizei oder PIS ist Kaczynskis stinkende Hure.
Für viele sind die Zeiten schroff, ist die Kluft zwischen Wohlstand und Armut mindestens so schwer überwindbar wie die Czerniawka, und die Würde derer, die es dennoch versuchen, ein schweres Brot. Sie werden von der Gemeinschaft missachtet und gebrandmarkt, also gehen sie zu ihrer Klagemauer aus rotem Backstein und kritzeln ihren Hass darauf. Fassaden und Mauern geben ihnen eine Stimme, um Liebe, Wut und Frust öffentlich zu machen – jeder Mensch ist ein Künstler, nicht weniger als Edward Munch oder Banksy, doch nicht jeder bekommt eine Chance, seine Kunst zu pflegen.
Als ich wiederkam, wollte ich die kleine Große wiedersehen. Wo könnte sie sein, vielleicht auf den Familoki, dort, wo sie früher herumlief – in den alten, geschichtsträchtigen, schlesischen Arbeitersiedlungen, oder war sie eher auf der Halde in Bielszowice oder in Makoszowy, wo sie wie die wunderschöne Marianne von Delacroix, jetzt aber als müde Revolution mit entblößtem Busen, barfüßig und entkräftet, mit einer Spraydose über das Taubgestein stolperte? Ich begab mich dorthin, wo einst unser Revier endete, weil dort andere Jungs ihren Schabernack trieben – zum Kafhauz in Fryncita – einer klassischen Arbeitersiedlung, deren erste Häuser bereits 1880 für die Beschäftigten der Friedenshütte im heutigen Nowy Bytom erbaut wurden, einer Zeit, als die Preußen regierten und die Adelsfamilien die Industrialisierung vorantrieben.
Übrigens sollte man erwähnen, dass die großindustriellen Adelsfamilien in Oberschlesien sich äußerst karitativ und großzügig zeigten. Sie handelten stets in christlicher Überzeugung, erbauten Waisenhäuser und Arbeitersiedlungen. Sieht man genauer hin, war ihr karitatives Auftreten mehr ein taktisch durchdachter Schachzug ihrer Selbstbehauptung, als dass er der Gutherzigkeit entsprang – weiß man doch im Allgemeinen, dass die Kette nur so stark ist wie ihr schwächstes Glied. Sie erbauten das, was wir heute als zivilisatorische Weiterentwicklungen bezeichnen würden, ließen Zechen und Hütten aus dem Boden sprießen und brüsteten sich mit ihren Erfolgen, während sie in prachtvollen Spiegelsalons neben Palmen den Hummer und die Ananasse verzehrten – doch sollte man stets beide Seiten einer Medaille betrachten. Zeitgleich teilte sich die zehnköpfige Arbeiterfamilie einen Salzhering zum Abendbrot, zwei Räume und das Klo mit zehn weiteren, ohne die Wanzen zu erwähnen. Eigentlich waren sie es, die die Industrie und den kulturellen Reichtum im geschichtsträchtigen Oberschlesien bildeten und ausmachten, doch der Adel hatte sie nicht auf der Rechnung und schrieb sich selbst in die Geschichtsbücher als Schöpfer dieser Kultur hinein, ohne je einen Backstein in der Hand gehalten zu haben.
Doch weiter im Text: Als ich einen Tag zuvor in der Schänke in Bielszowice war, riet mir der Typ mit dem super Auto ab, dorthin zu gehen, und ich merkte, dass er trotz seiner großen Statur ein ängstlicher Mann sein musste, ganz anders als sein etwas älterer Schichtkumpel – denn der Dicke, wenn ich ihn richtig einschätzte, war eher so einer, der Angst hat, dass sein Autolack eine Schramme abbekommt, wenn er am Kafhauz parkt, ein Konsument eben, einer der sonntags im Hypermarkt oder Mol spazieren geht, um den neusten Schrei zu studieren. Weil solche Typen sich niemals zum Kafhauz begaben, war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass dort noch die Freiheit anzutreffen war.
