Szombierki
Kapitel III
Als mir Markus aus Recklinghausen eines Tages sagte, er hätte einen Zeitungsartikel über die Migration von Aussiedlern gelesen, wurde ich hellhörig. Angeblich argumentierte der Verfasser des Textes, dass Einwanderer aus Schlesien nach ihrer Ankunft in Deutschland Problemen psychologischer Natur ausgesetzt wären. Er meinte, sie nähmen eine eher passive Gesellschaftshaltung an, dabei integrierten sie sich so vorbildhaft in die neue Gesellschaft, dass niemand ihren kulturellen Hintergrund wahrnehmen könne. Anstatt kühn in die gesunde soziale Rolle eines gleichwertigen, handelnden Menschen hineinzufinden, lebten sie halbwegs in Tarnung. Emotional rückwärtsgewandt kehrten sie oft nach Schlesien zurück, an die Orte, mit denen sie verbunden waren, die ihnen das Gefühl von Sicherheit verliehen. Andere wiederrum trennten die Nabelschnur zur Heimat und drehten sich nimmer um. Diesen Artikel habe ich nie zu sehen bekommen, aber seine Thesen waren stark genug, um über sie nachzudenken. Waren wir Chamäleons? Vor Jahren in Deutschland angekommen, änderten wir als erstes unsere Namen – angeblich wegen der schwierigen Aussprache. Haben wir unsere Identität verkauft? Tagtäglich konnte ich in meinem Umfeld das Phänomen des Chamäleons beobachten. Es konnte durchaus passieren, dass einige Spätaussiedler der zweiten oder dritten Generation ihre Muttersprache verleugneten – um nicht in der neuen Umgebung aufzufallen. Im Endeffekt geht eine solche Taktik nicht auf, denn nach einer Weile begannen sie, ihre in die Wiege gelegte Sprache zu vergessen, jedoch ohne der neuen Sprache mächtig zu werden. Damit bescherten sie sich ein emotionales und sprachliches Vakuum und da sie unfähig waren, sich darin auszudrücken, liefen sie Gefahr, auf der Strecke zu bleiben. Es gibt auch diejenigen, die so gut Deutsch sprechen, dass niemand ihre kulturelle Identität wahrnehmen kann. Sie verbergen ihre Herkunft hinter ihren Sprachkenntnissen. Die Camouflage wirkt leider in beide Richtungen, nach außen und innen. Die Betroffenen konnten in ihrem Versteck verweilend niemanden finden, der sich für ihre Besonderheit interessierte, sodass sie riskierten, sich selbst zu verlieren. Sie akzeptieren das Desinteresse ihrer Umwelt an ihrer Person und Kultur, nahmen es als schicksalhaft und fügten sich perfekt in ihre Umgebung ein wie Chamäleons in die Tropen Madagaskars, nicht ahnend, dass sie sich selbst den Weg versperrten.
Das Chamäleon geht arbeiten, es zahlt Steuern, gründet Familien, zieht Kinder groß und trägt zum deutschen Bruttoinlandsprodukt bei. Es ist fleißig und fromm. Es ist überall, aber unsichtbar. Andere kulturell-ethnische Gruppen wie die der Türken, Kurden oder Russen bringen ihre Identität in Koffern mit, präsentieren sie stolz und offen. Sie bauen Moscheen, auch noch in dritter oder gar vierter Generation, nachdem sie ihre Roots verlassen haben. Sie sind präsent, schwenken ihre Flaggen in der Gegend herum, organisieren sich in Sportmannschaften, Kulturvereinen und protestieren öffentlich und lautstark, wenn ihnen etwas nicht passt. Hat jemand schon mal einen Schlesier protestieren sehen? Ist es Flexibilität, Anpassungsfähigkeit oder Zufriedenheit mit sich selbst und seiner Umgebung?
