Szombierki

Kapitel III

   

Das Kraftwerk Oberschlesien heizt nicht mehr

Dies ist eine kurze Geschichte über schlesische Chamäleons und darüber, wie wir das Heizkraftwerk in Szombierki besucht haben. Es ist eine Geschichte über Migration und Integration und eine Phantasmagorie über eine biomechanische Kreatur und ihre Liebesaorta hinter der Plattenbausiedlung.

Als mir Mar­kus aus Reck­ling­hau­sen eines Tages sag­te, er hät­te einen Zei­tungs­ar­ti­kel über die Migra­ti­on von Aus­sied­lern gele­sen, wur­de ich hell­hö­rig. Angeb­lich argu­men­tier­te der Ver­fas­ser des Tex­tes, dass Ein­wan­de­rer aus Schle­si­en nach ihrer Ankunft in Deutsch­land Pro­ble­men psy­cho­lo­gi­scher Natur aus­ge­setzt wären. Er mein­te, sie näh­men eine eher pas­si­ve Gesell­schafts­hal­tung an, dabei inte­grier­ten sie sich so vor­bild­haft in die neue Gesell­schaft, dass nie­mand ihren kul­tu­rel­len Hin­ter­grund wahr­neh­men kön­ne. Anstatt kühn in die gesun­de sozia­le Rol­le eines gleich­wer­ti­gen, han­deln­den Men­schen hin­ein­zu­fin­den, leb­ten sie halb­wegs in Tar­nung. Emo­tio­nal rück­wärts­ge­wandt kehr­ten sie oft nach Schle­si­en zurück, an die Orte, mit denen sie ver­bun­den waren, die ihnen das Gefühl von Sicher­heit ver­lie­hen. Ande­re wie­der­rum trenn­ten die Nabel­schnur zur Hei­mat und dreh­ten sich nim­mer um. Die­sen Arti­kel habe ich nie zu sehen bekom­men, aber sei­ne The­sen waren stark genug, um über sie nach­zu­den­ken. Waren wir Cha­mä­le­ons? Vor Jah­ren in Deutsch­land ange­kom­men, änder­ten wir als ers­tes unse­re Namen – angeb­lich wegen der schwie­ri­gen Aus­spra­che. Haben wir unse­re Iden­ti­tät ver­kauft? Tag­täg­lich konn­te ich in mei­nem Umfeld das Phä­no­men des Cha­mä­le­ons beob­ach­ten. Es konn­te durch­aus pas­sie­ren, dass eini­ge Spät­aus­sied­ler der zwei­ten oder drit­ten Gene­ra­ti­on ihre Mut­ter­spra­che ver­leug­ne­ten – um nicht in der neu­en Umge­bung auf­zu­fal­len. Im End­ef­fekt geht eine sol­che Tak­tik nicht auf, denn nach einer Wei­le began­nen sie, ihre in die Wie­ge geleg­te Spra­che zu ver­ges­sen, jedoch ohne der neu­en Spra­che mäch­tig zu wer­den. Damit bescher­ten sie sich ein emo­tio­na­les und sprach­li­ches Vaku­um und da sie unfä­hig waren, sich dar­in aus­zu­drü­cken, lie­fen sie Gefahr, auf der Stre­cke zu blei­ben. Es gibt auch die­je­ni­gen, die so gut Deutsch spre­chen, dass nie­mand ihre kul­tu­rel­le Iden­ti­tät wahr­neh­men kann. Sie ver­ber­gen ihre Her­kunft hin­ter ihren Sprach­kennt­nis­sen. Die Camou­fla­ge wirkt lei­der in bei­de Rich­tun­gen, nach außen und innen. Die Betrof­fe­nen konn­ten in ihrem Ver­steck ver­wei­lend nie­man­den fin­den, der sich für ihre Beson­der­heit inter­es­sier­te, sodass sie ris­kier­ten, sich selbst zu ver­lie­ren. Sie akzep­tie­ren das Des­in­ter­es­se ihrer Umwelt an ihrer Per­son und Kul­tur, nah­men es als schick­sal­haft und füg­ten sich per­fekt in ihre Umge­bung ein wie Cha­mä­le­ons in die Tro­pen Mada­gas­kars, nicht ahnend, dass sie sich selbst den Weg versperrten.

Das Cha­mä­le­on geht arbei­ten, es zahlt Steu­ern, grün­det Fami­li­en, zieht Kin­der groß und trägt zum deut­schen Brut­to­in­lands­pro­dukt bei. Es ist flei­ßig und fromm. Es ist über­all, aber unsicht­bar. Ande­re kul­tu­rell-eth­ni­sche Grup­pen wie die der Tür­ken, Kur­den oder Rus­sen brin­gen ihre Iden­ti­tät in Kof­fern mit, prä­sen­tie­ren sie stolz und offen. Sie bau­en Moscheen, auch noch in drit­ter oder gar vier­ter Gene­ra­ti­on, nach­dem sie ihre Roots ver­las­sen haben. Sie sind prä­sent, schwen­ken ihre Flag­gen in der Gegend her­um, orga­ni­sie­ren sich in Sport­mann­schaf­ten, Kul­tur­ver­ei­nen und pro­tes­tie­ren öffent­lich und laut­stark, wenn ihnen etwas nicht passt. Hat jemand schon mal einen Schle­si­er pro­tes­tie­ren sehen? Ist es Fle­xi­bi­li­tät, Anpas­sungs­fä­hig­keit oder Zufrie­den­heit mit sich selbst und sei­ner Umgebung?