Dort angekommen, konnte ich schon beim Anblick der langen Familok-Fassaden mit den bunten Fensterrahmen durchatmen und ich musste wieder an Janosch denken. Überhaupt begleiten mich seine Geschichten stets, sei es die Geschichte über einen gewissen Kotyrba, der in unserer Czerniawka, in die wir nie freiwillig eingetaucht wären, noch weit vor unserer Zeit mit einem Kopfschuss von deutschen Soldaten niedergestreckt wurde, als er Karbid nach Bielszowice schmuggeln wollte und der geschmuggelte Brennstoff mit seinem Blut vermengt das Wasser brodeln ließ wie einen Vulkan, oder eben jetzt beim Anblick der Fassade, die mich an seine Erzählung über die roten schlesischen Fenster erinnerte. Die Stadtlandschaft flüstert mir ständig etwas zu und ich gleiche das Geflüster mit den Geschichten ab, die ich von meinem Vater oder aus Büchern kenne. Jetzt, beim Anblick der bunten Fensterrahmen, dachte ich daran, dass die Menschen anscheinend die Farbe, die sie hatten, mit ihren Nachbarn teilten, und dass die Fenster, die ich jetzt im Objektiv zu vereinen suchte, eigentlich ein Schema der hiesigen Freundschaften ergaben. Könnte man anhand der Farbe erahnen, wer mit wem die Pferde stahl? Janoschs Schilderung aus seinem Buch Cholonek oder der liebe Gott aus Lehm ließ mich genau das vermuten. Dort beschreibt er, wie ein gewisser Jankowski die Farbe, die er im Überfluss hatte, mit denen teilte, denen er freundschaftlich gesinnt war, und wer wiederum außen vor blieb.
Die bunte Fassade war ein schönes Motiv, denn sie war das bildliche Synonym der autonomen Freiheit, die in der Kafhauz-Siedlung seit fast 150 Jahren wohnte und im ständigen Kontrast zur Unterdrückung der arbeitenden Klassen stand und deshalb über sich hinauswachsen konnte. Die Fassade ließ mich erahnen, was hinter ihr steckte, wie bunt die Freiheit war und dass manche hier noch teilten wie einst – gerecht, aber ungleich. Um das halbwegs begreifen zu können, musst du hier gewachsen sein – dachte ich noch, aber meinen Gedankengang brach ich ab, als sich ein maskierter Junge mit Kapuze am Hügel zeigte und für mein Treiben zu interessieren schien.
Von der Erhebung aus konnte er fast die gesamte Ostseite der Siedlung überschauen und hatte somit einen guten Überblick über die inzwischen schartige Siedlung. Um herauszufinden, was das Objekt seines Interesses war, näherte ich mich dem Hügel, auf dem er stand, während ich bemerkte, dass am nahen Horizont hinter seinem Rücken, wo die Bahngleise waren, noch einige weitere Jungs in Sporthosen herumstreunten. Sie liefen zwischen den Häusern und den Waggons eines Güterzuges, der kein sichtbares Ende hatte, umher und schrien sich gegenseitig irgendwas zu, doch aus der Ferne waren ihre Laute nur undeutlich zu vernehmen. Hechelnd und schnaufend durchquerten sie die Schneelandschaft wie ein Wolfsrudel bei der Jagd, und als ich immer aufmerksamer wurde, merkte ich, dass das Geschehen weitere Zuschauer hatte, Beobachter, die sich hinter den Gardinen der roten und grünen Fenster verbargen.
Ich ging auf den maskierten Jungen zu, stellte mich am Hügel zu ihm und begrüßte ihn mit einem „Cześć“. Er erwiderte undeutlich, während er weiterhin angespannt die Lage beobachtete. Ich merkte, dass er keine vierzehn war, auf jeden Fall noch jung, vielleicht elf oder höchstens dreizehn. Wir kamen etwas ins Gespräch, indem ich ihn vorsichtig ausfragte, was er hier eigentlich mache, ob er von hier sei und warum der Güterzug immer wieder anfährt und kurz danach wieder hält. Er sagte, dass sie gerade dabei sind, den Güterzug anzuhalten, aber das konnte ich auch selbst erkennen – wie konnten sie einen ganzen Zug stoppen? Eigentlich musste ich alles, was ich wissen wollte, mehr oder minder aus ihm herauspressen und so gab ich mir die Antworten selbst, während ich das Vorgehen neben ihm stehend beobachtete. Ich holte meine Zigaretten hervor, steckte mir eine an und merkte, dass er mich zum ersten Mal richtig wahrgenommen hatte, denn er blickte mir direkt in die Augen. Er fragte nach einer und ich erwiderte, ob er Feuer bräuchte, doch anscheinend wollte er jetzt nicht rauchen. Dafür nahm er noch eine zweite Zigarette für einen Freund, wie er sagte, und steckte sie in seine Jackentasche – „dla kolegi“.