Sind die Oberschlesier Meister ihrer eigenen Integration oder handeln sie irrational im Affekt der Verängstigung? Allein in den 1980er-Jahren verließen etwa siebenhunderttausend Menschen Polen in Richtung Deutschland – die meisten von ihnen zogen von Schlesien ins Ruhrgebiet. Zählt man die Vertriebenen seit den 1950er-Jahren hinzu, ist die Zahl weitaus höher. Der durchschnittliche Aussiedler ist eher unsichtbar, ein braver, höflicher Neudeutscher. Er zieht es vor, unsichtbar zu bleiben, im Hintergrund zu leben, nur um dem „echten Deutschen“ keine Gelegenheit zu bieten, seine Tarnung zu entdecken. Ich frage mich, ob wir wirklich so hoffnungslos sind.
Nach unserem Gespräch wollten wir wissen, wer die Unsichtbaren sind und fragten uns, wie es um uns stand. Die älteren Oberschlesier organisierten wenigstens das jährliche Beuthener Treffen oder im Frühling Prozessionen am Annaberg, aber ich musste eine Antwort fürchten, die mein Selbstwertgefühl erschüttern würde. Wir unterhielten uns darüber etwa Mitte der 1990er-Jahre, doch ich erinnere mich noch immer an dieses Treffen. Wir standen vor seiner Schule und warteten auf den Beginn des Theaterkreises. Ich saß auf meinem nagelneuen italienischen Sportmotorrad – top blank poliert und integriert. Es gab viele Menschen im Ruhrgebiet, die das Schlesierland aufgegeben hatten und nach Deutschland ausgereist waren. Markus und ich waren herangereifte Kinder sogenannter Aussiedler, und schon damals haben wir uns Gedanken über unsere Herkunft gemacht und uns selbst reflektiert. In Deutschland angekommen, haben wir das Friedland-Lager und das in Unna-Massen ohne Probleme überstanden – im Schnelldurchlauf, könnte man sagen. Später zogen viele in sogenannte Notwohnungen. Es waren provisorische Unterkünfte mit einer Pro-Kopf-Wohnfläche kleiner als die einer Gefängniszelle. Wir trennten uns von unseren Eltern und gingen in Internate, die uns die Integration erleichtern sollten, doch das war nicht nötig. Das alles machte uns nichts aus, denn wir hatten ein klares Ziel vor Augen.
Ronald – ein Gleichgesinnter, der mich mit Markus bekannt machte – war der Meinung, dass die passive Rolle der Oberschlesier möglicherweise das Ergebnis der langen preußischen Herrschaft in Oberschlesien war. Die jahrhundertelange Vormachtstellung der Preußen – seit 1742 – hatte die Schlesier geprägt und sobald wir deutschen Boden betraten, kämen alte Haltungen unseres oberschlesischen, unterwürfigen Kollektivbewusstseins in uns hervor – so die Meinung. Eine gewagte These und interessant obendrein. Hatte die schlesische Geschichte uns im Griff und flüsterte uns zu, eher zu schweigen als zu sprechen? Der Oberschlesier mag vorsichtig gewesen sein, nicht ohne Grund. Aus der eigenen Familiengeschichte weiß ich, er musste es sein, immer auf der Hut, vor Behörden, Spitzeln und wer weiß wem noch, denn sein Leben stand auf dem Spiel. Er betrachtete die Welt meist aus der Perspektive seines proletarischen Blicks, der nach oben zu Gott und nicht in die Augen der Obrigkeit gerichtet war. Es hieß: „Gehe nicht zu deinem Ferscht, wenn du nicht gerufen werscht“ oder „Stell dich dumm, kommste frei“. Das hörte ich selbst oft genug.