Sind die Ober­schle­si­er Meis­ter ihrer eige­nen Inte­gra­ti­on oder han­deln sie irra­tio­nal im Affekt der Ver­ängs­ti­gung? Allein in den 1980er-Jah­ren ver­lie­ßen etwa sie­ben­hun­dert­tau­send Men­schen Polen in Rich­tung Deutsch­land – die meis­ten von ihnen zogen von Schle­si­en ins Ruhr­ge­biet. Zählt man die Ver­trie­be­nen seit den 1950er-Jah­ren hin­zu, ist die Zahl weit­aus höher. Der durch­schnitt­li­che Aus­sied­ler ist eher unsicht­bar, ein bra­ver, höf­li­cher Neu­deut­scher. Er zieht es vor, unsicht­bar zu blei­ben, im Hin­ter­grund zu leben, nur um dem „ech­ten Deut­schen“ kei­ne Gele­gen­heit zu bie­ten, sei­ne Tar­nung zu ent­de­cken. Ich fra­ge mich, ob wir wirk­lich so hoff­nungs­los sind.

Nach unse­rem Gespräch woll­ten wir wis­sen, wer die Unsicht­ba­ren sind und frag­ten uns, wie es um uns stand. Die älte­ren Ober­schle­si­er orga­ni­sier­ten wenigs­tens das jähr­li­che Beu­the­ner Tref­fen oder im Früh­ling Pro­zes­sio­nen am Anna­berg, aber ich muss­te eine Ant­wort fürch­ten, die mein Selbst­wert­ge­fühl erschüt­tern wür­de. Wir unter­hiel­ten uns dar­über etwa Mit­te der 1990er-Jah­re, doch ich erin­ne­re mich noch immer an die­ses Tref­fen. Wir stan­den vor sei­ner Schu­le und war­te­ten auf den Beginn des Thea­ter­krei­ses. Ich saß auf mei­nem nagel­neu­en ita­lie­ni­schen Sport­mo­tor­rad – top blank poliert und inte­griert. Es gab vie­le Men­schen im Ruhr­ge­biet, die das Schle­si­er­land auf­ge­ge­ben hat­ten und nach Deutsch­land aus­ge­reist waren. Mar­kus und ich waren her­an­ge­reif­te Kin­der soge­nann­ter Aus­sied­ler, und schon damals haben wir uns Gedan­ken über unse­re Her­kunft gemacht und uns selbst reflek­tiert. In Deutsch­land ange­kom­men, haben wir das Fried­land-Lager und das in Unna-Mas­sen ohne Pro­ble­me über­stan­den – im Schnell­durch­lauf, könn­te man sagen. Spä­ter zogen vie­le in soge­nann­te Not­woh­nun­gen. Es waren pro­vi­so­ri­sche Unter­künf­te mit einer Pro-Kopf-Wohn­flä­che klei­ner als die einer Gefäng­nis­zel­le. Wir trenn­ten uns von unse­ren Eltern und gin­gen in Inter­na­te, die uns die Inte­gra­ti­on erleich­tern soll­ten, doch das war nicht nötig. Das alles mach­te uns nichts aus, denn wir hat­ten ein kla­res Ziel vor Augen.

Ronald – ein Gleich­ge­sinn­ter, der mich mit Mar­kus bekannt mach­te – war der Mei­nung, dass die pas­si­ve Rol­le der Ober­schle­si­er mög­li­cher­wei­se das Ergeb­nis der lan­gen preu­ßi­schen Herr­schaft in Ober­schle­si­en war. Die jahr­hun­der­te­lan­ge Vor­macht­stel­lung der Preu­ßen – seit 1742 – hat­te die Schle­si­er geprägt und sobald wir deut­schen Boden betra­ten, kämen alte Hal­tun­gen unse­res ober­schle­si­schen, unter­wür­fi­gen Kol­lek­tiv­be­wusst­seins in uns her­vor – so die Mei­nung. Eine gewag­te The­se und inter­es­sant oben­drein. Hat­te die schle­si­sche Geschich­te uns im Griff und flüs­ter­te uns zu, eher zu schwei­gen als zu spre­chen? Der Ober­schle­si­er mag vor­sich­tig gewe­sen sein, nicht ohne Grund. Aus der eige­nen Fami­li­en­ge­schich­te weiß ich, er muss­te es sein, immer auf der Hut, vor Behör­den, Spit­zeln und wer weiß wem noch, denn sein Leben stand auf dem Spiel. Er betrach­te­te die Welt meist aus der Per­spek­ti­ve sei­nes pro­le­ta­ri­schen Blicks, der nach oben zu Gott und nicht in die Augen der Obrig­keit gerich­tet war. Es hieß: „Gehe nicht zu dei­nem Ferscht, wenn du nicht geru­fen werscht“ oder „Stell dich dumm, komms­te frei“. Das hör­te ich selbst oft genug.

