Uentrop

Kapitel VII

Der Kulturtiegel

Der Auf­bruch

Hier gibt es Pal­men, man spielt Cri­cket und an der Koke­rei splasht es gewal­tig – der Pott bro­delt und befin­det sich im Auf­bruch ins neue Jahr­tau­send. Rasend über­schla­gen sich die Ereig­nis­se und sel­ten bleibt Zeit, sich umzu­dre­hen. Eini­ge hier wür­den noch wei­ter­bud­deln, ohne auf die Uhr zu schau­en, unge­ach­tet der Gewiss­heit, bereits die Zukunft betre­ten zu haben. Die kul­tu­rel­le Viel­falt im Ruhr­ge­biet über­trifft gera­de die bun­tes­ten und gewag­tes­ten Vor­stel­lun­gen der Nach­kriegs­mo­der­ne und das schwar­ze Ver­mächt­nis hin­ter­lässt offe­ne Fra­gen über das, was noch folgt – wohin führt der Weg? Der Struk­tur­wan­del wird bereits seit Jah­ren in die Tat umge­setzt und hin­ter der alten Fas­sa­de wird es zuneh­mend leb­haf­ter, aber auch irgend­wie enger. Gedrän­ge auf der Auto­bahn und war­ten an der Kas­se trotz der drei Spu­ren, den Scan­nern und Kaf­fee­au­to­ma­ten. Die weni­gen ver­blie­be­nen Rück­zugs­ge­bie­te wer­den durch den frei­zeit­be­wuss­ten Homo oeco­no­mic­us belegt. Es gibt hier nichts, was es nicht gibt, bis auf die unbe­rühr­te Natur, die man hier defi­ni­tiv nicht fin­den wird.

Was wird in einem kom­ple­xen und glo­bal ver­strick­ten Ruhr­ge­biet bestehen? Jeder Ver­such einer Zukunfts­pro­gno­se erscheint in Anbe­tracht der mul­ti­plen Ein­fluss­fak­to­ren unmög­lich. Eines ist deut­lich: Der mythen­um­wo­be­ne Stel­len­wert der Arbeit hat sei­ne Bedeu­tung ein­ge­büßt, wäh­rend zuneh­mend die viel­sei­ti­gen Mög­lich­kei­ten der Frei­zeit aus­ge­lo­tet wur­den. Stell­ver­tre­tend dafür ste­hen heu­te Orte der eins­ti­gen Schwer­indus­trie still­schwei­gend dem Begriff der Frei­zeit gegen­über, als Sinn­bild der stän­di­gen Neu­erfin­dung einer Gesellschaft.

Die Men­schen

Wer über das Ruhr­ge­biet reden möch­te, kommt an sei­nen Bewoh­nern nicht vor­bei. Wer sind die­je­ni­gen, die den Zei­ten trot­zen und den kul­tu­rel­len Kern der Regi­on bil­den, und wie ticken sie? Vie­le von ihnen spü­ren regio­na­le Ver­bun­den­heit, man­che sind mit dem Ruhr­ge­biet ver­mählt, tra­gen den Pott unter der Haut. Gibt es hier eine kol­lek­ti­ve Iden­ti­tät mit objek­ti­ven Gemein­sam­kei­ten oder wird das Bild des Ruhr­men­schen von Mythen und Kli­schees bedient? Eine Klä­rung die­ser Fra­ge ist nicht ein­fach, denn erschwe­rend kommt hin­zu, dass Men­schen an sich ein wider­sprüch­li­ches Wesen haben, das kei­ner logi­schen und län­ger­fris­ti­gen Ein­ord­nung stand­hält, und so bleibt jede Behaup­tung über den Ruhr­men­schen ver­hal­te­ne Lotterie.

Eines ist aber sicher. Wäre er einst nicht auf­ge­bro­chen, gäbe es kei­ne Indus­tria­li­sie­rung. Wie wür­de das Ruhr­ge­biet aus­se­hen – Fel­der, Wäl­der, Vieh­zucht, Acker­bau, ver­ein­zel­te Manu­fak­tu­ren und Hand­werks­be­trie­be. Nicht unbe­dingt, denn Koh­le wur­de hier schon immer abge­baut, aber erst als der Staat die groß­in­dus­tri­el­len Fami­li­en ein­be­zog, bil­de­ten die­se Indus­trie­im­pe­ri­en, deren Aus­ma­ße die Vor­stel­lungs­kraft über­ra­gen. Dem Wachs­tum folg­ten hun­dert­tau­sen­de Men­schen, aus dem Inland und Aus­land, und das Kli­schee des Malo­chers ward Wirk­lich­keit. Die Migra­ti­on brach­te Gewohn­hei­ten, Brauch­tum, Sit­ten und Kul­tur mit – Brief­tau­ben­zucht, Döner, den Barbarazweig.

Men­schen ver­schie­de­ner Her­kunft waren nun gezwun­gen, sich am neu­en Ort gemein­sam zu ver­stän­di­gen und erbau­ten nach und nach ein gewal­ti­ges Kon­glo­me­rat, das kei­ner ande­ren Groß­stadt ähnelt, weil sei­ne Ver­net­zung eige­nen Geset­zen folg­te. Die Men­schen brach­ten ihren Glau­ben mit, dann errich­te­ten sie Moscheen, Tem­pel, wäh­rend ande­re zeit­gleich die Kir­chen verkauften.

Heu­te leben im Ruhr­ge­biet mehr als 140 ver­schie­de­ne Natio­nen. Sei­ne sozia­le Struk­tur ist weit­aus ver­strick­ter als zu Beginn des 20. Jahr­hun­derts, aber die ein­zel­nen Kul­tur­krei­se lie­gen hier weit aus­ein­an­der. Es wäre falsch zu behaup­ten, die Men­schen ver­bän­den Gemein­sam­kei­ten, die über den geo­gra­fi­schen Stand­punkt und die 214 Kno­chen des mensch­li­chen Orga­nis­mus hin­aus­ge­hen, gar ein kol­lek­ti­ves regio­na­les Bewusst­sein – ganz im Gegen­teil. Die ver­schie­de­nen Eth­ni­en und Reli­gio­nen zeich­nen sich durch gegen­sei­ti­ge Aus­gren­zung aus, denn das Ruhr­ge­biet ist ein Ort der vie­len Kul­tu­ren, die ohne nen­nens­wer­te Gemein­sam­kei­ten der Zukunft ent­ge­gen­drif­ten. Zuge­hö­rig­keits­ge­fühl gibt es hier nur ver­ein­zelt, dazu sind zu vie­le noch nicht ange­kom­men. Der Revier­my­thos des Zusam­men­halts ist fak­tisch untrag­bar und galt allen­falls auf dem Pütt, im Schüt­zen­ver­ein oder am Stadion.