Steckte Feigheit oder List dahinter? Ich hatte mein Volk als vorsichtig, mutig und ehrenwert empfunden. Ehre und Mut kannte man nicht nur aus den Geschichten über die schlesischen Weber oder die schlesischen Aufstände, im Gegenteil. Man sah diese Tugenden alltäglich in den Augen der Menschen, man spürte, wie sie ihrer außergewöhnlich harten und äußerst gefährlichen Arbeit nachgingen, ohne Angst und ohne Gewissheit, ob sie nach der Schicht heimkehren werden. Ich weiß auch, dass die schlesischen Aufstände sehr brutal waren und die Oberschlesier gespalten wurden – eine Spaltung, die bis heute nachhallt. Für die einen waren die Aufstände eine Befreiung, für die anderen ein Bürgerkrieg. Der Schlesier hatte sich zu entscheiden und musste Farbe bekennen, weil Neutralität unakzeptabel war und so stand er, seiner politischen Gesinnung nach unabhängig, permanent auf Messers Schneide. Es ist schwer zu sagen, wie es um den Schlesier steht, wie sich die Geschichte auf ihn ausgewirkt hat und wie er sich immer wieder aufs Neue ins germanische, slawische oder sonst ein Umfeld einfügt, um den Erwartungen des Lebens zu trotzen. Wahrscheinlich trägt der Oberschlesier, ohne es zu ahnen, das europäischste Wesen aller Europäer in sich. Historiker und Experten wissen mehr über Schicksale und Anpassungsfähigkeit der Oberschlesier; doch nur er selbst kennt die Wahrheit, denn er spürt das, was ihn prägt und ausmacht, am eigenen Leibe.
Selbst meine eigene Frau, die sonst alles weiß – Sozialpsychologin, Magister der Slawistik, Abschluss in Kunstgeschichte – sie müsste es besser wissen und wenigstens eine Vorstellung vom Phänomen des Chamäleons haben und wissen, was seine gesellschaftliche Passivität verursacht und woher sein fluidartiges Verhalten kommt, jedoch ist das Phänomen so unsichtbar wie das Reptil selbst. Es ist irrational, nicht medizinisch, ungreifbar und inoffiziell. Sie hat jedenfalls keine Zeit für solch quirlige Fragestellungen, die für sie ins Nichts führen. Natürlich gibt es offiziell kein Syndrom des schlesischen Chamäleons. Es ist erfunden. In der Theorie der Spiegelneuronen begegnete ich einem „Chamäleon-Effekt“, aber es geht dabei um zwischenmenschliche Empathie und nicht um meine Heimat. Im Falle der schlesischen Vertriebenen, Spätaussiedler und Aussiedler ist wahrscheinlich nur Rübezahl in der Lage, die Fragen aufzulösen, oder aber jeder Schlesier tut es selbst, für sich, sobald er vor dem Spiegel steht. Was mich betrifft, so bin ich – wie ich finde – kein Chamäleon. Meine Kreativtät und die Loyalität dem schlesischen Land gegenüber immunisieren meine Gedanken und schützen sie vor Opportunismus jeglicher Art, wie ein alter Wein vor dem Herzinfarkt schützt. Seit meinem Weggang bin ich einige Male nach Oberschlesien zurückgekehrt, weil es wichtig ist, nicht zu vergessen, woher man kommt. Das Foto des gelben Skoda 105s, das ich bei meinem letzten Besuch machte, hat mich dazu angeregt, über die Anpassung an meine Umgebung nachzudenken. Der Wagen fügte sich gut in den Hintergrund ein und schuf eine Symbiose aus Form und Farben, genau wie die faszinierenden Tiere in den Tropen von Madagaskar.
Ich finde keine Antworten auf meine Fragen und so müssen sie in den Hintergrund weichen, bis ich Rübezahl treffe oder einen Schamanen, der mehr weiß als ich, und eigentlich wollte ich erzählen, wie wir das Heizkraftwerk in Bytom-Szombierki besichtigt haben. Nach Bytom bin ich nicht um meiner selbst Willen gekommen. Diesmal bin ich nur ein Reisebegleiter, aber meinen Fotoapparat habe ich zur Hand. Wir befinden uns im Stadtteil Szombierki und ich hätte hier nicht hergefunden, wäre da nicht Ronald gewesen. Er brachte uns her. Ich kenne ihn bereits lange, wir lernten uns im Internat kennen und wurden Kumpels. Seitdem haben wir zusammen einige Kilometer zurückgelegt. Gleich wird er uns sein Kraftwerk zeigen und die Rohre der Pipelines, seine Plattenbausiedlung, sein Freibad und die schäbigen Mülltonnen vor seinem Wohnblock, das hat er uns versprochen. Heute zeigt er uns seine alte Welt. Er beginnt mit einem massiven Backsteinbau samt drei Schornsteinen und Turm, die wir schon am Horizont direkt hinter seiner Siedlung sehen können.