Steck­te Feig­heit oder List dahin­ter? Ich hat­te mein Volk als vor­sich­tig, mutig und ehren­wert emp­fun­den. Ehre und Mut kann­te man nicht nur aus den Geschich­ten über die schle­si­schen Weber oder die schle­si­schen Auf­stän­de, im Gegen­teil. Man sah die­se Tugen­den all­täg­lich in den Augen der Men­schen, man spür­te, wie sie ihrer außer­ge­wöhn­lich har­ten und äußerst gefähr­li­chen Arbeit nach­gin­gen, ohne Angst und ohne Gewiss­heit, ob sie nach der Schicht heim­keh­ren wer­den. Ich weiß auch, dass die schle­si­schen Auf­stän­de sehr bru­tal waren und die Ober­schle­si­er gespal­ten wur­den – eine Spal­tung, die bis heu­te nach­hallt. Für die einen waren die Auf­stän­de eine Befrei­ung, für die ande­ren ein Bür­ger­krieg. Der Schle­si­er hat­te sich zu ent­schei­den und muss­te Far­be beken­nen, weil Neu­tra­li­tät unak­zep­ta­bel war und so stand er, sei­ner poli­ti­schen Gesin­nung nach unab­hän­gig, per­ma­nent auf Mes­sers Schnei­de. Es ist schwer zu sagen, wie es um den Schle­si­er steht, wie sich die Geschich­te auf ihn aus­ge­wirkt hat und wie er sich immer wie­der aufs Neue ins ger­ma­ni­sche, sla­wi­sche oder sonst ein Umfeld ein­fügt, um den Erwar­tun­gen des Lebens zu trot­zen. Wahr­schein­lich trägt der Ober­schle­si­er, ohne es zu ahnen, das euro­pä­ischs­te Wesen aller Euro­pä­er in sich. His­to­ri­ker und Exper­ten wis­sen mehr über Schick­sa­le und Anpas­sungs­fä­hig­keit der Ober­schle­si­er; doch nur er selbst kennt die Wahr­heit, denn er spürt das, was ihn prägt und aus­macht, am eige­nen Leibe.

Selbst mei­ne eige­ne Frau, die sonst alles weiß – Sozi­al­psy­cho­lo­gin, Magis­ter der Sla­wis­tik, Abschluss in Kunst­ge­schich­te – sie müss­te es bes­ser wis­sen und wenigs­tens eine Vor­stel­lung vom Phä­no­men des Cha­mä­le­ons haben und wis­sen, was sei­ne gesell­schaft­li­che Pas­si­vi­tät ver­ur­sacht und woher sein fluid­ar­ti­ges Ver­hal­ten kommt, jedoch ist das Phä­no­men so unsicht­bar wie das Rep­til selbst. Es ist irra­tio­nal, nicht medi­zi­nisch, ungreif­bar und inof­fi­zi­ell. Sie hat jeden­falls kei­ne Zeit für solch quir­li­ge Fra­ge­stel­lun­gen, die für sie ins Nichts füh­ren. Natür­lich gibt es offi­zi­ell kein Syn­drom des schle­si­schen Cha­mä­le­ons. Es ist erfun­den. In der Theo­rie der Spie­gel­neu­ro­nen begeg­ne­te ich einem „Cha­mä­le­on-Effekt“, aber es geht dabei um zwi­schen­mensch­li­che Empa­thie und nicht um mei­ne Hei­mat. Im Fal­le der schle­si­schen Ver­trie­be­nen, Spät­aus­sied­ler und Aus­sied­ler ist wahr­schein­lich nur Rübe­zahl in der Lage, die Fra­gen auf­zu­lö­sen, oder aber jeder Schle­si­er tut es selbst, für sich, sobald er vor dem Spie­gel steht. Was mich betrifft, so bin ich – wie ich fin­de – kein Cha­mä­le­on. Mei­ne Krea­tiv­tät und die Loya­li­tät dem schle­si­schen Land gegen­über immu­ni­sie­ren mei­ne Gedan­ken und schüt­zen sie vor Oppor­tu­nis­mus jeg­li­cher Art, wie ein alter Wein vor dem Herz­in­farkt schützt. Seit mei­nem Weg­gang bin ich eini­ge Male nach Ober­schle­si­en zurück­ge­kehrt, weil es wich­tig ist, nicht zu ver­ges­sen, woher man kommt. Das Foto des gel­ben Sko­da 105s, das ich bei mei­nem letz­ten Besuch mach­te, hat mich dazu ange­regt, über die Anpas­sung an mei­ne Umge­bung nach­zu­den­ken. Der Wagen füg­te sich gut in den Hin­ter­grund ein und schuf eine Sym­bio­se aus Form und Far­ben, genau wie die fas­zi­nie­ren­den Tie­re in den Tro­pen von Madagaskar.

Ich fin­de kei­ne Ant­wor­ten auf mei­ne Fra­gen und so müs­sen sie in den Hin­ter­grund wei­chen, bis ich Rübe­zahl tref­fe oder einen Scha­ma­nen, der mehr weiß als ich, und eigent­lich woll­te ich erzäh­len, wie wir das Heiz­kraft­werk in Bytom-Szom­bier­ki besich­tigt haben. Nach Bytom bin ich nicht um mei­ner selbst Wil­len gekom­men. Dies­mal bin ich nur ein Rei­se­be­glei­ter, aber mei­nen Foto­ap­pa­rat habe ich zur Hand. Wir befin­den uns im Stadt­teil Szom­bier­ki und ich hät­te hier nicht her­ge­fun­den, wäre da nicht Ronald gewe­sen. Er brach­te uns her. Ich ken­ne ihn bereits lan­ge, wir lern­ten uns im Inter­nat ken­nen und wur­den Kum­pels. Seit­dem haben wir zusam­men eini­ge Kilo­me­ter zurück­ge­legt. Gleich wird er uns sein Kraft­werk zei­gen und die Roh­re der Pipe­lines, sei­ne Plat­ten­bau­sied­lung, sein Frei­bad und die schä­bi­gen Müll­ton­nen vor sei­nem Wohn­block, das hat er uns ver­spro­chen. Heu­te zeigt er uns sei­ne alte Welt. Er beginnt mit einem mas­si­ven Back­stein­bau samt drei Schorn­stei­nen und Turm, die wir schon am Hori­zont direkt hin­ter sei­ner Sied­lung sehen kön­nen.