Wäh­rend zu Beginn der Indus­tria­li­sie­rung das kul­tu­rel­le Leben über­wie­gend mono­kau­sal ver­lief, ist es heu­te von plu­ra­lis­ti­scher Koexis­tenz der Kul­tu­ren geprägt, deren Gemein­sam­kei­ten eher beschei­den aus­fal­len dürf­ten. Es gibt kei­ne über­grei­fen­den Wer­te­sys­te­me oder gemein­sa­me Zie­le. Selbst inner­halb homo­ge­ner Grup­pie­run­gen sind Dif­fe­ren­zie­run­gen uner­läss­lich, die eine all­ge­mei­ne Aus­sa­ge über den „Typus Ruhr­mensch“ schwie­rig gestalten.

Tat­sa­che ist, dass die Regi­on zwi­schen Ruhr und Lip­pe durch sozia­le Ungleich­heit und gegen­sei­ti­ge Abgren­zung geprägt ist. Aus­gren­zung, Ungleich­ver­tei­lung des Wohl­stands und der Bil­dungs­chan­cen haben hier Tra­di­ti­on. Die A40 mar­kiert sogar eine Gren­ze und bil­det ein Süd-Nord-Gefäl­le des Wohl­stands. Die Bewoh­ner des Ruhr­kon­glo­me­rats woh­nen sowohl in schö­nen alten Vil­len am Park als auch in Dop­pel­haus­hälf­ten, Hoch­häu­sern und Con­tai­nern am Stadt­rand. Sie ver­fol­gen nahe­zu ent­ge­gen­ge­setz­te Lebens­stra­te­gien, die an para­do­xe Absur­di­tät gren­zen. Neu­an­kömm­lin­ge kön­nen oft kei­ne Bezie­hung zur ihrer Umge­bung auf­bau­en, weil der Sozia­li­sa­ti­ons­pro­zess in ihren Hei­mat­län­dern statt­fand und eine kul­tu­rel­le Über­brü­ckung fehlt. Selbst­be­wah­rungs­in­stink­te grei­fen und enden in sozia­ler Abschot­tung. Auch Zuge­zo­ge­ne der zwei­ten und drit­ten Gene­ra­ti­on bekla­gen ein feh­len­des Zuge­hö­rig­keits­ge­fühl und man­geln­de Akzep­tanz durch bereits Angekommene.

An der Ober­flä­che sieht es so aus, als gäbe es kei­ne Gemein­sam­kei­ten zwi­schen den vie­len Akteu­ren. Doch der Schein trügt. Beim nähe­ren Hin­schau­en bemerkt man eine ver­wun­der­li­che kol­lek­ti­ve Akzep­tanz eines wirt­schaft­li­chen Dik­tats und eine geschlos­se­ne Kon­sum­be­reit­schaft, die alle Natio­nen und Gesell­schafts­schich­ten des Ruhr­ge­biets zu Brü­dern ver­eint. Es scheint ihn doch zu geben – den Ruhr­men­schen, der ein Pro­dukt sei­ner Sehn­sucht ist, die hier beson­ders aus­ge­prägt ist. Er träumt von tol­len Autos, Gold und Pal­men. Grup­pen­über­grei­fend greift er Moden auf und ver­braucht mas­sen­haft Güter und Roh­stof­fe, geht ins Fit­ness­cen­ter, um sich auf der Stel­le zu bewe­gen, wäh­rend er öko­lo­gi­sche und sozia­le Miss­stän­de nahe­zu meis­ter­haft aus­zu­blen­den ver­mag. Der „Typus Ruhr­mensch“ ist einer, der die Augen zukneift und den Zei­ten trotzt. Sei­ne Rea­li­tät ist durch sei­ne Träu­me ver­zerrt, für die er lebt und arbei­tet und unauf­hör­lich die Müh­len ankur­belt, bis er ermüdet.

Erho­lung sucht er in Abge­schie­den­heit auf dem Bal­kon, im Schre­ber­gar­ten, auf dem Cam­ping­platz, auf den Balea­ren oder im Pazi­fik, egal wo und mög­lichst weit weg, aber schnell erreich­bar muss es sein und nicht zu lei­se, ein Ort, an dem er sei­ne unbe­schreib­li­che Natur­ver­bun­den­heit aus­le­ben kann – die Cran­ger Kir­mes passt meis­tens. Bei den Aus­wir­kun­gen sei­nes Ver­hal­tens auf das glo­ba­le Öko­sys­tem ist er nicht so genau wie bei der Pfle­ge sei­nes Auto­lacks oder beim Bügeln sei­ner Jog­ging­ho­se. Da er die Kon­se­quen­zen sei­nes Han­delns nicht sieht, führt er sei­ne tra­di­tio­nel­le Lebens­wei­se fort und gibt sie gene­ra­ti­ons­über­grei­fend wie Klümp­chen unter der Hand wei­ter, wobei er jedes Mal ein Sah­ne­häuf­chen oben­drauf setzt.

Der Ruhr­mensch ist kei­nes­falls böse – dat hat mehr wat mit‘m Her­zen zu tun. Er ist weder gut, noch schlecht, ehr­lich, noch falsch, hat min­des­tens einen Feind. Er schluchzt bei Beer­di­gun­gen, heult im Auto­ki­no, weint, wenn er Nach­wuchs bekommt. Er jam­mert über Stau, Wet­ter und Fuß­ball. Er bud­delt und tüf­telt, flickt Brü­cken und sie lackiert ihre Zehen­nä­gel schwarz-gelb. Er mag Strom und Geld, und dann und wann trinkt er ein Bier­chen unter schat­ti­gen Pal­men mit ihr. Er isst Pan­has und Döner und sie Pom­mes rot-weiß. Man muss sagen, dass die­ser Typus sehr schlüpf­rig ist, des­halb gibt es ihn eigent­lich nicht und doch ist er da. Wer ihn begrei­fen möch­te, muss sei­ne Welt betrachten.