Durch Gestrüpp, Gräser und Birkendickicht bewegen wir uns auf die Schornsteine zu, gehen über Rohrleitungen des Heizsystems und über Eisenbahnschienen. Ein Güterzug fährt, wir hören unsere Stimmen nicht mehr. Ich füge Waggon um Waggon gedanklich zusammen und erhalte zweiundvierzig voll mit Kohle beladene, doch ich weiß nicht mehr, ob ich die Lok mitgezählt habe. Wir gehen durch ein Loch in der Mauer und betreten das Areal des Heizkraftwerks.
Fotografieren verboten? Für den Bruchteil einer Sekunde verwirrt mich ein Schild am Kraftwerksgebäude. Doch alles ist in Ordnung, man darf hier Fotos machen, das Betreten des Geländes ist erlaubt, dieses Verbotsschild spricht mich aus der Vergangenheit an. Vor dem Eingang steht ein Skoda 105s, etwas seltsam, irgendwie real, aber auch unwirklich. Dieses Auto hat sogar alte Nummernschilder der Woiwodschaft Kattowitz, die man sonst kaum noch zu sehen bekommt. Ein kleiner Plastikventilator für die heißen Tage ist mit einem Saugknopf an der Frontscheibe befestigt. Ein Mann geht an ihm vorbei und hat den Eingang des scheinbar verlassenen Kraftwerks anvisiert. Auch er ist einer anderen Epoche entsprungen – oder ein Hipster? Lederjacke, enge Jeans, Ledertäschchen mit Riemen ums Handgelenk, riesige Sonnenbrille, alles im 80er-Look, vielleicht ist er der Fahrer? Ich mache ein paar Fotos und frage unseren Gastgeber, ob dieses Kraftwerk noch heizt, denn ein Teil scheint mir in Betrieb zu sein und die Pipeline geht aus ihm hervor. Ich wende mich mit meiner Frage an Ron, doch er scheint es nicht so recht zu wissen: „Es gibt kein neues … oder doch? Doch, in Miechowice, die machen heute den Strom, aber vor kurzem war hier noch ein Kessel in Betrieb“ – glaubt er zu wissen.
Zu Hause angekommen, blättere ich in der regionalen Presse und horche den Leuten zu. Ronalds Kraftwerk hat meine Aufmerksamkeit bekommen und ich will wissen, wie es um die Anlage steht, wieso die Uhr am Turm stillsteht und wie die beiden Werke miteinander verknüpft sind. Herr Gawelek aus Bytom hat einige Zeitungsartikel zum Thema aufbewahrt – das ist gut. Ich frage mich, was an diesem Werk noch in Funktion und was bereits Geschichte ist. Ich tauche in die Substanz ein und beginne mit einer Fantasie. Ich stellte mir die Stadt als ein biomechanisches Geschöpf aus Menschen und Maschinen vor. Diese Kreatur aus meiner Vorstellung ist ein zusammenhängender Organismus, dessen Organe aufeinander abgestimmt sind mit dem Ziel, die ideale Temperatur von 36,6 Grad Celsius auf die Stadt zu verteilen und dauerhaft aufrechtzuerhalten – die urbane Symbiose eines Wesens, das sich zivilisierte Welt nennt. Heißdampf und Warmwasser fließen durch ihr Kreislaufsystem. Zur Wärmeerzeugung verfügt die Kreatur gleich über mehrere Kardioanlagen – Herzen, deren Kammern aus riesigen Kesseln bestehen und eine Anatomie aus Turbinen, Manometern und Pumpen haben. Das Nervensystem der Kreatur besteht aus Transformatoren, Schaltwerken, Uhren und elektrischen Drahtleitungen. Der magische Strom, der durch diese Drähte fließt, verleiht der stätischen Kreatur geschmeidige Bewegungen, ein helles Gemüt und die Gabe der Kommunikation. Um am Leben zu bleiben, braucht ihr Korpus Kohlenhydrate und Energie. Sie ernährt sich von der fetten, schlesischen Steinkohle, die sie an Ort und Stelle ausgräbt. Das Geschöpf zermahlt seine Nahrung zu Staub und faucht sie ins Feuer unter dem Kessel. Es wandelt den Rohstoff durch Verbrennung in Elektrizität und Wärme, die es zum Leben benötigt. In ihrem Herzen verwandelt sie Karbon in Herzlichkeit, sodass die Stadt lebt und liebt und niemand – ohne Pantoffeln – am Familientisch frieren muss.