Durch Gestrüpp, Grä­ser und Bir­ken­di­ckicht bewe­gen wir uns auf die Schorn­stei­ne zu, gehen über Rohr­lei­tun­gen des Heiz­sys­tems und über Eisen­bahn­schie­nen. Ein Güter­zug fährt, wir hören unse­re Stim­men nicht mehr. Ich füge Wag­gon um Wag­gon gedank­lich zusam­men und erhal­te zwei­und­vier­zig voll mit Koh­le bela­de­ne, doch ich weiß nicht mehr, ob ich die Lok mit­ge­zählt habe. Wir gehen durch ein Loch in der Mau­er und betre­ten das Are­al des Heizkraftwerks.

Foto­gra­fie­ren ver­bo­ten? Für den Bruch­teil einer Sekun­de ver­wirrt mich ein Schild am Kraft­werks­ge­bäu­de. Doch alles ist in Ord­nung, man darf hier Fotos machen, das Betre­ten des Gelän­des ist erlaubt, die­ses Ver­bots­schild spricht mich aus der Ver­gan­gen­heit an. Vor dem Ein­gang steht ein Sko­da 105s, etwas selt­sam, irgend­wie real, aber auch unwirk­lich. Die­ses Auto hat sogar alte Num­mern­schil­der der Woi­wod­schaft Kat­to­witz, die man sonst kaum noch zu sehen bekommt. Ein klei­ner Plas­tik­ven­ti­la­tor für die hei­ßen Tage ist mit einem Saug­knopf an der Front­schei­be befes­tigt. Ein Mann geht an ihm vor­bei und hat den Ein­gang des schein­bar ver­las­se­nen Kraft­werks anvi­siert. Auch er ist einer ande­ren Epo­che ent­sprun­gen – oder ein Hips­ter? Leder­ja­cke, enge Jeans, Leder­täsch­chen mit Rie­men ums Hand­ge­lenk, rie­si­ge Son­nen­bril­le, alles im 80er-Look, viel­leicht ist er der Fah­rer? Ich mache ein paar Fotos und fra­ge unse­ren Gast­ge­ber, ob die­ses Kraft­werk noch heizt, denn ein Teil scheint mir in Betrieb zu sein und die Pipe­line geht aus ihm her­vor. Ich wen­de mich mit mei­ner Fra­ge an Ron, doch er scheint es nicht so recht zu wis­sen: „Es gibt kein neu­es … oder doch? Doch, in Miech­o­wice, die machen heu­te den Strom, aber vor kur­zem war hier noch ein Kes­sel in Betrieb“ – glaubt er zu wissen.

Zu Hau­se ange­kom­men, blät­te­re ich in der regio­na­len Pres­se und hor­che den Leu­ten zu. Ronalds Kraft­werk hat mei­ne Auf­merk­sam­keit bekom­men und ich will wis­sen, wie es um die Anla­ge steht, wie­so die Uhr am Turm still­steht und wie die bei­den Wer­ke mit­ein­an­der ver­knüpft sind. Herr Gawe­lek aus Bytom hat eini­ge Zei­tungs­ar­ti­kel zum The­ma auf­be­wahrt – das ist gut. Ich fra­ge mich, was an die­sem Werk noch in Funk­ti­on und was bereits Geschich­te ist. Ich tau­che in die Sub­stanz ein und begin­ne mit einer Fan­ta­sie. Ich stell­te mir die Stadt als ein bio­me­cha­ni­sches Geschöpf aus Men­schen und Maschi­nen vor. Die­se Krea­tur aus mei­ner Vor­stel­lung ist ein zusam­men­hän­gen­der Orga­nis­mus, des­sen Orga­ne auf­ein­an­der abge­stimmt sind mit dem Ziel, die idea­le Tem­pe­ra­tur von 36,6 Grad Cel­si­us auf die Stadt zu ver­tei­len und dau­er­haft auf­recht­zu­er­hal­ten – die urba­ne Sym­bio­se eines Wesens, das sich zivi­li­sier­te Welt nennt. Heiß­dampf und Warm­was­ser flie­ßen durch ihr Kreis­lauf­sys­tem. Zur Wär­me­er­zeu­gung ver­fügt die Krea­tur gleich über meh­re­re Kar­dio­an­la­gen – Her­zen, deren Kam­mern aus rie­si­gen Kes­seln bestehen und eine Ana­to­mie aus Tur­bi­nen, Mano­me­tern und Pum­pen haben. Das Ner­ven­sys­tem der Krea­tur besteht aus Trans­for­ma­to­ren, Schalt­wer­ken, Uhren und elek­tri­schen Draht­lei­tun­gen. Der magi­sche Strom, der durch die­se Dräh­te fließt, ver­leiht der stä­ti­schen Krea­tur geschmei­di­ge Bewe­gun­gen, ein hel­les Gemüt und die Gabe der Kom­mu­ni­ka­ti­on. Um am Leben zu blei­ben, braucht ihr Kor­pus Koh­len­hy­dra­te und Ener­gie. Sie ernährt sich von der fet­ten, schle­si­schen Stein­koh­le, die sie an Ort und Stel­le aus­gräbt. Das Geschöpf zer­mahlt sei­ne Nah­rung zu Staub und faucht sie ins Feu­er unter dem Kes­sel. Es wan­delt den Roh­stoff durch Ver­bren­nung in Elek­tri­zi­tät und Wär­me, die es zum Leben benö­tigt. In ihrem Her­zen ver­wan­delt sie Kar­bon in Herz­lich­keit, sodass die Stadt lebt und liebt und nie­mand – ohne Pan­tof­feln – am Fami­li­en­tisch frie­ren muss.