Die Kom­ple­xi­tät des Ruhr­ge­biets wehrt sich gegen Dog­ma­tis­mus und pola­ri­sie­ren­de Sze­na­ri­en. Sei­ne Fül­le lässt abso­lu­te Schluss­fol­ge­run­gen über sei­ne Bewoh­ner an sei­nem Wesen abpral­len. Das Ruhr­ge­biet ist ein Ort, der sich beim genau­en Hin­schau­en der Logik ent­zieht. Sein Wesen ent­springt einer erstaun­li­chen Ent­wick­lungs­dy­na­mik, die man nur im Rück­blick, in der Land­schaft und im Geist sicht­bar machen kann.

 

Die Land­schaft

Vor noch nicht all­zu lan­ger Zeit, als die Auto­bahn zwar noch nicht erfun­den war, aber im west­li­chen Ruhr­ge­biet bereits die Schlo­te rauch­ten und die Hoch­öfen Feu­er fauch­ten, gab es im Osten eine Gemein­de namens Uen­trop, ein schö­nes beschau­li­ches Städt­chen mit einem Markt­platz und vie­len Annehm­lich­kei­ten, die eine Stadt damals zu bie­ten hat­te. Das Städt­chen war umge­ben von klei­nen Ort­schaf­ten, deren Namen Wer­ries oder Schme­hau­sen lau­te­ten, in denen das Herz noch anders schlug als das der unweit wach­sen­den Städ­te, denn sein Rhyth­mus ori­en­tier­te sich an den Bedürf­nis­sen der hier leben­den Men­schen und nicht an den Visio­nen der wüten­den Ruhr­ba­ro­ne. Hier durch­quer­te ein Fluss mit dem Namen Lip­pe die Äcker und Feucht­wie­sen, an denen im Som­mer das Groß­vieh gras­te. Die Acker­bö­den waren mit Hir­se und Wei­zen bestellt und zwi­schen ihnen ver­lie­fen teils san­di­ge Feld­we­ge, an deren Rän­dern Feld­lär­chen und Wie­sen­pie­per die Bau­ern mit ihrem Flö­ten und Zir­pen unter­hiel­ten, wäh­rend der Och­se den Kar­ren zog. Es war eine Zeit der Fried­fer­tig­keit und in der Umge­bung war es so still, dass die Men­schen auf den Äckern jeden kleins­ten Wind­zug und jeden Luft­hauch in den rascheln­den Grä­sern und dem flat­tern­den Laub hören konn­ten, noch bevor er ihre feuch­te Stirn erreich­te. Es war eine Zeit, in der es so still war, dass man nebst dem schlep­pen­den Glu­ckern der Lip­pe die Feld­mäu­se im Stroh hören konn­te. Flo­ra und Fau­na waren arten­reich und auch das Obst am Weges­rand und im Obst­gar­ten gedieh üppig, sodass die Äste im Spät­som­mer unter der Last nach­ga­ben und bra­chen, wenn man es nicht recht­zei­tig ern­te­te. Die Obst­bäu­me waren genüg­sam und krän­kel­ten wenig, so brauch­te der Bau­er kei­nen Pflan­zen­schutz und der gekonn­te Zuschnitt der Äste und das Kal­ken des Bau­stam­mes genüg­ten, damit der Baum nach dem Win­ter im Früh­ling sei­ne Blü­ten­pracht ent­fal­ten konn­te. An hei­ßen und schwü­len Som­mer­ta­gen nutz­ten Mensch und Tier die schat­ten­spen­den­den Obst­bäu­me für eine Ruhe­zeit. Wenn der Son­nen­schein dem mil­chi­gen Dunst am Him­mel wich und die grol­len­den Don­ner hör­bar wur­den, war es Zeit, das Vieh in die Scheu­ne zu trei­ben. Die Schwal­ben ver­lie­ßen in Scha­ren die leh­mi­gen Nes­ter am Fach­werk, flo­gen tief, bedien­ten sich am schier uner­schöpf­li­chen Insek­ten­an­ge­bot, krei­schend umher­schwir­rend, bis die ers­ten Regen­trop­fen fie­len und sich ein Bukett der unzäh­li­gen Aro­men über den saf­ti­gen Wie­sen aus­brei­te­te. Nach einem har­ten Arbeits­tag, als die Nacht übers Land brach, erstrahl­ten die Ster­ne so hell, dass der über­wäl­ti­gen­de Ein­druck ent­stand, man könn­te sie pflü­cken wie Süß­kir­schen im Gar­ten, doch das war nur des Bau­ers Traum, der längst schnarch­te, um zu Son­nen­auf­gang dem Gött­li­chen, das er in Demut und Furcht ver­ehr­te, noch näher zu kommen.

Die Men­schen im Uen­tro­per Umland lit­ten nicht an Schlaf­lo­sig­keit, leb­ten im Ein­klang mit sich selbst und ihrer Umwelt, stopf­ten ihre Socken und Pfei­fen. Sie pro­fi­tier­ten vom Natur­reich­tum, der sie umgab, und bewun­der­ten des­sen Schöp­fer, doch nichts währt ewig. Anfang des 20. Jahr­hun­derts begann man im Dorf Wer­ries, der Idyl­le mit Tief­boh­run­gen ent­ge­gen­zu­set­zen. Ein Nach­weis über Fett­koh­le­re­ser­ven unter dem sump­fi­gen Gebiet wur­de erbracht. Die Erschlie­ßung der Vor­kom­men dau­er­te sehr lan­ge, denn kein Glücks­tern woll­te über der Gru­be schei­nen. Schließ­lich, im Jahr 1912, konn­te der regel­mä­ßi­ge Abbau statt­fin­den. Zuvor hat­ten unend­li­che Zwi­schen­fäl­le die Ein­grif­fe in die jung­fräu­li­che Land­schaft erschwert. Was­ser­ein­brü­che, Explo­sio­nen und Streiks wur­den in den Jah­ren zur Gewohn­heit. Die Erschlie­ßung der Koh­le erwies sich als äußerst müh­se­lig und teu­er und kos­te­te sogar Men­schen­le­ben, deren Wert nied­rig ange­setzt war. Seit Beginn des Jahr­hun­derts wuchs die Zahl der Beleg­schaft die­ser Zeche. Die Kum­pel kamen aus Deutsch­land und Osteuropa.