Ich begriff, dass sich hier etwas anbahnte. Immer wenn der mit Kohle beladene Güterzug versuchte loszufahren, sprangen die Jungs auf ihn und bevor er Fahrt aufnehmen konnte, stoppten sie den gesamten Zug, indem sie am Handbremsrad der Waggons drehten, dann liefen sie zu den Seitenklappen, lösten die Riegel und jedes Mal rieselte Steinkohle aus den Öffnungen auf das schneebedeckte Gleis. Daraufhin stieg ein Maschinist oder der Lokführer aus der Lok, versperrte die Öffnungen, löste die Bremsen und begab sich wieder ins Führerhaus, worauf er erneut versuchte, den Zug in Bewegung zu setzen, jedoch vergebens. Bevor der Zug Fahrt aufnehmen konnte, wiederholten die Jungs das Verfahren und bremsten die Waggons ab. Wieder sprangen sie zwischen den Güterwagons umher, riefen sich gegenseitig Kommandos zu – „geh nach hinten“ oder „ich lauf hier lang“, als würden sie ein Fußballspiel bestreiten, und wieder drehten sie an der Bremse, lösten einen Riegel und die Kohle rieselte auf die Gleise und so weiter und so fort. Der Maschinist wurde immer wütender und man konnten seine Schreie und Flüche in der ganzen Siedlung hören. Als sich irgendwann zwei Polizeitransporter näherten, „dwie suki“, wie der vermummte Junge sie nannte, der eine von der Ostseite und der andere an den Gleisen entlang, pfiff der Vermummte laut und blitzschnell waren zwei hechelnde Kumpels neben uns, um die Lage in Augenschein zu nehmen. Es schien so, als stände jetzt einer der Anführer bei uns, ein schlanker Kahlgeschorener in einer grauen Sporthose, dessen Hand blutete, was auf dem weißen Schnee Tropfspuren hinterließ. Mit der blutenden Hand wischte er seine Nase und sein schmächtiges helles Gesicht war jetzt auch mit Blut verschmiert. Zu dritt hockten sie nieder und besprachen im feinsten Schlesisch das weitere Vorgehen. Als er kurz seinen Blick in meine Richtung hochrichtete, bemerkte er, dass ich ihn fotografieren wollte, woraufhin er mich bat, meinen Fotoapparat einzustecken. „Zchowej tyn aparat bo ci ciulna!“ Er drohte mir ruhig und ausgeglichen und schaute mich dabei unmissverständlich an. Ich wollte ihm sagen, dass ich eigentlich einer von ihnen sei und auch etwas gegen die Polizei hätte und überhaupt wäre mir der Justizapparat zuwider und dass ich früher … doch im rasanten Tempo des Geschehens war es unratsam, mit dem Missverständnis aufzuräumen. Während er die Schnürsenkel seiner abgelatschten Schuhe nachzog, nahm der Junge beide Zigaretten aus seiner Jackentasche und gab sie ihm und dann liefen sie gemeinsam zu den Gleisen zurück, während ich noch eine Weile vom Hügel aus beobachtete, was vor sich ging. Das Treiben nahm noch einmal Fahrt auf, das ging bis in die Dämmerung hinein. Jetzt waren etwa ein Dutzend Polizisten und ihre Hunde mit von der Partie. Es war immer noch die gleiche Stop & Go-Geschichte, nur dass jetzt anstatt des Fluchens immer wieder Schreie und Warnschüsse der Polizei vernehmbar waren. Als die Dämmerung einsetzte und irgendwann der Zug, der schon am Morgen an der Verladung der Zeche Pokój in Ruda Śląska-Wirek abgefertigt wurde, abfuhr und außer mir niemand mehr weit und breit zu sehen war, weil die Dämmerung im Kafhauz einkehrte, kamen zu meiner Überraschung nach und nach alte Leute aus den Häusern. Sie zogen kleinen Wägelchen durch den Schnee und sammelten die Kohle von den Gleisen auf, mit der sie den Kaflok w cimrze, also den Kachelofen im Zimmer, beheizen wollten. Es war dunkel und sehr kalt geworden und ich konnte meine Finger nicht mehr bewegen. Das Teilen ist ein facettenreiches Ereignis, dessen Kunst man lebenslang studieren kann. Je weniger du besitzt, je leiser du vorgehst, desto schöner ist dein Werk. Das Teilen ist eine Kunst, die unauffällig serviert am besten schmeckt, verschleiert als weitergereichte Zigarette oder liegengelassene Kohle bleibt sie eine Ehrensache und ein Akt der Selbstlosigkeit. Etwa ein halbes Jahr nach dem Vorfall, als ich in aller Früh auf der Durchreise am Kafhauz kurz anhielt, begegnete ich einem Jungen, der vielleicht zwölf, aber nicht älter als vierzehn war und der sein Kaninchen am Band ausführte. Der Winter war hier inzwischen passé und die warmen Sonnenstrahlen am Kafhauz wärmten mir jetzt den Rücken nach langer nächtlicher Autofahrt. Ich fragte den Jungen, ob es sein Kaninchen ist und wir unterhielten uns eine Weile. Der Blick des Jungen war mir seltsam vertraut.