Meine Vorstellungskraft hat mich mitgerissen und mündete als Phantasmagorie über eine biomechanische Kreatur, doch ich glaube langsam zu verstehen, wie dieses Geschöpf miteinander verflochten ist. Diese beiden Werke, Szombierki und Miechowice, sind durch Heiz- und Dampfleitungen miteinander verbunden. Seit den 1940ern fungieren sie als Stafette und reichen sich gegenseitig den Stab als Hauptproduzenten von Elektrizität und später auch Wärme in Bytom weiter. Das mit Dampfkesseln und Dampfturbinen von 418 Megawatt ausgestattete Heizkraftwerk Miechowice wird als das jüngere der beiden zur Hauptenergiequelle im städtischen Organismus. Das Heizkraftwerk Szombierki war früher Hauptversorger, aber nach und nach produzierte es weniger Energie und schwächelte zum Ende seines Betriebs hin. Es wurde immer entbehrlicher und verfügte am Ende nur noch über zwei Dampf- und einen Wasserkessel. Über Jahrzehnte hinweg versorgten beide Kraftquellen die Stadt über das gemeinsame Wärmenetz, bis das alte Kraftwerk zu einer winzigen Notstromquelle schrumpfte, ein Winzling in einem gigantischen Backsteinkorsett, der allenfalls während Renovierungen in Miechowice zum Einsatz kam. Im Sommerbetrieb versorgte Szombierki noch eine Weile seine Haushalte mit Warmwasser. Die Stromerzeugung wurde schon vorher, so um die Jahrtausendwende, komplett eingestellt.
Das Leitungssystem in Bytom ist ein Vier-in-eins-Verbund von Leitungen, die über die Kraftwerke Miechowice und Szombierki mit Wärme versorgt werden. Das Versorgungssystem besteht aus einem Heißdampf- und Warmwasser-Zusammenschluss zwischen Miechowice und dem Elektroheizwerk Szombierki, das in vier Rohrpipelines aufgeht. Die Süd-Pipeline, die Ronalds Plattenbausiedlung versorgt, die Miechowice-Pipeline für den Bezirk Miechowice, die Karb-Magistrale für Wärme in Bobrek und Karb, und die Nord-Magistrale, die das Zentrum von Bytom versorgt. Es gibt noch weitere periphere Wärmekreisläufe für eine konstante Wärmeregulierung der Stadt, doch meine Aufmerksamkeit gewinnt hauptsächlich das majestätische und monumentale Herzstück in Szombierki.
Seine Geschichte beginnt mit der feierlichen Inbetriebnahme der Anlage unter dem Namen „Kraftwerk Oberschlesien“ oder „Kraftwerk Bobrek“ im Jahr 1920. Damals wurde die in vier Kesseln erzeugte Energie zu den Industrieanlagen der nahegelegenen Werke geliefert, an ein Stahlwerk, ein Karbidwerk und die Zeche in Bobrek. Die Nachfrage nach Energie war endlos und wuchs rasant. Das Kraftwerk wurde im Nachhinein mit neunzehn weiteren Kesseln und mehreren Turbosätzen nachgerüstet. In den 1970er-Jahren begann man hier mit der Wärmeerzeugung. Zu Spitzenzeiten produzierte das Kraftwerk 108 Megawatt Energie. Es war damals in seiner Lebensmitte angelangt, doch sein Leben sollte noch weit ins neue Jahrtausend hineinreichen und so wurde es Zeuge eines turbulenten Zeitenwandels. Es sah die schlesischen Aufstände, die Preußen gehen, die Polen kommen, dann die Nazis und Russen. Es sah eine Gesellschaft im Wertewandel vom Kommunismus in eine westliche kapitalgesteuerte Konsumgesellschaft mit Nationalstolz.