Wäh­rend man mit dem Teu­fen der Schäch­te beschäf­tigt war, soll­ten Eisen­bahn­tras­sen als Ver­bin­dung der Ort­schaf­ten errich­tet wer­den. Die Bau­ern stell­ten den Sinn der Zeche sowie der Bahn­tras­sen in Fra­ge. Das Acker­land, wel­ches sie durch Aus­trock­nung der Sumpf­land­schaft gewin­nen konn­ten, tra­ten sie nur unger­ne ab, doch die Betrei­ber der neu­en Errun­gen­schaf­ten leis­te­ten aller­hand Über­zeu­gungs­ar­beit über die Not­wen­dig­keit des Fort­schritts und die zeit­ge­mä­ße Lebens­form und prie­sen das wirt­schaft­li­che Wachs­tum an. Letzt­end­lich setz­ten sie sich durch, denn das konn­ten sie wirk­lich gut. Die Eisen­bahn­ge­sell­schaft eröff­ne­te den Bahn­ver­kehr zwi­schen Uen­trop und den benach­bar­ten Gemein­den Schme­hau­sen und Lipp­borg. Eini­ge Jah­re spä­ter glück­te end­lich der rhyth­mi­sche Koh­le­ab­bau. Eine Eisen­bahn­tras­se eigens für den Abtrans­port der Koh­le wur­de errich­tet und man fei­er­te die ers­ten Exporte.

Dem Ein­zug der Infra­struk­tur und der Indus­trie folg­te die Migra­ti­on, wor­auf­hin in der idyl­li­schen Ort­schaft neu­er Wohn­raum von­nö­ten wur­de. Vom Ent­wurf bis zur Zechen­sied­lung dau­er­te es etwas, bis im Jahr 1913 die Kum­pel ihre ein­fa­chen Stu­ben ohne Elek­tri­zi­tät und Flie­ßend­was­ser bezie­hen konn­ten. Not und Latri­ne wur­den geteilt.

Schon ein Jahr dar­auf eröff­ne­te eine Koke­rei neben der Zeche und der Wohn­raum ward wie­der knapp. Im glei­chen Jahr ereig­ne­te sich ein gro­ßes Unglück. Ein wuch­ti­ger Was­ser­ein­bruch über­flu­te­te das neue Berg­werk. Trotz über­mensch­li­cher Anstren­gung wur­de man der Lage nicht Herr. Zudem brach ein schlim­mer Krieg aus, infol­ge des­sen vie­le hun­der­te Kum­pel den Kriegs­dienst leis­te­ten. Ersatz fand man in den Kriegs­ge­fan­ge­nen aus Polen und Hol­land. Gro­ße Armut brei­te­te sich aus und hielt lan­ge an. Die Zeche war nicht mehr zu ret­ten, denn die Pum­pen hiel­ten nicht, was sie ver­spra­chen. Nach nur zwei erfolgs­rei­chen Jah­ren wur­de der Betrieb ein­ge­stellt. Die Sole sicker­te und plät­scher­te vor sich hin, bis sie irgend­wann die Lip­pe speis­te. Im Jahr 1921 fand ein Bele­bungs­ver­such statt, der bald dar­auf von Abriss­ar­bei­ten abge­löst wur­de. Selbst die­se wur­den nach kur­zer Zeit unter­bro­chen, weil das Unter­neh­men Kon­kurs anmel­de­te. In den nach­fol­gen­den Jahr­zehn­ten fan­den wei­te­re Bele­bungs­ver­su­che statt, bis man irgend­wann auf­gab und die Schäch­te end­gül­tig verfüllte.

Anfang der 1920er-Jah­re wur­den immer mehr Haus­hal­te der Regi­on mit Elek­tri­zi­tät ver­sorgt. So bekam die Klein­ge­mein­de Schme­hau­sen sau­be­res elek­tri­sches Licht vom Was­ser­kraft­werk. Der Ort war einen Kat­zen­sprung von Wer­ries ent­fernt. Noch wuss­te kei­ner, dass der unaus­lösch­li­che Durst nach Elek­tri­zi­tät das Dorf von der Land­kar­te ver­ban­nen wür­de. Als sich die Wirt­schaft nach den Kriegs­wir­ren vor­über­ge­hend erho­len konn­te, wur­de durch­ge­at­met. Im Jahr 1928 öff­ne­te hier der Lip­pe-Sei­ten­ka­nal. Die Was­ser­stra­ße wur­de kurz­fris­tig zur bedeu­ten­den Ver­kehrs­ader im Tal der Lip­pe, ver­lor aber schnell ihre Bedeu­tung. Ein Jahr zuvor been­de­te man auch den Umbau der Bahn­ver­bin­dung von Klein­spur auf Nor­mal­spur. Die wirt­schaft­lich mise­ra­blen Ver­hält­nis­se im und nach dem Ers­ten Welt­krieg stopp­ten nicht die Ent­wick­lun­gen in der Regi­on. Im Jahr 1933 weih­te man eine neue Schleu­se in Wer­ries ein und schon konn­te der Schiffs­ver­kehr auf dem zwi­schen­zeit­lich erbau­ten Dat­teln-Hamm-Kanal auf­ge­nom­men wer­den. Der Kanal, der die klei­ne Gemein­de jetzt teil­te, war nicht war­tungs­frei. Bau­maß­nah­men in Berei­chen des ehe­ma­li­gen Berg­baus waren erfor­der­lich, denn der Boden sank. Wie schon zuvor folg­te in den nächs­ten Jah­ren ein Ereig­nis auf das ande­re. Jetzt stand der Gemein­de der Bau der Reichs­au­to­bahn bevor. Um die Berg­sen­kungs­ge­bie­te im süd­li­chen Ruhr­ge­biet zu mei­den, soll­te sie nörd­li­cher ange­setzt wer­den, wäh­rend man in Ost­west­fa­len wie schon beim Bau der Bahn­stre­cken den Sied­lungs­schwer­punk­ten folg­te. Durch die Errich­tung der Reichs­au­to­stra­ße ab dem Jahr 1934 wur­de die Gemein­de noch­mals durch­trennt und büß­te wei­te­re Flä­che ein. Für den Bau errich­te­te man unweit einen Bahn­hof. Im Jahr 1938 konn­te der Abschnitt zwi­schen Reck­ling­hau­sen und Güters­loh, der nun Schme­hau­sen selbst sowie den Kanal und die Lip­pe durch­quer­te, für den Ver­kehr frei­ge­ge­ben wer­den. Die Auto­bahn war mit­un­ter als wirt­schafts­stra­te­gi­sches Bau­werk errich­tet wor­den und soll­te die Rhein-Ruhr-Regi­on dem öst­lich gele­ge­nen Ber­lin näher-brin­gen, aber sicher­lich auch Län­de­rei­en dar­über hin­aus. Im Jahr 1939 ent­fach­te Nazi-Deutsch­land einen neu­en Welt­krieg. Elend und Leid ver­brei­te­ten sich. Für die Fer­tig­stel­lung der feh­len­den Auto­bahn­ab­schnit­te bedien­te man sich wie­der ein­mal pol­ni­scher Zwangsarbeiter.