Mei­ne Vor­stel­lungs­kraft hat mich mit­ge­ris­sen und mün­de­te als Phan­tas­ma­go­rie über eine bio­me­cha­ni­sche Krea­tur, doch ich glau­be lang­sam zu ver­ste­hen, wie die­ses Geschöpf mit­ein­an­der ver­floch­ten ist. Die­se bei­den Wer­ke, Szom­bier­ki und Miech­o­wice, sind durch Heiz- und Dampf­lei­tun­gen mit­ein­an­der ver­bun­den. Seit den 1940ern fun­gie­ren sie als Sta­fet­te und rei­chen sich gegen­sei­tig den Stab als Haupt­pro­du­zen­ten von Elek­tri­zi­tät und spä­ter auch Wär­me in Bytom wei­ter. Das mit Dampf­kes­seln und Dampf­tur­bi­nen von 418 Mega­watt aus­ge­stat­te­te Heiz­kraft­werk Miech­o­wice wird als das jün­ge­re der bei­den zur Haupt­en­er­gie­quel­le im städ­ti­schen Orga­nis­mus. Das Heiz­kraft­werk Szom­bier­ki war frü­her Haupt­ver­sor­ger, aber nach und nach pro­du­zier­te es weni­ger Ener­gie und schwä­chel­te zum Ende sei­nes Betriebs hin. Es wur­de immer ent­behr­li­cher und ver­füg­te am Ende nur noch über zwei Dampf- und einen Was­ser­kes­sel. Über Jahr­zehn­te hin­weg ver­sorg­ten bei­de Kraft­quel­len die Stadt über das gemein­sa­me Wär­me­netz, bis das alte Kraft­werk zu einer win­zi­gen Not­strom­quel­le schrumpf­te, ein Winz­ling in einem gigan­ti­schen Back­stein­kor­sett, der allen­falls wäh­rend Reno­vie­run­gen in Miech­o­wice zum Ein­satz kam. Im Som­mer­be­trieb ver­sorg­te Szom­bier­ki noch eine Wei­le sei­ne Haus­hal­te mit Warm­was­ser. Die Strom­erzeu­gung wur­de schon vor­her, so um die Jahr­tau­send­wen­de, kom­plett eingestellt.

Das Lei­tungs­sys­tem in Bytom ist ein Vier-in-eins-Ver­bund von Lei­tun­gen, die über die Kraft­wer­ke Miech­o­wice und Szom­bier­ki mit Wär­me ver­sorgt wer­den. Das Ver­sor­gungs­sys­tem besteht aus einem Heiß­dampf- und Warm­was­ser-Zusam­men­schluss zwi­schen Miech­o­wice und dem Elek­tro­heiz­werk Szom­bier­ki, das in vier Rohr­pipe­lines auf­geht. Die Süd-Pipe­line, die Ronalds Plat­ten­bau­sied­lung ver­sorgt, die Miech­o­wice-Pipe­line für den Bezirk Miech­o­wice, die Karb-Magis­tra­le für Wär­me in Bob­rek und Karb, und die Nord-Magis­tra­le, die das Zen­trum von Bytom ver­sorgt. Es gibt noch wei­te­re peri­phe­re Wär­me­kreis­läu­fe für eine kon­stan­te Wär­me­regu­lie­rung der Stadt, doch mei­ne Auf­merk­sam­keit gewinnt haupt­säch­lich das majes­tä­ti­sche und monu­men­ta­le Herz­stück in Szom­bier­ki.

Sei­ne Geschich­te beginnt mit der fei­er­li­chen Inbe­trieb­nah­me der Anla­ge unter dem Namen „Kraft­werk Ober­schle­si­en“ oder „Kraft­werk Bob­rek“ im Jahr 1920. Damals wur­de die in vier Kes­seln erzeug­te Ener­gie zu den Indus­trie­an­la­gen der nahe­ge­le­ge­nen Wer­ke gelie­fert, an ein Stahl­werk, ein Kar­bid­werk und die Zeche in Bob­rek. Die Nach­fra­ge nach Ener­gie war end­los und wuchs rasant. Das Kraft­werk wur­de im Nach­hin­ein mit neun­zehn wei­te­ren Kes­seln und meh­re­ren Tur­bo­sät­zen nach­ge­rüs­tet. In den 1970er-Jah­ren begann man hier mit der Wär­me­er­zeu­gung. Zu Spit­zen­zei­ten pro­du­zier­te das Kraft­werk 108 Mega­watt Ener­gie. Es war damals in sei­ner Lebens­mit­te ange­langt, doch sein Leben soll­te noch weit ins neue Jahr­tau­send hin­ein­rei­chen und so wur­de es Zeu­ge eines tur­bu­len­ten Zei­ten­wan­dels. Es sah die schle­si­schen Auf­stän­de, die Preu­ßen gehen, die Polen kom­men, dann die Nazis und Rus­sen. Es sah eine Gesell­schaft im Wer­te­wan­del vom Kom­mu­nis­mus in eine west­li­che kapi­tal­ge­steu­er­te Kon­sum­ge­sell­schaft mit Nationalstolz.