Jetzt kommen wir hierher, doch sein Herz schlägt nicht mehr. Der Anblick des monumentalen Überrests lässt alle anderen Gedanken abtreten und nimmt meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Das Kraftwerk Oberschlesien gleicht dem des Animal-Albums von Pink Floyd, ist ihm fast aus dem Gesicht geschnitten.
Seine Mauern und sein Antlitz gehen mir unter die Haut. Wenn du hier bist, hast du das Gefühl, du kannst sein starkes Herz pochen hören. Der Schall der Arbeitsprozesse, der Umwandlung von Karbon in Elektrizität und Wärme, der hier noch vor kurzem präsent war, ist verstummt. Ich stelle mir das Zischen des Dampfes, die metallischen Schreie und das Rasseln der Maschinen, Fließbänder und Turbinen vor. Ich höre wie das Feuer bis 1.000 Grad hochschlägt und dröhnt.
Ich kann den Geruch von Schmiere, Fett und Öl wittern und die akustischen Schwingungen nachempfinden, die sich in der Übergröße des Industrietempels verlieren – Echos, Töne getragen durch den kristallklaren Äther, verloren in den mächtigen Hallen. Durch die vertikalen Fenster fallen neblige Lichtschwaden von Staub und Ruß auf den Boden. So muss es hier gewesen sein. Das Kraftwerk Oberschlesien ist ein ins massive Ziegelkorsett gepresstes Herz, das gerne weiterschlagen würde. Unbeabsichtigt aber übermächtig wird hier Pathos geboren, hier treffen Sacrum und Profanum aufeinander.
Wir sind zu dritt hier – Ron, Damian und ich. Ronald führt uns herum. Schon früher erzählte er manchmal von seiner Stadt, dem Kraftwerk und vom Freibad, das er an heißen Tagen aufsuchte. Als wir das Freibad vorfinden, waren nur noch ein paar Startblöcke aus Beton da, die aus der Erde ragten. Das hat Ronald nicht so gut gefallen – ich kann das verstehen, doch jetzt standen wir fasziniert vor dem Anblick des monumentalen Gebäudes in Szombierki. Unser Guide ist mit seiner Vergangenheit eins und sichtlich zufrieden, während ich die Zeit genieße und genauer auf den 105s blicke, dann folge ich Damian, der auf der Pipeline flaniert. Er ist kein Chamäleon. Aber wer weiß das schon so genau. Ich muss ihn doch noch fragen. Es ist das erste Mal seit dreißig Jahren, dass der Schlesier seine Heimat wiedersieht, aber er nimmt es, ohne groß nachzudenken, auf die leichte Art – ich glaube, er ist mehr mit seinen Knieschmerzen befasst. Ich wiederum bin von Gedanken umhüllt und suche etwas Unbestimmtes, etwa wie ein nasser Köter die Sonnenstrahlen, wenn er sich aufwärmen möchte. Auf der Pipeline finde ich etwas, das mein Interesse erregt, weil es menschliche Güte in sich verbirgt. Wörter. Ich gehe auf der Süd-Pipeline hinter den Plattenbau und beginne, Wörtern und Sätzen zu folgen, die als weiße oder schwarze Aufschriften auf die DN600-Rohre aufgebracht sind. Ich gehe Schritt um Schritt, Rohr um Rohr vorwärts, halte die Balance und lese von Zeit zu Zeit kleine Botschaften reifender Menschen:
Es ist traurig, wenn die Person, die dir die schönsten Erinnerungen bescherte, selbst zu einer geworden ist! – Schöner Tag, nicht wahr? Ich würde gerne zustimmen, doch ich schaffe es nicht… – Ich liebe dich/Du weißt doch, was abgeht/Love You – I can’t sleep and I miss you 🙂 – Ich liebe Misia, Bogdan. Ich liebe dich, Kristof! – DER IRRE – BYTOM – We you’s to be crezy and love! – NUR DER SC RUCH – Ich lebe, um zu lieben und geliebt zu werden, nicht um zu leiden! – Mein Problem ist, dass ich mich zu sehr an Menschen binde.