Die schnel­le Auto­stra­ße, die Schme­hau­sen durch­lief, hat­te nach ihrer Fer­tig­stel­lung eine Gesamt­brei­te von 24 Metern, zwei Rich­tungs­fahr­bah­nen waren durch einen vier Meter brei­ten Mit­tel­strei­fen von­ein­an­der getrennt und von einem beid­sei­ti­gen Außen­grün­ban­kett umge­ben. Die Stra­ße ähnel­te den heu­ti­gen Autobahnen.

Im Jahr 1949 wur­de die Bun­des­re­pu­blik gegrün­det. Das soge­nann­te Wirt­schafts­wun­der der nach­fol­gen­den Jah­re brach­te asphal­tier­te Wege nach Schme­hau­sen und Umge­bung. Noch fuh­ren nur ver­ein­zelt Fahr­zeu­ge über die jun­ge Auto­bahn und von ihrer Erhe­bung aus mute­te das Dorf links und rechts immer noch idyl­lisch an. Aus dem Ruhr­ge­biet kom­mend über­quer­te man zuerst den unlängst erbau­ten Kanal, dann folg­te das Dorf mit den oran­ge­nen Dach­zie­gel­dä­chern, an das sich die üppi­ge grü­ne Aue anschloss, die durch ein sil­bern glit­zen­des Mäan­der getrennt wur­de – für man­chen wie gefun­den, um in der Som­mer­hit­ze fern­ab der Groß­stadt ein schat­ti­ges Plätz­chen unter einem Obst­baum ein­zu­neh­men. Hier glu­ckert die Lip­pe vor sich hin und es war immer noch so still wie einst, also nahm man die Aus­fahrt Uen­trop immer öfters.

Die­sen Umstand erkann­te man hier offen­sicht­lich und eröff­ne­te im Jahr 1957 prompt auf den Wie­sen neben der Lip­pe einen Cam­ping­platz, der direkt an die Auto­bahn­aus­fahrt gelegt wur­de. Ein Jahr zuvor began­nen in Schme­hau­sen umfang­rei­che Land­an­käu­fe öst­lich der Auto­bahn und in den nach­fol­gen­den Jah­ren ver­schwan­den nach und nach die Höfe, die unweit der Lip­pe das Dorf Schme­hau­sen bil­de­ten. Die Ein­woh­ner wur­den ins Umland aus­ge­sie­delt. Wo einst Fach­werk, Obst­gär­ten und Wie­sen zu sehen waren, ging 1963 ein Stein­koh­le­kraft­werk mit den 160-MW-Blö­cken A und B ans Netz. Der Cam­ping­platz hat­te nun ein moder­ne­res Pan­ora­ma erhal­ten. Die Cam­per nah­men die neue Nach­bar­schaft gelas­sen an. Vor­tei­le sahen sie im Kühl­was­ser des Kraft­werks, wel­ches dem Fluss nach Ent­nah­me rund 15 Grad wär­mer wie­der zuge­führt wur­de. Auch die Ang­ler schätz­ten die­sen Umstand, der für früh­sai­so­na­len Fisch­reich­tum sorg­te. Im Jahr 1968 ver­lo­ren Schme­hau­sen und Wer­ries die Selb­stän­dig­keit und wur­de Teil von Uen­trop. Eini­ge Jah­re zuvor beschloss die Bahn das Ende des Per­so­nen­ver­kehrs im Tal der Lip­pe, weil der Ver­kehr zuneh­mend auf die Stra­ße abwanderte.

Der Stand­ort war den­noch opti­mal an das Ver­kehrs­netz ange­bun­den. Die Brenn­stof­fe und Roh­stof­fe kamen über den Dat­teln-Hamm-Kanal. Eine alter­na­ti­ve Ver­sor­gungs­mög­lich­keit war durch die Bahn sicher­ge­stellt, die wei­ter­hin den Güter­ver­kehr unter­hielt. Und die A2 durch­quer­te jetzt das Uen­tro­per Umland. Das Kraft­werk ver­füg­te über einen eige­nen Kohlehafen.

Im Jahr 1968 ging in der Nähe ein Che­mie­werk eines ame­ri­ka­ni­schen Kon­zerns ans Werk. Auch hier wur­de ein eige­ner Werks­ha­fen am Kanal ange­legt. Um dem stei­gen­den Strom­be­darf der Indus­trie gerecht zu wer­den, ging im Jahr 1969 ein wei­te­rer Block ans Netz. An den neu­en Block C mit einer elek­tri­schen Leis­tung von 305 MW wur­de spä­ter eine Pyro­ly­se­an­la­ge ange­schlos­sen, die Alt­kunst­stof­fe verbrannte.

