▲ Foto Nr. 16
Ulica Zwycięstwa, Gliwice,
Oberschlesien, Februar 2010
VI. Kapitel | Seite 39
Wie haben Sie persönlich die Wilhelmstraße empfunden bzw. wahrgenommen?
Ilse: Die Wilhelmstraße war die Prachtstraße von Gleiwitz. Den schönsten Blick hatte man vom großen Markt aus, von dort konnte man fast einen Kilometer lang die Wilhelmstraße überblicken. Das Geschäftsleben in Gleiwitz spielte sich fast ausschließlich auf dieser Straße ab.
Horst: Auf der Wilhelmstraße war ich oft, weil wir gar nicht so weit davon entfernt wohnten und ich auf fast allen meinen Wegen dort vorbeikam. Wenn ich zu meinen Lieblingsorten in Gleiwitz wollte, also ins Hallenbad, in den Stadtpark oder in den Botanischen Garten, dann lief ich die Wilhelmstraße entlang. Mir hat das rege Treiben dort gut gefallen. Gleiwitz war eigentlich keine so große Stadt, doch auf der Wilhelmstraße hatte man immer das Gefühl, in einer Großstadt zu sein.
Wie haben Sie damals die polnischsprachige Bevölkerung Oberschlesiens wahrgenommen?
Ilse: Zu meiner Zeit war Gleiwitz deutsch. Ich habe nicht so viele Leute getroffen, die polnisch sprachen. Wir hatten als Haushaltshilfe ein Mädchen aus Königshütte (Chorzów), die sprach allerdings deutsch. Auch unser Gymnasiallehrer sprach deutsch, obwohl er aus Kattowitz kam.
Horst: Ich kam mit acht Jahren ins „Jungvolk“. Das war der Unterbau der „Hitlerjugend“. Dort und in der Schule wurde uns beigebracht, dass die Deutschen mehr wert sind als die Polen bzw. dass die Polen minderwertig sind und wir uns von ihnen fernzuhalten haben. Von daher hatten wir keine polnischen Freunde, weder in der Schule, noch in der Familie. Sowieso wurde in Gleiwitz sehr darauf geachtet, dass deutsch gesprochen wurde. Wenn man im Grenzgebiet wohnt und die Nachbarn als Feinde angesehen werden, unternimmt man sehr viel, um sich von diesen Nachbarn abzugrenzen. Aus diesem Grunde wurde in Gleiwitz im Allgemeinen kein Schlesisch oder vom Polnischen durchsetztes Deutsch gesprochen, sondern ein nahezu reines Hochdeutsch.
Welche polnischen Wörter oder Ausdrücke sind damals in der Alltagssprache verwendet worden?
Ilse: Wir haben auf Polnisch geflucht, obwohl wir das nicht durften. Das Wort für „Kröte“ bzw. „Frosch“ (żaba) ist mir dabei in Erinnerung geblieben. Ja, wir haben so einige Wörter auf dem Markt aufgeschnappt. Die meisten davon habe ich allerdings wieder vergessen. Heute kenne ich ein paar mehr, weil wir Freunde in Warschau haben. Aber aufschreiben kann ich sie nicht.
Horst: Für die ganz normalen Alltagsbezeichnungen wurden keine polnischen Wörter verwendet. Ich kannte immer nur Schimpfwörter, die haben wir bei den polnischen Händlern auf dem Markt aufgeschnappt. Erinnern kann ich mich noch an „do pioruna!“ und „ty pierunie!“. Wir mussten sehr darauf aufpassen, zuhause nicht auf Polnisch zu fluchen, denn wenn unsere Eltern dies mitbekamen, wurden wir bestraft und mussten 100x „Ich darf nicht auf Polnisch fluchen“ schreiben
Wie fühlt es sich an, seiner Heimat für immer Lebewohl sagen zu müssen?
Die wichtigste Frage ließ ich offen, denn die Antwort konnte ich mir selbst geben.