Im Oktober 2011 wurde die Transplantation in Bytom abgeschlossen. Kurz davor schlug das edle Herz von Szombierki bereits seltener. Es war 91 Jahre alt, als es aufhörte. Angetrieben von der letzten Kammer, pumpte es seine leidenschaftliche heiße Liebe in die Aorta, als im Kesselraum ein altgewordener Heizer die letzte Kohle ins Feuer warf. Das Kraftwerk Oberschlesien war ein Monument der Architektur und erhaben. Es sah Schlesien im Wandel der Zeit. Viele Jahre strahlte sein Herz Wärme und Licht aus. Es fand eine Transplantation statt. Das neue Herz ist aus Blech, das alte steht still.
Das alte Herz wird nicht mehr beben, es ist irreversibel tot und keine Reanimation und keine Transplantation à la Professor Religa wird daran etwas ändern können. Sein Korpus schweigt und ist verstummt. Im Schaltraum steht die Mutteruhr still. Der Knotenpunkt des Werks, der einst den Rhythmus angab, ist außer Betrieb – jetzt „Zustand Null“ aller elektrischen und mechanischen Aktionen – Asystolie.
Apparate, Zähler, Manometer – vierundfünfzig Uhren bewegen sich nicht mehr. Die Impulse, die seinerzeit den Arbeitsrhythmus taktierten, hörten auf. Es gibt kein Spital, das Heilung bringen könnte, es lohnt sich nicht mehr. Ein Mausoleum muss her, um den Leichnam zu konservieren für diejenigen, die folgen werden. Die menschliche Zuneigung wird ein Denkmal für die vergangenen Tage richten und vor dem Vergessen bewahren – im besten Fall. Vielleicht wird zuerst die Turmuhr zum Laufen gebracht, damit der zwei Zentner schwere Zeiger die Zeit misst, und dort, wo früher das Rasseln der Maschinen hörbar war, werden Laute erklingen und man wird miteinander reden oder tanzen. Kunst wird das Grab verschönern wie duftende Chrysanthemen – im besten Fall.
Das Kraftwerk ist nicht in Betrieb und wird es auch nicht mehr sein. Ob das Gebäude in eine neue Zeit kommt oder ihr weichen muss, wird durch Initiativen der Bürger, von den Plänen der Investorengruppen und den Politikern entschieden. Ich empfinde den Ort immer noch als lebendig. Die Erde hier sendet gute Impulse. Die südliche Pipeline nebenan transportiert weiterhin Wärme, die Züge fahren tonnenschwer mit Kohle beladen am Apfelbaum vorbei und zu meinem eigenen Erstaunen entdecke ich hier ganz unerwartet jene Inschriften, die mich Zuversicht lehren. Kurzzeitig habe ich schon gedacht, die Liebe würde verkümmern, aber jetzt entdecke ich diesen Ort als Beweis für den menschlichen Irrtum.
Bevor wir hierherkamen, erwartete ich eine Stadtlandschaft der Verwahrlosung, eher Müllhalde, rostige Kühlschränke, Spiderman-Tapeten in Farbeimern, eher Spuren einer hohlen, außer Kontrolle geratenden und stumpfsinnig handelnden Konsumgesellschaft – man möge mir den Fatalismus verzeihen. Derartige Sehenswürdigkeiten sind mir oft im Ruhrgebiet oder den Vororten von Paris begegnet und ich hatte meine Augen fast an sie gewöhnt. Deutschland ist nicht nur die Schwarzwaldklinik und Baden-Baden. Zu meiner Überraschung entdecke ich hier keine Vulgarismen und keine Hassbotschaften. Die Umgebung inmitten des schlesischen Konglomerats ist clean und die Funktion der Rohre geht offenbar über den bloßen Wärmetransport hinaus, wurde von der Umgebung neu definiert und anstatt der erwarteten, immer gleichen Aufschriften wie „ACAB“ trägt die südliche Rohrmagistrale sensible und barmherzige Gedanken junger Menschen, die in der wärmenden Pipeline einen Rückzugsort für sich entdeckten. Die Südmagistrale ist wie ein guter Freund oder ein Tagebuch, das selbst den verstecktesten und innigsten Gedanken zuhört.