Jetzt kom­men wir hier­her, doch sein Herz schlägt nicht mehr. Der Anblick des monu­men­ta­len Über­rests lässt alle ande­ren Gedan­ken abtre­ten und nimmt mei­ne gan­ze Auf­merk­sam­keit in Anspruch. Das Kraft­werk Ober­schle­si­en gleicht dem des Ani­mal-Albums von Pink Floyd, ist ihm fast aus dem Gesicht geschnitten.

Sei­ne Mau­ern und sein Ant­litz gehen mir unter die Haut. Wenn du hier bist, hast du das Gefühl, du kannst sein star­kes Herz pochen hören. Der Schall der Arbeits­pro­zes­se, der Umwand­lung von Kar­bon in Elek­tri­zi­tät und Wär­me, der hier noch vor kur­zem prä­sent war, ist ver­stummt. Ich stel­le mir das Zischen des Damp­fes, die metal­li­schen Schreie und das Ras­seln der Maschi­nen, Fließ­bän­der und Tur­bi­nen vor. Ich höre wie das Feu­er bis 1.000 Grad hoch­schlägt und dröhnt.

Ich kann den Geruch von Schmie­re, Fett und Öl wit­tern und die akus­ti­schen Schwin­gun­gen nach­emp­fin­den, die sich in der Über­grö­ße des Indus­trie­tem­pels ver­lie­ren – Echos, Töne getra­gen durch den kris­tall­kla­ren Äther, ver­lo­ren in den mäch­ti­gen Hal­len. Durch die ver­ti­ka­len Fens­ter fal­len neb­li­ge Licht­schwa­den von Staub und Ruß auf den Boden. So muss es hier gewe­sen sein. Das Kraft­werk Ober­schle­si­en ist ein ins mas­si­ve Zie­gel­kor­sett gepress­tes Herz, das ger­ne wei­ter­schla­gen wür­de. Unbe­ab­sich­tigt aber über­mäch­tig wird hier Pathos gebo­ren, hier tref­fen Sacrum und Pro­fa­num auf­ein­an­der.

Wir sind zu dritt hier – Ron, Dami­an und ich. Ronald führt uns her­um. Schon frü­her erzähl­te er manch­mal von sei­ner Stadt, dem Kraft­werk und vom Frei­bad, das er an hei­ßen Tagen auf­such­te. Als wir das Frei­bad vor­fin­den, waren nur noch ein paar Start­blö­cke aus Beton da, die aus der Erde rag­ten. Das hat Ronald nicht so gut gefal­len – ich kann das ver­ste­hen, doch jetzt stan­den wir fas­zi­niert vor dem Anblick des monu­men­ta­len Gebäu­des in Szom­bier­ki. Unser Gui­de ist mit sei­ner Ver­gan­gen­heit eins und sicht­lich zufrie­den, wäh­rend ich die Zeit genie­ße und genau­er auf den 105s bli­cke, dann fol­ge ich Dami­an, der auf der Pipe­line fla­niert. Er ist kein Cha­mä­le­on. Aber wer weiß das schon so genau. Ich muss ihn doch noch fra­gen. Es ist das ers­te Mal seit drei­ßig Jah­ren, dass der Schle­si­er sei­ne Hei­mat wie­der­sieht, aber er nimmt es, ohne groß nach­zu­den­ken, auf die leich­te Art – ich glau­be, er ist mehr mit sei­nen Knie­schmer­zen befasst. Ich wie­der­um bin von Gedan­ken umhüllt und suche etwas Unbe­stimm­tes, etwa wie ein nas­ser Köter die Son­nen­strah­len, wenn er sich auf­wär­men möch­te. Auf der Pipe­line fin­de ich etwas, das mein Inter­es­se erregt, weil es mensch­li­che Güte in sich ver­birgt. Wör­ter. Ich gehe auf der Süd-Pipe­line hin­ter den Plat­ten­bau und begin­ne, Wör­tern und Sät­zen zu fol­gen, die als wei­ße oder schwar­ze Auf­schrif­ten auf die DN600-Roh­re auf­ge­bracht sind. Ich gehe Schritt um Schritt, Rohr um Rohr vor­wärts, hal­te die Balan­ce und lese von Zeit zu Zeit klei­ne Bot­schaf­ten rei­fen­der Menschen:

Es ist trau­rig, wenn die Per­son, die dir die schöns­ten Erin­ne­run­gen bescher­te, selbst zu einer gewor­den ist! – Schö­ner Tag, nicht wahr? Ich wür­de ger­ne zustim­men, doch ich schaf­fe es nicht… – Ich lie­be dich/Du weißt doch, was abgeht/Love You – I can’t sleep and I miss you 🙂 – Ich lie­be Misia, Bog­dan. Ich lie­be dich, Kris­tof! – DER IRRE – BYTOM – We you’s to be cre­zy and love! – NUR DER SC RUCH – Ich lebe, um zu lie­ben und geliebt zu wer­den, nicht um zu lei­den! – Mein Pro­blem ist, dass ich mich zu sehr an Men­schen binde.