1975 wur­de Uen­trop, das eben noch die Klein­ge­mein­den ein­glie­der­te, selbst in die Stadt Hamm ein­ge­glie­dert. Wäh­rend der nächs­ten Jah­re fan­den wei­te­re Land­an­käu­fe statt und immer mehr Höfe, Acker­land und Vieh­wie­sen des west­li­chen Bereichs wichen der expan­die­ren­den Wirt­schaft. Die eins­ti­gen Idyl­len wur­den zu Industrie‑ und Gewer­be­ge­bie­ten umdis­po­niert, an denen sich immer öfter pro­du­zie­ren­des Gewer­be ansie­del­te. Im Jahr 1980 wur­de hier unter ande­rem der Stand­ort eines gro­ßen Schlacht­hof­be­triebs errich­tet, wel­ches als Unter­neh­men spä­ter immer wie­der mit dem Gesetz kol­li­dier­te, weil es in den Ver­dacht der Bil­dung einer kri­mi­nel­len Ver­ei­ni­gung, des Sozi­al­ver­si­che­rungs­be­trug in Mil­lio­nen­hö­he und der Tier­quä­le­rei geriet. In Ver­ruf geriet die Fir­ma auch wegen der Rekru­tie­rung von Bil­lig-Arbeits­kräf­ten aus Polen und Rumä­ni­en und auf­grund sys­te­ma­tisch gefälsch­ter Hygie­ne­at­tests der „Tage­löh­ner“, die unter unmensch­li­chen Umstän­den ihre Arbeit verrichteten.

Der male­ri­sche Cam­ping­platz, an dem die Besu­cher einst an den Wochen­en­den klei­ne Zel­te auf­stell­ten, angel­ten und mit knall­ro­ten Gum­mi­boo­ten den Fluss auf und ab befuh­ren, bekam immer wie­der neue Gesell­schaft. Sein Stand­ort zwi­schen dem Kraft­werk und der Auto­bahn wirkt im Wis­sen um die benach­bar­te Che­mie­in­dus­trie und den Schlacht­hof irgend­wie skur­ril. Den Cam­pern schie­nen die Anlie­ger nichts aus­zu­ma­chen und sie selbst expan­dier­ten ja glei­cher­ma­ßen wie der stei­gen­de Wohl­stand im Ruhr­ge­biet. Ihre Autos wur­den schnel­ler und grö­ßer, die eins­ti­gen Zel­te tausch­ten sie gegen gro­ße Wohn­an­hän­ger mit Elek­tri­zi­tät und Fern­se­hern, die am Ufer jetzt dau­er­haft den Zugang zum Fluss und die bes­te Sicht auf das Kraft­werk sicher­ten. Frei­zeit wur­de in immer grö­ße­ren Buch­sta­ben geschrie­ben, wäh­rend seit Jah­ren an einem neu­en Super­kraft­werk getüf­telt wurde.

Nach lan­ger Auf­bau­pha­se wur­de im Jahr 1983 auf dem Gelän­de des Kraft­werks ein nuklea­rer Hoch­tem­pe­ra­tur­re­ak­tor test­wei­se in Betrieb genom­men und 1987 an den Betrei­ber über­ge­ben. In der Auf­bau- und Erpro­bungs­pha­se gab es vie­le Pan­nen. Aus sicher­heits­tech­ni­schen Grün­den wur­de er nach etwa einem Jahr des Voll­last­be­triebs wie­der still­ge­legt. Wäh­rend der Test­pha­se Anfang Mai 1986 wur­de im Kraft­werk Radio­ak­ti­vi­tät frei­ge­setzt. Die erhöh­ten Strah­lungs­wer­te fie­len zuerst nicht auf, da zur glei­chen Zeit radio­ak­ti­ve Nie­der­schlä­ge aus Tscher­no­byl über Hamm hin­weg­zo­gen, bis ein anony­mer Infor­mant aus der Beleg­schaft die Umwelt­ver­bän­de über eine ver­heim­lich­te radio­ak­ti­ve Emis­si­on infor­mier­te. Viel spä­ter wird durch eine amt­li­che Unter­su­chung bekannt, dass im Umkreis sta­tis­tisch signi­fi­kant erhöh­te Raten für Schild­drü­sen­krebs bei Frau­en bestehen, die Stu­die sieht aber kei­ne kon­kre­ten Anhalts­punk­te für den Hoch­tem­pe­ra­tur­re­ak­tor als Ursa­che und bis dahin ist noch ein wei­ter Weg. Der 296-MW-Reak­tor zählt zu den größ­ten deut­schen Fehl­ent­wick­lun­gen und bleibt eine finan­zi­el­le Kata­stro­phe und ein Milliardengrab.

Für die Cam­per war das futu­ris­ti­sche Pan­ora­ma mit dem damals größ­ten Tro­cken­kühl­turm der Welt eine wei­te­re Attrak­ti­on und die Schme­hau­ser, die dem stei­gen­dem Durst der wach­sen­den Wirt­schaft wei­chen muss­ten, nah­men kurio­ser­wei­se den Kühl­turm in ihr Gemein­de­wap­pen und in das Emblem des Schüt­zen­ver­eins auf. Im Jahr 1991 wur­de das gigan­ti­sche strah­len­de Alu­mi­ni­um­kor­sett gesprengt.

Par­al­lel zu den bau­li­chen Ereig­nis­sen steigt seit den 1950er-Jah­ren das Ver­kehrs­auf­kom­men auf der Auto­bahn bei Schme­hau­sen ste­tig. Auf­grund der stei­gen­den Achs­las­ten wird ihre Fahr­bahn regel­mä­ßig erneu­ert und sie bekommt den drin­gend erfor­der­li­chen Sei­ten­strei­fen zur Stau­ver­mei­dung. Es fol­gen Erwei­te­run­gen von vier auf sechs Spu­ren auf eine Gesamt­brei­te von 37 Metern. Wegen der immensen Lärm­be­las­tung wer­den links und rechts der Fahr­bahn Schutz­wän­de zur Lärm­re­du­zie­rung auf­ge­stellt, damit ist der Cam­ping­platz im Tal der Lip­pe von der Auto­bahn aus nicht mehr sicht­bar. Im Dezem­ber 2008 wird der Aus­bau der Tras­se bei Hamm-Uen­trop abge­schlos­sen, doch wer weiß, für wie lan­ge. Seit der Wie­der­ver­ei­ni­gung Deutsch­lands ist die Auto­bahn zur wich­tigs­ten Ost-West-Ver­bin­dung Euro­pas gewach­sen. Mit einem kon­ti­nu­ier­li­chen Tag- und Nacht-Strom von durch­schnitt­lich 80.000 Fahr­zeu­gen erin­nert hier nichts mehr an die Auto­bahn­idyl­le von damals und auch der Cam­ping­platz unter­liegt einer per­ma­nen­ten Wand­lung. Das einst so wohl­tu­en­de war­me Was­ser darf aus öko­lo­gi­schen Grün­den nicht mehr aus den Kraft­wer­ken in die Lip­pe ein­ge­lei­tet wer­den. Ab jetzt wird das war­me Was­ser zum Mythos. Drei Grad sind das Maxi­mum, denn die Lip­pe darf sich maxi­mal um ein hal­bes Grad erwär­men, doch auch das wird bald zur Geschichte.