Später gehen wir noch durch die Siedlung. Auf der ul. Pomorska treffen wir Jerzy, einen Bergmann im Ruhestand, der in den 1950er-Jahren aus Nordpolen zur Zechenarbeit kam und für immer blieb. Wir sprechen über Bergbauschäden in der Siedlung, die mit einem enormen Aufwand behoben wurden. Angeblich hat man hier ganze Wohnblöcke geradegerückt und im Zentrum von Bytom Häuser gerettet, die kürzlich noch einzustürzen drohten. Er lädt uns zu sich ein, wir sollen wiederkommen, um weiter zu reden. Am Abend fahren wir nach Kattowitz, um im Pub „Piccolo“ einen alten Freund zu treffen – den Maler Albert – wir wollen ein paar Gläser heben. Gemeinsam mit Ronald sind wir uns einig, dass Albert klare schlesische Gesichtszüge hat. Ist es möglich, dass man Schlesier am Aussehen erkennt? Ohne Absprache dachten wir das Gleiche. Genau wie wir verließen Albert und seine Eltern Schlesien in den 1980ern und zogen nach Hamm ins Ruhrgebiet. Es gefiel ihm dort nicht besonders und als er etwas älter wurde, kehrte er nach Schlesien zurück. Albert ist definitiv kein Material, aus dem Chamäleons gestrickt sind – eher das Gegenteil – er ist sich treu geblieben.
Am nächsten Tag verlassen wir Alberts altes Atelier, in dem wir übernachtet haben, und begeben uns auf die Rückreise nach Westfalen. Schlesien ade! An der Grenze in Görlitz angekommen, verabschiedet sich jeder auf seine ganz persönliche Weise. Damian entleert, was zu entleeren ist, bevor es weitergeht, Ronald kauft zwölf Stangen Zigaretten und Champagner und ich mache Fotos.
Zu Erinnerung an unsere Expedition fotografiere ich Ron beim Zigarettenkauf. Seit ich mich erinnern kann, wiederholt sich das Ritual des Zigarettenkaufs bei jeder Reise nach Polen. Von Laden zu Laden, von Bude zu Bude auf der Suche nach Zigaretten, bis die Zusammenstellung seiner Wahl erreicht ist. Dann erreicht mich eine raue Frauenstimme aus einer Blechbaracke, die als Verkaufsstand dient: „Habe ich dir erlaubt, hier zu fotografieren? Pack die Kamera weg, du Trottel!“ Ein sanftes Liebesgeständnis eines Weibsstücks, das am Rande eines Nervenzusammenbruchs steht. Vielleicht hat sie etwas zu verbergen oder ihr Mann liebt sie nicht mehr. Ich denke mir meinen Teil – ich kann sie nicht einmal sehen, was will sie? Ich mag Grenzen zwischen Ländern nicht und gleichwohl Menschen, die an der Grenze zum Kollaps stehen. Staatsgrenzen sind Kunststoff, unnatürlich von Menschenhand gegen Menschen errichtet, unakzeptabel. Grenzen, das sind Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs, Polizisten, Schusswaffen, Zöllner, Menschenhändler, schlechte Wechselkurse sowohl in der Wechselstube als auch am Geldautomaten, Prostituierte, stinkende Toiletten, verschwitzte Fernfahrer, fettige Haare, Abgase, Misstrauen, Plastikzwerge und Barszcz aus der Tüte. Alles in allem ein trostloses Garnichts.
Ich: „Lasst uns hier abhauen“. Im Auto dann Damian so: „Scheiße, wir haben vergessen, deine Mülltonnen zu bewundern“. Ronald: „Die zeig‘ ich euch beim nächsten Mal.“
Wir sind auf der Autobahn und ich schaue mir die Bilder im Apparat an. Ronald fragt, ob ich ein Foto vom Kraftwerk habe. – Ja, Mann, ein Skoda wie ein Chamäleon in symbiotischer Harmonie. Ich weiß nicht, ob es nicht zu kitschig ist. Es ist so kalendarisch. Die Farben sind homogen. Ich weiß es noch nicht, vielleicht wird es sich eines Tages als nützlich erweisen.