Nekrolog

Im Okto­ber 2011 wur­de die Trans­plan­ta­ti­on in Bytom abge­schlos­sen. Kurz davor schlug das edle Herz von Szom­bier­ki bereits sel­te­ner. Es war 91 Jah­re alt, als es auf­hör­te. Ange­trie­ben von der letz­ten Kam­mer, pump­te es sei­ne lei­den­schaft­li­che hei­ße Lie­be in die Aor­ta, als im Kes­sel­raum ein alt­ge­wor­de­ner Hei­zer die letz­te Koh­le ins Feu­er warf. Das Kraft­werk Ober­schle­si­en war ein Monu­ment der Archi­tek­tur und erha­ben. Es sah Schle­si­en im Wan­del der Zeit. Vie­le Jah­re strahl­te sein Herz Wär­me und Licht aus. Es fand eine Trans­plan­ta­ti­on statt. Das neue Herz ist aus Blech, das alte steht still.

Das alte Herz wird nicht mehr beben, es ist irrever­si­bel tot und kei­ne Reani­ma­ti­on und kei­ne Trans­plan­ta­ti­on à la Pro­fes­sor Reli­ga wird dar­an etwas ändern kön­nen. Sein Kor­pus schweigt und ist ver­stummt. Im Schalt­raum steht die Mut­ter­uhr still. Der Kno­ten­punkt des Werks, der einst den Rhyth­mus angab, ist außer Betrieb – jetzt „Zustand Null“ aller elek­tri­schen und mecha­ni­schen Aktio­nen – Asystolie.

Appa­ra­te, Zäh­ler, Mano­me­ter – vier­und­fünf­zig Uhren bewe­gen sich nicht mehr. Die Impul­se, die sei­ner­zeit den Arbeits­rhyth­mus tak­tier­ten, hör­ten auf. Es gibt kein Spi­tal, das Hei­lung brin­gen könn­te, es lohnt sich nicht mehr. Ein Mau­so­le­um muss her, um den Leich­nam zu kon­ser­vie­ren für die­je­ni­gen, die fol­gen wer­den. Die mensch­li­che Zunei­gung wird ein Denk­mal für die ver­gan­ge­nen Tage rich­ten und vor dem Ver­ges­sen bewah­ren – im bes­ten Fall. Viel­leicht wird zuerst die Turm­uhr zum Lau­fen gebracht, damit der zwei Zent­ner schwe­re Zei­ger die Zeit misst, und dort, wo frü­her das Ras­seln der Maschi­nen hör­bar war, wer­den Lau­te erklin­gen und man wird mit­ein­an­der reden oder tan­zen. Kunst wird das Grab ver­schö­nern wie duf­ten­de Chry­san­the­men – im bes­ten Fall.

Das Kraft­werk ist nicht in Betrieb und wird es auch nicht mehr sein. Ob das Gebäu­de in eine neue Zeit kommt oder ihr wei­chen muss, wird durch Initia­ti­ven der Bür­ger, von den Plä­nen der Inves­to­ren­grup­pen und den Poli­ti­kern ent­schie­den. Ich emp­fin­de den Ort immer noch als leben­dig. Die Erde hier sen­det gute Impul­se. Die süd­li­che Pipe­line neben­an trans­por­tiert wei­ter­hin Wär­me, die Züge fah­ren ton­nen­schwer mit Koh­le bela­den am Apfel­baum vor­bei und zu mei­nem eige­nen Erstau­nen ent­de­cke ich hier ganz uner­war­tet jene Inschrif­ten, die mich Zuver­sicht leh­ren. Kurz­zei­tig habe ich schon gedacht, die Lie­be wür­de ver­küm­mern, aber jetzt ent­de­cke ich die­sen Ort als Beweis für den mensch­li­chen Irrtum.

Bevor wir hier­her­ka­men, erwar­te­te ich eine Stadt­land­schaft der Ver­wahr­lo­sung, eher Müll­hal­de, ros­ti­ge Kühl­schrän­ke, Spi­der­man-Tape­ten in Farb­ei­mern, eher Spu­ren einer hoh­len, außer Kon­trol­le gera­ten­den und stumpf­sin­nig han­deln­den Kon­sum­ge­sell­schaft – man möge mir den Fata­lis­mus ver­zei­hen. Der­ar­ti­ge Sehens­wür­dig­kei­ten sind mir oft im Ruhr­ge­biet oder den Vor­or­ten von Paris begeg­net und ich hat­te mei­ne Augen fast an sie gewöhnt. Deutsch­land ist nicht nur die Schwarz­wald­kli­nik und Baden-Baden. Zu mei­ner Über­ra­schung ent­de­cke ich hier kei­ne Vul­ga­ris­men und kei­ne Hass­bot­schaf­ten. Die Umge­bung inmit­ten des schle­si­schen Kon­glo­me­rats ist clean und die Funk­ti­on der Roh­re geht offen­bar über den blo­ßen Wär­me­trans­port hin­aus, wur­de von der Umge­bung neu defi­niert und anstatt der erwar­te­ten, immer glei­chen Auf­schrif­ten wie „ACAB“ trägt die süd­li­che Rohr­ma­gis­tra­le sen­si­ble und barm­her­zi­ge Gedan­ken jun­ger Men­schen, die in der wär­men­den Pipe­line einen Rück­zugs­ort für sich ent­deck­ten. Die Süd­ma­gis­tra­le ist wie ein guter Freund oder ein Tage­buch, das selbst den ver­steck­tes­ten und innigs­ten Gedan­ken zuhört.