Im Jahr 2004 wird neben dem Cam­ping­platz die Rast­stät­te Lip­pe­tal eröff­net. Sie ist auf den Schwer­last­ver­kehr aus­ge­rich­tet und bie­tet 160 drin­gend benö­tig­te LKW-Park­plät­ze und Duschen für die Rei­sen­den der War­schau­er Allee – wie die Bun­des­au­to­bahn mitt­ler­wei­le genannt wird.

Wäh­rend der Rast­hof mit dem Slo­gan „Fast so schön wie zu Hau­se“ die Fern­fah­rer umwirbt, wur­de das benach­bar­te Indus­trie­ge­biet an der Auto­bahn nach und nach zu einem neu­en Zuhau­se der hin­du­is­ti­schen Gemein­de Hamm-Uen­trop, die von Bür­ger­kriegs­flücht­lin­gen aus Sri Lan­ka gebil­det wird. Im Jahr 2002 wird hier zwi­schen Auto­bahn und Schlacht­hof der Sri Kama­d­chi Ampal-Tem­pel ein­ge­weiht. Ein unge­wöhn­li­cher Ort für einen Sakral­bau, doch Gott ist bekannt­lich all­ge­gen­wär­tig. Es scheint, der Tem­pel wur­de aus prag­ma­ti­schen Grün­den hier erbaut. Die Nähe zur Auto­bahn und zum Kanal wird als Vor­teil begrif­fen und das ver­hält­nis­mä­ßig wenig bewohn­te Gewer­be­ge­biet bie­tet Raum für Ritu­el­les, so fin­den sich immer mehr Men­schen aus ganz Euro­pa zum jähr­li­chen Tem­pel­fest in Uen­trop ein, dem Ort mit einer ganz beson­de­ren Ener­gie und Ausstrahlung.

Im Jahr 2008 geht unweit des alten Kraft­werks ein neu­es Gas-und-Dampf-Kom­bi­kraft­werk ans Netz. Das Kraft­werk besteht aus zwei Blö­cken mit einer Gesamt­leis­tung von 850 MW. Im Jahr, als die Auto­bah­ner­wei­te­rung ihr Ende nimmt, fin­det eine wei­te­re Grund­stein­le­gung im Koh­le­kraft­werk statt.

Die Kanz­le­rin per­sön­lich war erschie­nen und sprach von einem wun­der­ba­ren Pro­jekt. Die alten Blö­cke A und B aus dem Jahr 1963 sol­len durch die Blö­cke E und D mit einer Gesamt­leis­tung von sagen­haf­ten 1.600 MW ersetzt wer­den. Sie sol­len mit Stein­koh­le oder Koks betrie­ben wer­den, deren Ver­bren­nungs­ab­ga­se über gigan­ti­sche Kühl­tür­me abge­lei­tet wer­den sol­len. Das für 2012 geplan­te Bau­en­de ver­zö­gert sich und die Zei­tun­gen berich­ten über Pan­nen. Im Jahr 2011 gehen die alten Blö­cke A und B vom Netz, wäh­rend am Neu­bau wei­ter­hin gebaut wird. Im Jahr 2013 geht auch der 1969 erbau­te Block C vom Netz. Wäh­rend der Inbe­trieb­nah­me von Block D kommt es zu Stö­run­gen, wel­che die Tur­bi­ne beschä­di­gen. Der Block D wird infol­ge des­sen nie ans Netz gehen. Im Jahr 2014 geht jedoch Block E in den Betrieb. E wie Ende. Auf­grund eines poli­tisch-gesell­schaft­li­chen Umschwungs geht im Jahr 2020 nach nur sechs Jah­ren das Stein­koh­le­kraft­werk früh­zei­tig vom Netz.

Die hei­li­ge Barbara

Mit Block E endet mei­ne Geschich­te über die Gescheh­nis­se im Fluss­tal an der Pfor­te des Ruhr­ge­biets. Was als Nächs­tes kommt, steht in den Ster­nen – sta­bi­les Plas­ma und die Kern­fu­si­on viel­leicht? Zuerst aber kam die Koh­le, dann wur­de es Licht – Uen­trop, des­sen Wap­pen das Blit­zem­blem trägt, ist ein klei­ner Ort, der einen auf­schluss­rei­chen Trans­for­ma­ti­ons­pro­zess zeigt. Es ist ein Ort, der mich an die Aus­brei­tung von Flech­ten erin­nert, wenn man sie glo­bal wei­ter­denkt. Die Trans­for­ma­ti­on des Ortes ist ein Exem­pel. Jetzt heißt es Rien ne va plus – Schwarz ver­liert. Die Schäch­te sind ver­füllt, die Kühl­tür­me ver­las­sen die Büh­ne, wäh­rend in Hamm über neue Gewer­be­ge­bie­te debat­tiert wird. In weni­gen Jah­ren begin­nen hier die Abriss­ar­bei­ten des Atom­kraft­werks und über die Köp­fe hin­weg wer­den auf dem Cam­ping­platz wei­ter­hin hoch­span­nen­de, knis­tern­de Geschich­ten vor sich hin pol­tern wie das Glu­ckern der Lip­pe. Jeder schein­bar noch so unbe­deu­ten­de Ort des Ruhr­ge­biets flüs­tert sein eige­nes Mär­chen. Es klingt unglaub­lich, wenn man hört, dass die Bevöl­ke­rungs­zahl von Duis­burg, Essen und Dort­mund zu Beginn des 19. Jahr­hun­derts zusam­men­ge­nom­men kaum die des heu­ti­gen Uen­trop über­stieg. Das lässt ver­ste­hen, wel­cher Erschlie­ßungs­dy­na­mik einst der Migra­ti­ons­raum zwi­schen Ruhr und Lip­pe zugrun­de­lag, und lässt erah­nen, wel­che Hür­den die Men­schen auf sich nah­men, als sie ent­schie­den, ihre Wur­zeln dort zu schla­gen. Einen Ruhr­men­schen gibt es wahr­schein­lich nicht, aber dafür Gott in allen Far­ben. Er erschuf die Men­schen nach sei­nem Eben­bild und der Mensch erschuf den Pott nach dem sei­nen. Das heu­ti­ge Ruhr­ge­biet begeg­net uns als man­nig­fal­ti­ges Resul­tat einer per­ma­nent anhal­ten­den Arbeits- und Flucht­mi­gra­ti­on, die nie auf­hör­te, und einer eben­so fort­schrei­ten­den tech­no­lo­gi­schen Evo­lu­ti­on, die sich im Eins-zu-eins-Abbild im urba­nen Lebens­raum beob­ach­ten lässt. Wäh­rend der indus­tri­el­len Revo­lu­ti­on folg­ten Mil­lio­nen Indi­vi­du­en ihren Träu­men, Visio­nen und Sehn­süch­ten auf der Suche nach Gebor­gen­heit und Sicher­heit, einem huma­nen Grund­be­dürf­nis, das kei­nen Unter­schied zwi­schen den Natio­nen kennt, ins Ruhr­ge­biet. Die Koh­le ver­sprach ihnen Brot. Wie lan­ge die nach­fol­gen­den Gene­ra­tio­nen das Erbe des schwar­zen Gol­des zu hul­di­gen wis­sen, ist nicht gewiss und wird von der Kraft ihres Glau­ben abhän­gen. Noch wird sie getra­gen, die Mär­ty­re­rin, die über Tod und Don­ner herrscht, die dem Berg­mann Trost und Mut spen­de­te und über dem Ruhr­ge­biet wacht. Einst aus Ober­schle­si­en auf­ge­bro­chen, ist sie eine Migran­tin und ein Gast­ar­bei­ter zugleich.