Spä­ter gehen wir noch durch die Sied­lung. Auf der ul. Pomor­ska tref­fen wir Jer­zy, einen Berg­mann im Ruhe­stand, der in den 1950er-Jah­ren aus Nord­po­len zur Zechen­ar­beit kam und für immer blieb. Wir spre­chen über Berg­bau­schä­den in der Sied­lung, die mit einem enor­men Auf­wand beho­ben wur­den. Angeb­lich hat man hier gan­ze Wohn­blö­cke gera­de­ge­rückt und im Zen­trum von Bytom Häu­ser geret­tet, die kürz­lich noch ein­zu­stür­zen droh­ten. Er lädt uns zu sich ein, wir sol­len wie­der­kom­men, um wei­ter zu reden. Am Abend fah­ren wir nach Kat­to­witz, um im Pub „Pic­co­lo“ einen alten Freund zu tref­fen – den Maler Albert – wir wol­len ein paar Glä­ser heben. Gemein­sam mit Ronald sind wir uns einig, dass Albert kla­re schle­si­sche Gesichts­zü­ge hat. Ist es mög­lich, dass man Schle­si­er am Aus­se­hen erkennt? Ohne Abspra­che dach­ten wir das Glei­che. Genau wie wir ver­lie­ßen Albert und sei­ne Eltern Schle­si­en in den 1980ern und zogen nach Hamm ins Ruhr­ge­biet. Es gefiel ihm dort nicht beson­ders und als er etwas älter wur­de, kehr­te er nach Schle­si­en zurück. Albert ist defi­ni­tiv kein Mate­ri­al, aus dem Cha­mä­le­ons gestrickt sind – eher das Gegen­teil – er ist sich treu geblieben.

Am nächs­ten Tag ver­las­sen wir Alberts altes Ate­lier, in dem wir über­nach­tet haben, und bege­ben uns auf die Rück­rei­se nach West­fa­len. Schle­si­en ade! An der Gren­ze in Gör­litz ange­kom­men, ver­ab­schie­det sich jeder auf sei­ne ganz per­sön­li­che Wei­se. Dami­an ent­leert, was zu ent­lee­ren ist, bevor es wei­ter­geht, Ronald kauft zwölf Stan­gen Ziga­ret­ten und Cham­pa­gner und ich mache Fotos.

Zu Erin­ne­rung an unse­re Expe­di­ti­on foto­gra­fie­re ich Ron beim Ziga­ret­ten­kauf. Seit ich mich erin­nern kann, wie­der­holt sich das Ritu­al des Ziga­ret­ten­kaufs bei jeder Rei­se nach Polen. Von Laden zu Laden, von Bude zu Bude auf der Suche nach Ziga­ret­ten, bis die Zusam­men­stel­lung sei­ner Wahl erreicht ist. Dann erreicht mich eine raue Frau­en­stim­me aus einer Blech­ba­ra­cke, die als Ver­kaufs­stand dient: „Habe ich dir erlaubt, hier zu foto­gra­fie­ren? Pack die Kame­ra weg, du Trot­tel!“ Ein sanf­tes Lie­bes­ge­ständ­nis eines Weibs­stücks, das am Ran­de eines Ner­ven­zu­sam­men­bruchs steht. Viel­leicht hat sie etwas zu ver­ber­gen oder ihr Mann liebt sie nicht mehr. Ich den­ke mir mei­nen Teil – ich kann sie nicht ein­mal sehen, was will sie? Ich mag Gren­zen zwi­schen Län­dern nicht und gleich­wohl Men­schen, die an der Gren­ze zum Kol­laps ste­hen. Staats­gren­zen sind Kunst­stoff, unna­tür­lich von Men­schen­hand gegen Men­schen errich­tet, unak­zep­ta­bel. Gren­zen, das sind Frau­en am Ran­de des Ner­ven­zu­sam­men­bruchs, Poli­zis­ten, Schuss­waf­fen, Zöll­ner, Men­schen­händ­ler, schlech­te Wech­sel­kur­se sowohl in der Wech­sel­stu­be als auch am Geld­au­to­ma­ten, Pro­sti­tu­ier­te, stin­ken­de Toi­let­ten, ver­schwitz­te Fern­fah­rer, fet­ti­ge Haa­re, Abga­se, Miss­trau­en, Plas­tik­zwer­ge und Barszcz aus der Tüte. Alles in allem ein trost­lo­ses Garnichts.

Ich: „Lasst uns hier abhau­en“. Im Auto dann Dami­an so: „Schei­ße, wir haben ver­ges­sen, dei­ne Müll­ton­nen zu bewun­dern“. Ronald: „Die zeig‘ ich euch beim nächs­ten Mal.“

Wir sind auf der Auto­bahn und ich schaue mir die Bil­der im Appa­rat an. Ronald fragt, ob ich ein Foto vom Kraft­werk habe. – Ja, Mann, ein Sko­da wie ein Cha­mä­le­on in sym­bio­ti­scher Har­mo­nie. Ich weiß nicht, ob es nicht zu kit­schig ist. Es ist so kalen­da­risch. Die Far­ben sind homo­gen. Ich weiß es noch nicht, viel­leicht wird es sich eines Tages als nütz­lich erweisen.