Sie ist so schön und klug. Die jun­ge Bar­ba­ra aus Izmit, einer Stadt am Mar­ma­ra­meer. Vor lan­ger Zeit ließ sie sich zum Chris­ten­tum bekeh­ren. Das brach­te ihren Vater in Rage, der sie ein­sper­ren ließ und Pein und Fol­ter befahl. Man schlug sie, schnitt ihr die Brüs­te ab, brand­mark­te sie mit Fackeln, doch kei­ne die­ser Qua­len brach­te die jun­ge Frau dazu, ihrem Glau­ben abzu­schwö­ren. Ihre Lie­be ließ einen ver­dorr­ten Zweig erblü­hen. In Erwar­tung ihres Todes wur­de er zum Sinn­bild des stand­haf­ten Glau­bens: „Du schienst tot, aber bist auf­ge­blüht zu schö­nem Leben. So wird es auch mit mei­nem Tod sein. Ich wer­de zu neu­em, ewi­gem Leben auf­blü­hen.“ Der Vater ent­haup­tet die Toch­ter und ward dar­auf vom Blitz erschla­gen, doch sie trägt bis heu­te die Men­schen durch Not und Kum­mer, solan­ge die­se an sie glau­ben – doch sei­en wir ermahnt, sie nicht noch ein­mal wegzusperren.

Das Ende des Koh­le­kraft­werks in Schme­hau­sen mar­kiert das Ende mei­ner Fotorei­se. Beim schwar­zen Tee schaue ich mir jetzt die Orte, die ich in den letz­ten Jah­ren mit mei­nem Foto­ap­pa­rat besuch­te, an und den­ke an man­che flüch­ti­ge Begeg­nung zurück. Da war Jakob, ein pen­sio­nier­ter Ver­mes­sungs­tech­ni­ker aus Ober­schle­si­en, der mir in Bot­trop sei­ne Zei­tung vor die Lin­se hielt. Es war ein grau­er und stür­mi­scher Dezem­ber­abend, an dem die letz­te Gru­be im Pott dicht mach­te. Ich den­ke jetzt noch manch­mal an das Rat­haus und an Dani­el, der sich das Stadt­wap­pen von Marl unter die Haut ein­tä­to­wie­ren ließ, und an Frank, den Dach­de­cker, der mich ins Geheim­nis des war­men Was­sers in der Lip­pe ein­weih­te und mit freund­schaft­li­cher Begeis­te­rung über das Angeln sprach. Ich den­ke an Muham­mad und Khan aus Paki­stan und Afgha­ni­stan, die mit mir Tee, Milch und Bana­nen teil­ten. Wir stan­den am Fuß­ball­platz, wäh­rend sie mir ver­ge­bens die Cri­cket­re­geln erklär­ten. Außer­dem war da noch Frank aus Gel­sen­kir­chen-Bis­marck, der mit sei­nen Freun­den am Bür­ger­steig dem Sonn­tag alle Ehren erweist.

Bald gehe ich nach Tuva­lu, wo die Pal­men wach­sen und die Infra­struk­tur win­zig klein ist. Im Brief­kas­ten suche ich stets das Ticket für den wei­ßen Damp­fer, statt­des­sen liegt dort heu­te ein kur­zer Brief von Jena­r­dan, den ich beim Hind­ufest in Uen­trop ken­nen­lern­te, als er Ver­pfle­gung an die Pil­ger aus­teil­te. Das Essen war köst­lich und ich hof­fe, ich kann sei­ne Freund­lich­keit erwidern.

Hal­lo Martin,

Wie geht’s Ihnen und der gan­zen Familie? 

Lei­der habe ich seit dem letz­ten Mal vor zwei Jah­ren Hamm nicht wie­der besucht. Ich hat­te zu vie­le Prü­fun­gen, aber es ist alles gut gegan­gen und jetzt arbei­te ich seit unge­fähr vier Mona­ten als Arzt. Die ers­te Vac­ci­ne wur­de in mei­nem Kran­ken­haus in Coven­try gege­ben. In Eng­land geht es nicht so gut wie in Deutsch­land mit Covid. Die Lücke zwi­schen den Armen und den Rei­chen ist grö­ßer gewor­den und nicht nur beim Geld, son­dern auch in Gesundheitsfragen. 

Wie geht’s mit Ihrem Buch vor­an und wor­über han­delt es noch­mal? Ich erin­ne­re mich noch manch­mal an das gan­ze Fest und wie viel Spaß wir gehabt hat­ten. Haben Sie immer noch die Bil­der? Ich wür­de sie ger­ne noch­mal anschau­en, wenn ich darf! 

Ich freue mich dar­auf, von Ihnen zu hören!

Jena­r­dan